Darlin Raschun – Der kleine Junge und sein großer Tag.

Darlin Raschun

Der kleine Junge und sein großer Tag

 

Es wurde mein 60ter Geburtstag gefeiert. Ich hatte bereits eine Tochter, die selbst schon zweifache Mutter war. Mit meinen wunderschönen Enkelkindern. Die ältere sechs Jahre alt und die jüngere zwei fast drei. Beide ähneln ihrer Mutter sehr.

Sie gingen alle drei vor mir her, als wir das alte Holzhaus betreten, das schon seit mehreren Jahrzehnten mir und meiner Frau gehörte. Früher hatten auch noch meine Eltern hier gewohnt, aber als mein Vater starb und meine Mutter zu pflegebedürftig wurde, schickten wir sie in ein Heim. Wir besuchen sie jedoch noch immer fast täglich.

Bis jetzt war es ein wunderschöner Tag. Die Sonne hoch am Himmel, der Garten blüht wie schon lange nicht mehr und ich war glücklich.  Im Haus, in der Küche angekommen, wartete mein Geburtstagskuchen, den meine bezaubernde Frau mir gebacken hatte. Sie wusste, dass ich Apfelkuchen über alles liebte und es mich an meine schöne Kindheit auf den Bergen auf einem Bauernhof erinnerte. Das ganze Haus roch nach Zimt, Apfel und Teig, da Gabriela ihn heute frisch gebacken hatte.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht gemerkt hatte, wie meine Frau mir den Kuchen mit einer schon angezündeten Kerze vor die Nase hielt. Ich blies dann zwar die Kerze aus, konnte mir jedoch nichts wünschen, da ich wunschlos glücklich war.

Ich durfte den Kuchen anschneiden und bekam, wie es üblich war, das erste Stück. Ich nahm den ersten Bissen, schmeckte den Zimt und den Apfel, wie sie auf meiner Zunge zergehen und schloss genüsslich die Augen.

Vor meinem inneren Auge kamen Erinnerungen hoch.

WILLHELM ALS KLEINER JUNGE

Wir schieben uns aus der Kirche, raus ins Getümmel. Alle meine Freunde stehen bei ihren Eltern. So wie ich. Neben mir: Großmutter, Mutter, Vater und meine Geschwister Ferdi und Richard. Alle stehen wir nebeneinander. Dicht an dicht, um uns nicht zu verlieren in dieser riesigen Menschenmasse. Den meisten erwachsenen Menschen reiche ich nur bis zum Ellenbogen.

Langsam löst es sich auf und auch wir begeben uns auf den Weg nach Hause. Dort wartet schon das größte Festmahl, das ich seit langem gesehen habe. Wir alle sitzen zusammen und lachen über alle möglichen Dinge. Auch Großmutter ist dabei. Ach, wie selten es doch geworden ist, dass wir einander sehen. Ich genieße das Essen wie selten etwas. Auch wenn wir nicht zu der ärmsten Schicht der Bevölkerung gehören, ist so ein Essen am Land sehr selten. Normalerweise kommt immer das Gleiche auf den Tisch, außer an Festtagen wie diesen.

Kaum habe ich zu Ende gegessen, will Ferdinanda, wie sie eigentlich heißt, schon mit mir spielen gehen. Draußen auf die Wiese oder zu den Tieren in den Stall. Aber Vater erlaubt es nicht. Warum erlaubt er das nicht? Aber wenn Vater gesprochen hat, dann ist es besiegelt. Wenn wir uns widersetzen, gibt es Schläge. Aber das war ja normal damals. Trotzdem frage ich mich, ob er denn nie so alt war wie ich. War er immer schon der alte, strenge Mann, der er jetzt ist? Keine Ahnung…

Was ist jetzt? Er steht auf. Will er mich jetzt schlagen? Nein. Kann nicht sein. Oder habe ich doch zu trotzig geschaut?

Nein, anscheinend doch nicht. Wo geht er dann hin? Was soll in dem Schrank neben dem Sofa sein, das er gerade aufmacht? Ach ja, die Kamera.

Auf geht’s. Zwar mag ich es nicht so… Bilder machen. Aber Vater und Mutter bestehen immer darauf.

Ferdi, oder auch Ferdinanda, holt auf Anweisung der Mutter einen Stuhl für Großmutter. Sie ist ja schon alt und hat auch schon Probleme beim Gehen. Wir stellen uns auf. Vater sagt irgendwas von „Ameisenscheiße“ und alle fangen an zu lachen, außer ich und Großmutter. Aber die lacht und lächelt ja nur selten. Ich runzle meine Stirn und natürlich drückt Vater genau da ab. Na toll. Jetzt schau ich aus wie Großvater, der hat auch immer so streng geschaut.

Aber Vater macht es anscheinend nichts aus. Er bittet mich zum Einzelfoto. Ich stelle mich neben einen Baum. Hinter mir sieht man bestimmt die Felder. Unsere Felder. Vater liebt seine Felder. Ferdi und ich auch. Wenn wir nicht gerade am Hof helfen müssen, spielen wir da. Fangen spielt Ferdi am liebsten. Ich nicht so, aber wenigstens will sie noch mit mir spielen. Richard nicht. Richard darf nicht mehr mit uns spielen und muss viel mehr am Hof helfen als wir.

Gerade als Vater abdrücken will, sehe ich Ferdi hinter seinem Rücken. Ferdi, die die schlimmsten Grimassen zieht. Ich muss so sehr lachen und genau da drückt Vater wieder ab. Dieses Mal lächle ich wenigstens auf dem Foto.

Wir gehen wieder ins Haus, während Ferdi Großmutter hilft und Richard wieder den Stuhl ins Haus trägt. In der Küche erwartet uns ein duftender Kuchen, den Mutter, kurz bevor wir in die Kirche gegangen sind, gebacken hatte. Apfelkuchen.

 

ZURÜCK IN DER GEGENWART

Ich war so in meine Erinnerungen vertieft gewesen, dass ich alles andere ausgeblendet hatte und alles andere vergessen hatte. Denn damals war alles noch schön. Nur die Sorgen eines kleinen Kindes, das noch nichts vom Leben gelernt hatte. Dem wahren Leben. Die kindliche Unschuld damals in unseren Augen… ich kann mich daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Aber an meinem Geburtstag will ich nicht in Traurigkeit verfallen und an längst vergangene Zeiten denken. Das alles war vorbei.

Und so wendete ich mich zu meiner Familie, in der ich hoffentlich noch viele Jahre verbringen darf.

Sabrina Oberdorfer – Ein gewöhnlicher Sonntag.

Sabrina Oberdorfer

Ein gewöhnlicher Sonntag

 

Seit Tagen ist dem Kind regelmäßig langweilig und die Eltern wissen nicht mehr, wie sie es beschäftigen sollen. So auch an diesem Sonntag. Eine Zeit lang spielt es ruhig und allein mit seinen Autos, doch plötzlich möchte es nicht mehr. Das Mädchen läuft zur Großmutter und will sie zum Spielen überreden. Diese ist jedoch gerade damit beschäftigt, Socken zu stricken. Deshalb kommt ihr Onkel zu ihr, hebt sie auf und trägt sie in den Garten. Dort angekommen hilft er ihr auf die Schaukel zu kommen und beginnt sie leicht anzutauchen. Der Großvater, welcher bis vor kurzem noch im Schuppen war, kommt hinzu. Nach kurzem Überlegen geht er ins Haus hinein, um den Fotoapparat zu holen. Als er den Garten wieder betritt, sieht er, wie sich seine Gattin locker mit ihrem Sohn unterhält. Er bittet sie, sich doch etwas näher zusammenzustellen, da er ein Foto schießen möchte. Der Onkel stoppt also die Schaukel ab, damit das Foto nicht verschwommen wird. Nachdem das erledigt ist, hat das Kind keine Lust mehr zu schaukeln und beginnt wie wild mit den Beinen zu zappeln. Kaum hat der Onkel das Kind vorsichtig auf dem Boden abgesetzt, läuft es auch schon auf das Haus zu. Der Onkel und die Großmutter setzen unterdessen ihre Unterhaltung fort.

Kurze Zeit später hören sie ein lautes Poltern im oberen Stockwerk. Der besorgte Onkel eilt sofort hinauf, um nach seiner Nichte zu sehen. Doch diese sitzt gut gelaunt inmitten von hundert Holzklötzen. Der Krach erklärte sich mit dem Ausleeren der Klötze. Doch nun, wer hätte es sich nicht gedacht, wird dem Mädchen gleich wieder langweilig. Also hebt der Onkel die Kleine auf und setzt sie erneut auf die Schaukel.

Und der gewöhnliche Sonntag nimmt seinen Lauf…

Anna Miklautz – Blumen im Jahr 1943.

Anna Miklautz

Blumen im Jahr 1943

 

Die Hand blättert durch die bereits vergilbten Seiten des Familienalbums. Jede Seite brachte bis jetzt, aus Momentaufnahmen liebgewonnen, Erinnerungen hervor.

Erinnerungen in Form eines kurzen Filmfetzens und den damit verbundenen Emotionen.

Die Hand zögert nun beim Umblättern. Auf der aufgeschlagenen Seite ist nur ein Bild. Es ist alt wie die restlichen, doch unterscheidet es sich dahingehend, dass es das einzige seiner Art ist, aus einer Welt, in der der Mensch als Objekt betrachtet wurde und die oftmals auch die gleichen Rechte besaß.

Es zeigt eine Familie, einen Teil meiner Familie, den ich nie kennenlernen durfte. Meine Großmutter Barbara, die zu dieser Zeit sicherlich nicht daran dachte, dass sie dereinst Kinder, geschweige denn Enkelkinder haben wird. Sie steht neben ihrem Bruder und blickt direkt in die Kamera. Zu ihrer Rechten sitzt ihre Mutter. Eine hagere Frau, die ihren Lebtag auf Familie und Arbeit fokussierte. Ihr direkt gegenüber ist mein Urgroßvater. In Arbeitsmoral und Pflichtgefühl in keinster Weise seiner Frau nachstehend, konnte er dennoch seiner Familie lediglich ein karges Leben ermöglichen, welches durch Augenblicke wie diese Fotographie versüßt wurde. Der kleine Bruder Valentin -liebevoll Volti genannt- war schon in seinen jungen Jahren ein kleiner Freiheitskämpfer, der seinen Willen stets durchsetzen wollte, und er schaut auch jetzt schelmisch am Fotographen und somit dem Betrachter vorbei.

Die Mitte des Familienkreises schmückt ein Kornblumenstrauß. Kurz vor der Aufnahme von dem Mädchen gepflückt, dekoriert er derzeit das Bildzentrum und später die triste Einzimmerwohnung der Familie.

Als kleiner Farbklecks am Küchentisch stehend haucht er dem spärlich eingeräumten Zimmer Leben ein, sodass die Illusion eines Domizils erweckt wird. Der eigentliche Ort, der als „Zuhause“ bezeichnet werden darf, liegt stattdessen hunderte Kilometer von dem Entstehungsort des Bildes entfernt. Dort steht das rustikale Bauernhaus mit seinen zugigen Fluren und quietschenden Türen, welches nur noch die liebgewonnenen Erinnerungen an eine bessere Zeit beherbergt.

Seit über einem Jahr lebt dort niemand mehr, freiwillig ist niemand gegangen.

Seit über einem Jahr besteht das Leben dieser vier Personen aus Zwangsarbeit bis zur physischen Erschöpfung.

Leid, Schmerz und Hass verloren durch ihre stete Präsenz den Schrecken, welchen sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit ausgelöst hätte.

Aus ihrem alten Leben ist allein die Hoffnung geblieben.

Jenes vage Gefühl, welches Halt zu geben scheint in einer scheinbar nicht enden wollenden Farce, die zur Realität wurde.

Für diese Familie sollte diese Ungewissheit erst nach drei Jahren, acht Monaten und sieben Tagen enden.

Am 14. November des Jahres 1945 betrat meine Großmutter jenes Haus wieder, in dem sie geboren wurde.

 

Sechs Jahre sollten vergehen, bis meine Großmutter ihren Familiennamen und das Haus zurückließ, dreizehn bis mein Urgroßvater an Tuberkulose verstarb und siebenunddreißig als meine Urgroßmutter friedlich auf ewig einschlief. Das Haus existiert schon lange nicht mehr.

Vor nicht einmal einem Jahr tat auch Volti seinen letzten Atemzug.

Einzig meine Großmutter lebt noch.

 

Es ist spät.

Das Fotoalbum wird zugeschlagen.

Im Flur steht eine Vase mit blauen Blumen.

Ein Lächeln, das die Augen nicht erreicht.

Jonas Knoll – Eine neue Welt.

Jonas Knoll

Eine neue Welt

 

Ich hörte einmal eine Geschichte meines Opas aus der späten Nachkriegszeit, die war für ihn so einprägsam, dass er sie sogar seinen Kindern und dann auch seinen Enkelkindern (also mir) erzählt hatte. Die ging so:

Eines Morgens wachte ich auf, es war eisig kalt, sogar mit der dicken Decke. Ich gab mir einen Ruck und stand auf, kramte mein Leibchen, die Hose und Unterhose und meine Lieblingssocken aus dem Schrank. Als ich mich angezogen hatte, ging ich ins Badezimmer und wusch mich, putzte mir die Zähne und rannte die Treppe hinunter. Das machte immer einen Höllenlärm, weil die Treppe schon ganz alt war und aus Holz bestand.

Ich setze mich zum Küchentisch. Heute gab es Semmeln zum Frühstück –  eine echte Besonderheit. Ich strich mir eine Semmel mit Marmelade und eine mit Honig, ich finde ja, dass frische Semmeln mit Honig etwas besser schmecken als mit Marmelade.

Mein Vater las das Neueste in der Zeitung und trank dazu eine Tasse schwarzen Kaffee. Meine Mutter fragte, ob ich alles für die Schule eingepackt habe. Ich schüttelte den Kopf und rannte die knarrende Treppe hinauf, packte meine Schulsachen und starrte auf das Fenster. Ich sah, wie die Eiskristalle anfingen zu schmelzen. Es faszinierte mich, die Sonne wärmte mich und es war mir auch nicht mehr kalt. Es machte irgendetwas mit mir. Es erfüllte mich mit Energie, die ich so oder so nötig hatte.

Nach ein paar Minuten hörte ich meine Mutter, die mich in leicht genervtem Ton fragte, wo ich denn bliebe, und dass meine Schulkollegen schon draußen auf mich warteten. Also polterte ich die Stiege wieder runter, um mich noch von meinen Eltern zu verabschieden. Sie wünschten mir einen schönen Tag. Ich erwiderte ihre Glückwünsche und zog mir den warmen Filzmantel und meine Lederschuhe an.

Dann ging ich nach draußen. Die eisige Luft schlug mir ins Gesicht, mein Atem verwandelte sich in Rauch. „Da bist du ja endlich!“, sagte Mark. Peter fügte noch hinzu: „Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig zu Unterrichtsbeginn in der Schule sein wollen!“ – „Dann laufen wir, oder?“, fragte ich. Beide nickten und wir rannten los. Wir huschten noch rechtzeitig in die Klasse. Ich war schon am Nachhauseweg, als Mark plötzlich ganz aufgeregt auf mich zu rannte. Er sagte: „Guck mal, was ich habe!“ Er hatte eine Dose aus Aluminium in der Hand, sie sah aus wie eine Bonbondose. „Das sind Kaugummis“, erklärte er mir, „probier mal!“

Ich steckte den Kaugummi ganz vorsichtig in den Mund. Während er eine große Blase machte und sie zerplatzen ließ. „Ja, es schmeckt wirklich wie ein Minzbonbon! Herrlich! So etwas brauch ich auch!! Wo hast du das her?“

Mark flüsterte: „Du darfst es niemandem verraten!! Versprich mir das! Ich habe es von einem englischen Soldaten geschenkt bekommen!“ Ich war fasziniert und ein bisschen erschrocken darüber, weil mir meine Eltern den Kontakt mit Soldaten streng verboten hatten. Er versprach mir, noch solche Kaugummis zu besorgen, da ich sein bester Freund war.

Jedes Mal, wenn ich einen Kaugummi esse, muss ich an diese Geschichte denken.