Das Bilderbuch bleibt.
Das meint der Germanist Arno Rußegger, der sich in seiner Forschungsarbeit mit den Funktionen und Gestaltungsformen der Gattung Bilderbuch beschäftigt. ad astra hat er erklärt, warum er an das Medienphänomen Bilderbuch glaubt.
Der Struwwelpeter, das erste Bilderbuch, das sich gezielt an Kleinkinder richtete, erschien 1845, geschaffen vom Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann. Hatte dieses Werk noch eine pädagogische Botschaft, mit der die unbändigen Kinder gezügelt werden sollten, tritt diese im heutigen Bilderbuch in den Hintergrund. Das Literarische und Künstlerische gewinnen zunehmend an Bedeutung, so Arno Rußegger (Institut für Germanistik), der 2016 gemeinsam mit Tonia Waldner einen Sammelband mit dem Titel „Wie im Bilderbuch“ herausgab. Ob er sich manchmal wundere, dass es noch immer Bilderbücher gibt? „Nein, das Bilderbuch hat sich eben verändert und technisch angepasst“, antwortet Rußegger.
Er sei selber ein Anhänger des Vorlesens. Im Idealfall werden dadurch Eltern und Kinder zusammengeführt, und zwar deshalb, „weil man durch Bilderbücher ganz Grundsätzliches über den Konnex zwischen der Darstellung der Welt und ihrer sprachlichen Benennung lernen kann.“ Heute würden, so die Einschätzung des Germanisten, viele nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. „Mit Sprache und Bild können wir uns über die Wirklichkeit austauschen. Dies zu erlernen, ermöglicht das Bilderbuch, wenn man Leserinnen und Leser möglichst früh heranführt.“ Bilderbücher sieht er als Grundschule einer media literacy.
Dabei wird das Bilderbuch heute wichtiger und ernster genommen denn je: Namhafte Künstlerinnen und Künstler nehmen sich dieses Mediums an. Und auch die Wissenschaft beschäftigt sich zunehmend damit. „Wer meint, dass es sich dabei um etwas Simples handelt, irrt“, so Rußegger. Dies merke man, wenn man als Erwachsener Bilderbücher gemeinsam mit Kindern liest. Stets eröffnen sich ganz verschiedene Lektüren, auch für die Erwachsenen, die beispielsweise viel über sich und ihre Rolle als Mutter bzw. Vater erfahren können. Das Bilderbuch stellt für Rußegger, wie in einem Beitrag des Sammelbands ausgeführt, eine Brücke zwischen den Generationen her und regt ein intergenerationelles Lesen an: „Ursprünglich hatte das Lesen ja etwas Gemeinschaftsbildendes, etwas Kommunikatives, das nicht zur Vereinsamung im stillen Kämmerlein führte. Das Bilderbuch ist geeignet, dem Lesen seine gesellschaftliche Funktion zurückzugeben.“
Thematisch ist das Bilderbuch heute breiter aufgestellt als früher. Sogar Tabuthemen wie Tod, Alter, Demenz oder Sexualität kommen zur Darstellung. Sprache und Bild sind geeignet zur Erschließung der Welt mit ihren Sonnen- und Schattenseiten. So gibt es heute auch viele Bilderbücher, die sich um eine Beteiligung an aktuellen sozial-politischen Diskursen, wie beispielsweise rund um das Thema Flucht und Migration, bemühen. Arno Rußegger ist daher überzeugt, dass das Bilderbuch „seinen Platz bewahren und behaupten wird. Es wird sich weiterentwickeln, aber es wird bleiben.“
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Rußegger, A. & Waldner, T. (Hrsg.) (2016). Wie im Bilderbuch. Zur Aktualität eines Medienphänomens. Innsbruck: Studienverlag.