Anna Will – Für immer und ewig.

Anna Will

Für immer und ewig

 

Sie steht an seinem offenen Grab. Der Regen, der vom Himmel fällt, vermischt sich mit der Nässe ihrer Tränen. Sie klammert sich an die Rose in ihrer Hand, bis die Dornen sich in das Fleisch  ihrer Handfläche bohren. Doch dieser Schmerz ist nichts gegen den, den sie tief in ihrem Inneren verspürt. Er wird nie wieder zurückkommen. Er ist für immer weg. Sein Körper leblos in einer Holzkiste, tief unter der Erde vergraben, seine Seele bei Gott im Himmel. Sie wird jeden Tag an ihn denken, wird sich an den gemeinsamen Erinnerungen und Momenten festklammern. Doch irgendwann werden auch diese verblassen. Sie wird für ihn beten und hoffen, dass er auf sie warten wird, so wie sie damals auf ihn gewartet hatte.

 

 

75 Jahre davor

 

Eine Träne kullert über die Wange des Mädchens, als er sich von ihr  mit einer langen Umarmung verabschiedet. Sie bahnt sich langsam einen Weg über ihr schönes Gesicht und tropft schließlich vom Kinn auf ihr blaues Kleid. Sie sieht ihm noch lange nach. Sogar als er schon nicht mehr zu sehen ist, steht sie noch auf der Straße und sieht gedankenverloren in die Richtung, in die er verschwunden war. Irgendwann beschließt sie wieder zurück nach Hause zu gehen. Zurück zu den Erinnerungen, die er für sie dagelassen hatte. Sie werden überall auf sie warten, sie zum Lachen, zum Weinen oder zum Nachdenken bringen, so lange er nicht bei ihr sein kann. Währenddessen wird er draußen fürs Vaterland kämpfen, für das schon tausende andere Unschuldige ihr Leben gelassen hatten.

Sie lässt die Rose los, ganz langsam, als würde sie damit das letzte Stück von ihm verlieren. Die Blume fällt wie in Zeitlupe mit einem dumpfen Geräusch auf den nassen Sarg. Ihre Hände zittern und sie krallt sich verzweifelt an die blaue Schürze, die er immer so geliebt hatte. Er wird in ihren Erinnerungen weiterleben, bis sie endlich zu ihm kommen kann. Und dann erinnert sie sich wieder:

 

70 Jahre zuvor

 

Er steht vor ihr. Äußerlich scheint er sich kaum verändert zu haben. Er ist noch immer sehr groß und hat noch immer dieses schöne Lächeln, das nur für sie bestimmt ist. Doch wenn sie genauer hinsieht, bemerkt sie, wie müde und abgekämpft er aussieht. Außerdem ist das fröhliche Strahlen aus seinen Augen verblasst. Seine Augen blicken zwar in ihre, aber es scheint, als würde er noch immer weit weg sein. Wo ist dieses Strahlen in seinen Augen? Wo ist die unbeschwerte Art des Mannes, den sie liebte? Er hat es verloren. Der Krieg hat es ihm genommen, so wie er vielen anderen Menschen das Leben geraubt hatte. Doch sie will ihm alles wieder zurückgeben. Sie will ihren Mann wieder so wie vorher, ohne vor Sorge gefurchter Stirn und Abwesenheit in seinen Augen. Sie werden es schaffen. Gemeinsam. Es wird Worte, Zeit und einfache gemeinsame Momente brauchen, doch sie ist bereit auf ihn zu warten, denn sie weiß, dass er zurückkommen wird. Sie wissen, dass sie beide bereit sind, mit vereinigter Kraft  die Steine aus dem Weg zu räumen und gemeinsam über die Hürden zu springen. Sie haben einander und das ist im Moment das Einzige, was zählt.

 

Zwanzig Jahre später

 

Das Kleid, das sie an diesem Tag trägt, geht ihr bis zum Knie und ist am Hals mit einem zarten Häkelsaum verziert. Stolz hält sie ihr zwölftes Kind im Arm, welches in dem großen Taufkleid wie ein kleines, zerbrechliches Wesen wirkt, und lächelt in die Kamera. Neben ihr steht ihr vor Glück strahlender Mann, der in jedem Arm ein Kleinkind hält. Auch er ist stolz. Stolz auf seine hübschen, klugen Töchter und Söhne, die im Halbkreis um sie versammelt sind und sich vor der Kamera mit ihrem breitesten Lächeln zeigen, stolz auf seine Frau und vor allem auf seine Familie. Sie würden immer zusammenhalten, egal was auch passieren wird. Der Blitz der Kamera blendet sie kurz und sie muss ein paarmal blinzeln, damit die bunten Farbpunkte vor ihren Augen wieder verschwinden. Morgen würden sie in der Zeitung zu sehen sein. Das Bild einer glücklichen Großfamilie mit zwölf Kindern, welche mit dem starken Band der Liebe verbunden waren.

Sie hält sich an diesen Erinnerungen fest, wie eine ertrinkende an einem Rettungsring, als sie gemeinsam mit ihren Kindern den Friedhof verlässt. Er wird über sie und ihre Kinder, Enkel und Urenkel  wachen, wie ein Schutzengel. Dann würde sie irgendwann zu ihm kommen und sie würden gemeinsam über alle wachen, die ihnen lieb sind. Sie würden sich umarmen und gemeinsam Freudentränen vergießen, so wie damals als er zurückkam. Sie schließt kurz ihre Augen und merkt, wie ein winziger Teil ihrer Trauer durch einen  Hoffnungsfunken ersetzt wird. Er ist nicht tot. Er würde so lange in ihr weiterleben, bis sie zu ihm kommen konnte. Für immer und ewig.

 

Sigrun Stuller – Der Wahre Traum von Anna.

Sigrun Stuller

Der wahre Traum von Anna

Eines Herbsttages sah sie aus dem Fenster hinaus,

es sah wie ein wunderbarer Tag für ein Fotoshooting aus.

In den 70er Jahren waren High-Waist-Hosen in,

deshalb sah Anna auch eine modische Abstimmung mit ihrem lilafarbenen Pullover darin.

So machte sie sich in knalliger Kleidung mit ihrem Freund auf den Weg in die Stadt.

Schon aus der Tür hervorgetreten schien beiden die Sonne ins Gesicht

und der passende Ort lag

an einer Wiese, die voll war mit orangenen Blättern, die fielen durch ihr eigenes Gewicht.

Sonst verbrachte sie ihre Zeit unter der Woche in der Bank,

doch heute war ein Tag für ihre wahre Passion – Gott sei Dank.

Fokussiert und mit abwechselnden Posen sieht sie in Richtung Kamera,

die ihr späterer Ehemann mit Bewunderung in Händen hielt und feststellte – sie ist sonderbar!

Lila ist die Farbe der mentalen Stärke,

dies zeichnete auch ihre Persönlichkeit aus und ich merkte,

beim Durchblättern des Fotoalbums sofort

die Verbundenheit zu ihr und zufälligerweise stehe ich gerade an demselben Ort.

Florian Rindler – Weihnachten – Das Fest der Familie.

Florian Rindler

Weihnachten – Das Fest der Familie

 

Der Wecker reißt die Familie aus dem Schlaf. Etwas benommen und noch von Müdigkeit geplagt, ringt der Vater im Bett, um noch ein paar kostbare Minuten Schlaf zu ergattern. Doch es hilft nichts. Der Tag ist lang und es gibt viel zu tun. Ganz anders der Junge. Nahezu panisch und von Kraft erfüllt springt er aus dem Bett. Ein weiterer Dezembermorgen. Ja doch nicht nur dies. Es war der Morgen des 24.12.1968. Es war Weihnachten. Voller Begierde und Vorfreude erwartete er den Tag schon seit Wochen. So schnell ihn seine Beine tragen können, springt der Junge in die Küche. Die Mutter, welche schon geraume Zeit wach war, bereitete mit Sorgfalt das Frühstück vor. Neben ihr die kleine Schwester, welche durch ihre Unwissenheit nicht in der Lage war, die Bedeutung dieses Tages zu begreifen. Wie konnte sie auch. Sie hatte noch nicht viele Weihnachten erlebt und selbst wenn, könnte sie sich an diese sicher nicht erinnern. Nun schlürft auch der Vater, noch vom Schlaf besessen, in die Küche, um sich seinen morgendlichen Kaffee zu holen. Es war anders als ein normaler Morgen. Es lag eine Aufregung in der Luft, welche sich wie ein leichter Wind im ganzen Raum verbreitete. Weihnachten ist ein Fest der Freude und Besinnlichkeit. Bis die Freude und Besinnlichkeit sich Ausdruck verleihen dürfen, muss jedoch noch einiges getan werden. Sofort nach dem Frühstück setzte sich der Vater in sein Auto und machte sich auf den Weg, noch einen Satz Kerzen für den Baum zu kaufen. Genervt von dieser unnützen Tätigkeit ergriff der Vater das Ziel, diese Aufgabe so schnell wie möglich zu erfüllen und sich dann wieder mit Genuss seinen Zeitschriften zu widmen. Währenddessen war der Junge bereits im Hof. Unter der Voraussetzung, rechtzeitig zu Hause zu sein, hatte ihm die Mutter erlaubt, noch etwas zu spielen, bevor sie mit den letzten Vorkehrungen für das heilige Fest beginnen. Die Mutter selbst begann in diesem Moment die ersten Dinge für die Beilagen klein zu schneiden. Schon poltert der Vater die Treppe hinauf, die Kerzen in der Hand. Nun waren bald alle Vorkehrungen getroffen und der Vater widmete sich wohl verdienter Weise seinen Zeitschriften. Nun packte die Aufregung auch das Mädchen. Es scheint, ich liege die Aufregung nun mehr als explosiv in der Luft. Der Tag neigt sich mehr und mehr dem Dunkel der Nacht. Die Mutter, welche soeben den Braten vollendet hatte, schob diesen ins Rohr und begann den Tisch zu decken. Der Junge sollte ihr helfen, jedoch war er so aufgezogen und schon passierte diesem ein Missgeschick und er ließ einen der Teller fallen. Erzürnt schimpfte der Vater mit ihm. Dies brachte die Schwester zum Weinen. Auf einmal war der Raum mit etwas ganz anderem erfüllt. Es war schwer zu begreifen, doch es war als ob alle Freude sich für einen Moment in Eis verwandelte. Die Mutter beruhigte die Tochter und die Familie stellte sich für ein kurzes Bild zusammen. Für wahr nicht der perfekte Moment, um ein Bild zu machen. Nachdem das Foto geschossen wurde und noch einige Lieder angestimmt wurden, fand sich die Familie am Esstisch ein. Viel Neues gibt es zu erzählen, viele Gedanken auszutauschen und viele Ratschläge zu erteilen. Das Mahl war ausgezeichnet. Doch dies stand längst außer Frage. Die Familie hatte schon längst den betörenden Geruch wahrgenommen, welcher vom Braten ausging. Nach dem Essen war es endlich so weit. Bescherung. Mit großen Kulleraugen öffneten die Kinder ihre Geschenke. Von einer riesigen Freude übermannt strahlen die Kinder heller als jeder Stern. Nichts könnte schöner sein als dieser Moment und die Wärme der Liebe, der Freude und des Beisammenseins. Was für einen Moment als verschwunden galt, fand sich nun wieder in jedem von ihnen.

Vanessa Satler – Ein ruhiger Abend.

Vanessa Satler

Ein ruhiger Abend

 

Es ist Nachmittag, der Schnee glitzert weiß. Die Schneedecke ist bestimmt eineinhalb Meter hoch, auch die Berge im Hintergrund zeigen ihre beeindruckenden Schneehauben. Alles ist ruhig, der Wald hinterm Haus schweigt still. Die Tiere in den Ställen wurden gerade mit frischem Heu und Wasser versorgt, hier hört man nur das Kauen der malmenden Mäuler. Der Atem wird sichtbar aus ihren Nasenlöchern gestoßen. Es ist klirrend kalt, doch die Kühe, Schweine, Hühner und auch die Pferde sind daran gewöhnt. Am Berg gibt es nämlich nur wenige warme Monate. Doch ein lautes Krachen lässt die Köpfe so mancher Tiere hochschellen. Es ist ein Mann, Mitte 50. Er trägt gerade das frisch gehackte Holz in das Haus. Seine Strickjacke, seine Mütze und auch seine dicken Stiefel helfen ihm, sich selbst warm zu halten. Dieser Mann ist mein Urgroßvater. Ich kenne seinen Namen nicht. Ich habe nur ein Bild, welches ich hier veranschaulichen will. Er kommt wieder raus aus dem großen, gelben Haus. Jenes hatte er selbst Jahre zuvor mit seinem Vater erbaut. Der Mann hat eine Schaufel in der Hand und sogleich hörte man das Knacken, welches die brechende Schneedecke verursacht hatte, als er die Schaufel hineinstieß, um den Hauseingang freizuschaufeln. Denn bald stand Weihnachten vor der Tür und der Eingang sollte schön und gepflegt aussehen. Aus dem Kamin steigt Rauch. Seine Frau, meine Urgroßmutter, musste wohl gerade das Abendessen kochen. Als der Mann fertig war, ging er sofort zum Haus. Die Kälte machte ihm schwer zu schaffen. Die Schaufel ließ er an der Hauswand stehen. Er wird sie morgen sowieso wieder brauchen. Sobald er das Haus betrat und die Türe hinter sich schloss, kam ein kleiner Junge mit vielleicht vier Jahren auf ihn zu gerannt. Sein Name ist Lorenz, noch weiß er nicht, dass er einmal mein Großvater werden wird. Jetzt freute er sich nur, seinen Vater zu sehen.

Endlich ist Papa wieder da. Ich wollte nicht raus zu ihm, weil es schon sehr, sehr kalt ist. Papa kam zuerst herein, hob seinen Kopf, um den Geruch des guten Abendessens besser riechen zu können. Es brodelte schon laut auf dem Herd. Plötzlich lachte Papa laut auf, als ich mich umdrehte sah ich Mama in ihrem Kittel und dem Kopftuch den Kochlöffel schwingend und Papa, der seine rauen dicken Finger reibt. Er musste wohl den noch unfertigen Eintopf gekostet haben. Mama ist da sehr empfindlich und streng, nicht einmal ich durfte kosten. Mama strahlte über das ganze Gesicht als Papa ihr ein Bussi auf die rote Wange drückte. Wie das schmatzte. Papa war sehr müde vom Schneeschaufeln. Ich sprang sofort auf seinen Schoß, aber dann taten mir plötzlich die Finger weh. Ich habe heute am Morgen schon brav Schnee geschaufelt, aber leider habe ich Blasen bekommen. Ich bin nämlich schon groß und muss beim Arbeiten helfen, dafür bekomme immer einen Löffel süßen Honig. Der klebt immer so. Ich kuschel mich an ihn, er wirft mich hoch, ich quieke vergnügt. Er fängt mich wieder auf und beginnt mit mir einen Turm aus meinen Bausteinen zu bauen. Die Bausteine hatte ich zusammen mit ihm gebastelt. Ich durfte sie schleifen.

Plötzlich klingelt es. Ich laufe schnell zur Türe, mir hat niemand gesagt, dass wir Besuch bekommen. Papa drückt mich weg, damit er die Türe aufbekommt. Mein Bruder ist da, er hat seine Frau mitgenommen. Haben sie mir etwas mitgebracht? Leider nicht, dafür bekomme ich etwas Besonderes, wenn ihr Christkind kommt. Jetzt ist Mama auch neugierig und kommt aus der Küche, um den Besuch zu begrüßen. Sie ist so froh, die beiden zu sehen und umarmt sie lachend. Ich will auch so umarmt werden und laufe zu ihr. Sie sieht mich kurz böse an und sagt ich solle nicht so ungeduldig sein. Dann gehen die beiden Frauen in die Küche, um den Tisch zu decken. Ich darf nicht helfen, weil ich vorgestern einen Teller fallen gelassen hatte, deshalb schaue ich nur zu. Heute werden wir im Wohnzimmer essen. Dort steht der große Christbaum. Ich durfte beim Schmücken mithelfen, aber ich darf die glitzernde Girlande nicht anfassen, sonst bekomme ich einen Klaps auf die Finger. Die Girlande war besonders. Draußen ist es schon dunkel und die Girlande leuchtet noch heller. Ich will sie anfassen. Es ist keiner im Wohnzimmer, ganz schnell berühre ich sie. Sie fühlt sich so weich an. Jetzt kommen sie. Ich muss sofort weg. Wie aufregend. Mein Bruder fragt mich, ob ich nicht die Kerzen am Adventkranz anzünden möchte. Ich nicke begeistert. Er gibt mir ein großes Streichholz, es brennt mit orangener Flamme und erfüllt die Luft mit dem typischen Geruch des Feuers, welcher sich mit dem Geruch des Tannenbaums vermischt und er hebt mich hoch. Der Adventkranz hängt nämlich ganz weit oben an der Decke im Wohnzimmer. Jetzt leuchtet es noch schöner im Wohnzimmer. Das Essen verläuft schweigend, das einzige hörbare Geräusch ist mein Schmatzen. Nach dem Essen bringen mein Bruder und mein Vater mich ins Bett. Ich war schon so müde. Ich flüstere noch schnell meiner Mama und der Frau meines Bruders, die gerade abwaschen, ein leises Gute Nacht.

Als dies alles geschehen war, saßen sie wieder am Tisch, sie fingen an über alltägliche Themen zu reden. Niemand bemerkte, dass der jüngere Mann ein Foto machte. Er fing einen Moment ein, ohne zu wissen, dass genau dieser Moment, dieses Bild, die Grundlage für einen Text, viele Jahre später sein wird. Der jüngere Mann stellte die Kamera wieder auf den Tisch und setzte sich zu der Runde. Sie lachten, aber redeten auch über ernste Themen. Der Herbst war kälter und härter als die Jahre zuvor und hatte einen großen Teil der Ernte zerstört und auch der Winter war kalt und sehr schneereich. Er machte ihre Arbeit sehr schwer. Doch bald war wieder Weihnachten. Die Hoffnung, die dieses Fest mit sich bringt, lässt die Sorgen und die Verbitterung dieses Umstandes weichen. Die Sicht auf den einfachen, mit Lichtern und Girlanden geschmückten Weihnachtsbaum, erleuchtete die Gesichter der dort am Tisch Sitzenden. Sie wollten alle gemeinsam zur Christmette gehen und dem kleinen Jungen ein schönes, besinnliches Weihnachtsfest bescheren. Die Frau des jüngeren Mannes holte noch schnell ihren ersten selbstgebrannten Schnaps. Als sie aufstand, um ihn zu holen, hörte man den alten Holzboden knarzen.