Commencement Speech: Judith Kohlenberger über den Mut zur Offenheit


Die Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hielt bei den Akademischen Feiern an der Universität Klagenfurt am 20. Oktober 2023 die Festrede. Mit den sogenannten Commencement Speeches folgt die Universität Klagenfurt einer US-amerikanischen Tradition: Herausragende Persönlichkeiten sind eingeladen, den Absolvent:innen ihren Werdegang und ihre Perspektiven auf die Welt zu schildern. Dieses Mal konnte nun Judith Kohlenberger für die Festrede gewonnen werden.

Judith Kohlenberger lehrt und forscht am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und ist affiliierte Forscherin am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip). Seit Herbst 2015 forscht sie zu Fluchtmigration, Integration und Zugehörigkeit, unter anderem im Rahmen einer der europaweit ersten Studien zur großen Fluchtbewegung aus Syrien und Afghanistan. Ihre Arbeit wurde in internationalen Journals veröffentlicht und mit dem Kurt-Rothschild-Preis 2019 sowie dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

Sie ist Sprecherin des Integrationsrats der Stadt Wien, Gründungsmitglied von COURAGE: Mut zur Menschlichkeit und setzt sich beim Wissenschaftsnetzwerk Diskurs dafür ein, dass Forschungsergebnisse im öffentlichen Diskurs und in politischen Entscheidungen zum Tragen kommen. Seit 2022 hostet sie den Podcast „Aufnahmebereit“, ein Wissenschaftsvermittlungsprojekt, das sich Ankommenden und Aufnehmenden in der modernen Migrationsgesellschaft widmet.

Judith Kohlenberger beginnt ihre Festrede mit einer Metapher, nämlich der Erzählung, was eine gute Party ausmacht. Sie kommt zum Schluss, dass Offenheit für Neues, Freude am Anderen und das Kennenlernen neuer Situationen und Menschen diejenigen Aspekte sind, die eine Partynacht für uns unvergesslich machen. Es ist nicht das Vertraute, das Immergleiche, das uns stimuliert und positive Erinnerungen schenkt, es ist der Mut, uns ins Neue und Unbekannte zu stürzen und unsere Grenzen zu erweitern.

Die Krisen unserer Zeit lassen uns jedoch zunehmend daran scheitern, offen und durchlässig zu sein für das Unbekannte. Das Vertraute gibt uns vermeintlichen Rückhalt, eine trügerische Sicherheit. Judith Kohlenberger formuliert es so: „In der vielzitierten Polykrise scheint diese Mauer zum anderen in Form von Individualisierung und Partikularisierung zu bisher ungesehenem Ausmaß angewachsen. Durch die Erfahrungen der Corona-Pandemie, zahlreicher Kriegsschauplätze weltweit, und den damit einhergehenden sozialen und politischen Verwerfungen hat sich dieser Trend noch verschärft, die sozialen Medien und ihre Echokammern tun das ihrige, um uns als Menschen immer weiter auseinanderzutreiben, statt zusammenzubringen. Die physische Härte an den (Außen-)Grenzen greift als emotionale Verhärtung und intellektuelle Abkapselung nach innen aus, grenzt uns voneinander ab.“

Kohlenberger appelliert an die Absolvent:innen, offen zu sein, sich nicht innerlich und äußerlich abzugrenzen: „Seien Sie durchlässig, porös, aufnahmebereit; für Erfahrungen, für Gefühle, für Menschen und Dinge. Auch für alles Unschöne und Hässliche, Gewaltvolle und Katastrophale da draußen, für das mitunter Triggernde und Reizende; für das Leid der Anderen, das oftmals das Leid des westeuropäischen, wohlstandsverwöhnten Eigenen übersteigt. Sich Dingen aussetzen, ist eine zentrale menschliche Erfahrung und ein Bollwerk gegen die Einsamkeit. Sie ist es, die Hannah Arendt in Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft als Einfallstor für Radikalisierung und Extremismus bezeichnet hat.“

In dieser Durchlässigkeit, die auch wieder Emotionalität zulässt, sieht Kohlenberger die Möglichkeit für den Rückgewinn von Kontrolle in einer scheinbar unkontrollierbaren, zunehmend fremdbestimmten, komplexen und krisengeschüttelten Welt: „Es bedeutet, dem Draußen wieder nahe zu kommen, sich dem Anderen zuzuwenden, die Möglichkeit der Verbundenheit zu schaffen. Sich Zeit und Raum nehmen, um Komplexität zuzulassen, Meinungen auszuhalten, Differenz zu ertragen. Der politischen Fantasielosigkeit, dem Gefühl der Überforderung und des Kontrollverlusts nicht mit Resignation und Gewaltsamkeit zu begegnen, sondern mit bedachter Regulation der eigenen Offenheit. Die Geschichten und das Wissen, die Sehnsüchte und Gedanken der anderen bilden das Fundament, um mehr Austausch, Nähe und Demokratisierung zu schaffen. Mit dem Ziel, mehr zu spüren, und nicht weniger.  Erst dann sind wir wieder formbar und verbunden genug, um Transformation zu leben.“

Und seien wir uns doch einmal ehrlich. Wir wollen alle lieber Party statt Biedermeier, besonders am Tag der Sponsion.