Corona-Pandemie: Wie nehmen wir Risiko wahr?
Die Ausbreitung des Coronavirus ist medial allgegenwärtig und schränkt unser Leben zunehmend ein. Aber wie nimmt der Mensch ein Risiko wahr und wie kann er einordnen, was eine Gefahr für das eigene Leben bedeutet? Stephan Dickert ist Kognitionsforscher am Institut für Psychologie und hat uns im Interview Antworten dazu gegeben.
Das Interview wurde am 12. März 2020 geführt und am 13. März 2020 veröffentlicht.
Wie geht es Ihnen aktuell, Herr Dickert?
Mir geht es eigentlich relativ gut, aber ich bin natürlich auch etwas beunruhigt aufgrund der aktuellen Entwicklungen.
Wie nehmen Sie selbst das Risiko in der aktuellen Situation wahr?
Bei mir hat sich ein Wandel vollzogen. Als die ersten Informationen aus China kamen, dachte ich, dass man das tatsächlich eindämmen kann. In den letzten drei Wochen hat sich die Situation entscheidend gewandelt. Wir reden nun nicht mehr von einer Eindämmung, sondern von einer Verlangsamung, damit das Gesundheitssystem Schritt halten kann. Diese Entwicklung hat mich ein wenig erschrocken. Insofern bin ich aber froh, dass jetzt gehandelt wird und kann die restriktiven Maßnahmen zum Teil verstehen.
Wie funktioniert die menschliche Risikobewertung ganz generell?
Generell kann man sagen, dass Risikobewertung ein Zusammenspiel aus komplexen emotionalen und kognitiven Prozessen ist. Auf der einen Seite haben wir die Emotionen: Sowohl die Wahrscheinlichkeit, dass uns etwas Bedrohliches passiert, wie auch die mögliche Konsequenz können Emotionen auslösen. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit sich anzustecken objektiv betrachtet gering ist, wird dies subjektiv betrachtet oft überschätzt. Gleichzeitig lösen die möglichen negativen Konsequenzen einer Infektion auch starke negative Emotionen aus. In der gegenwärtigen Situation ist die Risikobewertung oftmals emotional aufgeladen.
Können wir dem mit Vernunft begegnen?
Ja, das ist die andere Seite. Wir können uns die Basisdaten anschauen und Berichte lesen, die uns erklären, wie schnell sich der Virus ausbreitet, und was man tun kann, um sich und andere zu schützen. Allerdings ist eine rein kognitive und rationale Betrachtungsweise solcher Informationen oft schwierig. Führende Forscher*innen auf diesem Gebiet haben es so zusammengefasst, dass es subjektiv betrachtet keine objektiven Risiken gibt. Alles wird unter anderem durch die eigene Erfahrung, selektive Wahrnehmung und das soziale Umfeld emotional interpretiert. Diese Ansätze basieren auf der dualen Prozesstheorie, die uns zwei Arten der Wahrnehmung unserer Umwelt anbietet.
Das ist, wie Sie sagen, eine Theorie. Wie sieht es in der Realität aus?
In Wirklichkeit regiert oft ein Mix dieser beiden Ansätze. Oft muss der Mensch auch nachdenken, um in der Folge zu fühlen. Mir ist in den Gesprächen der letzten Tage mit Personen aus meinem Umfeld aufgefallen, dass sich viele ganz am Anfang entscheiden, wie sie an die Sache herangehen wollen. Einige scheinen für sich entschieden zu haben, dass sie keine Angst vor einer Infektion oder einem schwerwiegenden Krankheitsverlauf haben. Selbst alarmierende Informationen über eine Corona-Pandemie werden so gedeutet, dass keine Verhaltensveränderungen notwendig oder erwünscht sind. Auf der anderen Seite gibt es auch Personen, die bereits sehr große Angst vor einer Ansteckung hatten, als die Basisrate in Europa noch sehr gering war. Hier wurden selbst neutrale Informationen als bedrohlich wahrgenommen. Dies ist ein gutes Beispiel für selektive Wahrnehmung und subjektive Interpretation oft identischer Informationen.
Die Wissenschaft versucht – nicht nur in der aktuellen Krise, sondern auch in anderen öffentlichkeitsrelevanten Themenfeldern wie dem Klimawandel – mit Hilfe von Zahlenmaterial aufzuklären. Helfen uns diese Zahlen bei der Risikowahrnehmung?
Große Zahlen können wir uns schlecht vorstellen. Das betrifft beispielsweise die Hunderttausenden oder Millionen, die es für die Herdenimmunität braucht. Wichtig sind Referenzzahlen, die uns das Risiko einschätzen lassen. Man könnte beispielsweise aufzeigen: Wie viele Menschen sterben im selben Zeitraum, in dem die Pandemie ausgebrochen ist, an der „normalen“ Grippe oder anderen Erkrankungen? Prozentzahlen eignen sich ebenfalls besser, weil sie die Relationen deutlicher abbilden. Besonders eindringlich sind allerdings kleine Zahlen, wie beispielsweise Einzelschicksale mit hohem Symbolcharakter. Diese werden oft emotional wahrgenommen und erhöhen die Motivation zu handeln.
Zur Person
Stephan Dickert ist Universitätsprofessor für Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung am Institut für Psychologie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der angewandten Kognitionspsychologie, Risikowahrnehmung und Konsumentenpsychologie.