In seinem Beitrag in der Zeitschrift Global Social Policy untersucht Christof Lammer Sozialpolitik als Wissensprozess und zeigt, wie sich die Mindestsicherung (dibao) der Volksrepublik China und ihr Verhältnis zur Lohnarbeit nicht nur durch menschliche Akteure verändert, sondern durch die soziotechnische Materialität bürokratischer Methoden.
Das Verhältnis zwischen Sozialpolitik und Lohnarbeit steht im Mittelpunkt der sozialen Frage. Dieses Verhältnis wird häufig entweder quantitativ als Ursache-Wirkungs-Korrelation zwischen Variablen oder qualitativ und historisch als ein konzeptioneller Zusammenhang in den Köpfen politischer Entscheidungsträger*innen untersucht. Stattdessen beforscht Christof Lammer diesen Zusammenhang in seiner soziotechnischen Materialität im Politikprozess. Er folgt einerseits der politischen Anthropologie, die fragt, wie Bürokrat*innen Politik machen, und andererseits der Wissenschafts- und Technikforschung, die untersucht, wie soziale und technische Aspekte in Wissensprozessen miteinander verbunden sind.
In den Chinawissenschaften wurde die Einführung der Mindestsicherung (1998 in den Städten, 2007 in den Dörfern) gewöhnlich als eine Reaktion auf Veränderungen der Arbeitswelt verstanden, wobei insbesondere auf Massenentlassungen im Zuge der Restrukturierung von Staatsunternehmen, Bauernproletarisierung durch Landnahme sowie damit verbundene Unruhen verwiesen wurde. Später sei diese marktwirtschaftliche Form der Mindestsicherung jedoch darauf reduziert worden, nur extreme Armut zu bekämpfen – wie frühere Sozialhilfe unter Mao. Ethnografische Einblicke in die dibao-Politik in einem Dorf in Sichuan zeigen jedoch, wie die vorgesehenen Verbindungen zwischen Mindestsicherung und Lohnarbeit im Politikprozess durch verschiedene bürokratische Methoden sowie Erwartungen über die bürokratische Fähigkeit zu wissen ausgelöscht und verändert wurden. Zeitweise wurde dibao sogar in alternative politische Projekte, die ländliche Entwicklung durch Dekommodifizierung anstrebten, integriert.
Wird Sozialpolitik also als Wissensprozess untersucht, so zeigt sich, wie ihre soziotechnischen Verbindungen zur Arbeit sie als Antwort auf die soziale Frage neu konfigurieren.
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Lammer, Christof. 2024. „Social Policy as Knowledge Process: How Its Sociotechnical Links to Labour Reconfigure the Social Question.“ Global Social Policy 24(2): 166–184, https://doi.org/10.1177/14680181231210158.
Erschienen im Sonderheft: “Reconfiguring Labour and Welfare in the Global South: How the Social Question is Framed as Market Participation”, herausgegeben von Minh Nguyen, Helle Rydstrom und Jingyu Mao.
Christof Lammer ist Sozialanthropologe und Postdoc-Assistent am Institut für Gesellschaft, Wissen und Politik der AAU. Derzeit ist er Fellow am Käte Hamburger Kolleg inherit – heritage in transformation an der Humboldt Universität zu Berlin.