Anna Dragaschnig – Vier Blumen vor dem Krieg.

Anna Dragaschnig

Vier Blumen vor dem Krieg

 

Oft fragt man sich, was Blicke sagen wollen. So individuell und doch so monoton. Augen, die einen anschauen, ganz ruhig und verlassen, auf einem alten Foto. Auf einem alten schwarz­ weiß Foto meiner Vorfahren. Irgendwann vor dem zweiten Weltkrieg oder vielleicht schon mittendrin.

Sechs kleine Augenpaare schauen mich an. Sie beobachten mich, starren auf mich, als ob jedes seine eigene Geschichte erzählen möchte. Eine ganz andere und persönliche Geschichte. Ich kann sie nicht hören, ich kenne sie nicht. Niemand kennt die wahren Geschichten und niemand kann sie hören. Sie werden sanft vom Wind getragen, vorbei an den alten Höfen, auf denen sie geboren wurden, auf denen geschuftet wurde, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Manchmal hört man sie pfeifen, manchmal rascheln und doch bleiben sie immer im Geheimen und niemand wird sie je erfahren. Es sind die Erinnerungen der Vergangenheit, die nur vage von Verwandten und Bekannten weitererzählt werden, ganz vage und ganz unpersönlich. Sie werden einsam weitergegeben, denn ihr Herz und ihre Seele sind irgendwo weit weg und eines Tages werden wir sie vielleicht wiederfinden.

Noch immer beobachten mich die Blicke. Immer tiefer schauen sie in mich hinein. Irgendwie müde und irgendwie traurig und doch so liebevoll. Die kleinen Augen der Mutter wirken erschöpft und ihr Gesicht sieht alt aus, ein bisschen faltig, ein bisschen geschwächt und trotzdem trägt sie dieses liebevolle kleine Lächeln auf ihren Lippen. So klein, dass man es kaum sehen kann und doch ist es da, das scheinbar unwichtige kleine Lächeln, das einem das Gefühl von Geborgenheit gibt. Die Mutter trägt ein schönes, dunkles Kleid. Es ist ein besonderes Kleid, das sie bestimmt nicht jeden Tag trägt. Einzig ihre Schuhe erinnern an den Alltag. Sie sind abgenützt und alt, doch das stört nicht. Auf ihrem Schoß sitzt ihre jüngste Tochter, die sie zärtlich im Arm hält. Das kleine Mädchen blickt düster und unter ihren Augenbrauen liegen dunkle Schatten. In ihren Händen hält sie eine Blume. Die erste Blume. Die erste Blume, die dem Bild einen Hauch von Freude und Freiheit und Lieblichkeit verleiht.

Auch die Hände der drei weiteren Kinder zieren Blumen. Schöne Blumen. Schöne, blühende Blumen, die den Kindern ein bisschen Kindlichkeit schenken und den Eltern ein klein wenig Härte aus ihren kalten, ängstlichen Gesichtern nehmen.

So sieht sie mich an, die Familie. So harmonisch, wie der Vater die kleinen Händchen seiner Kinder an sich drückt, als wären diese sein ganzer Stolz, als wären sie sein weiches Herz. Sein weiches Herz hinter einer schützenden Hülle. Sie ist nicht streng, nein. Nur irgendwie hart und doch so harmonisch und doch so lieblich. Als wäre er eins mit den Blumen. Als wären sie alle eins mit den Blumen, ganz tief in ihrem Inneren. Sie können es nur nicht zeigen.

 

Die Familie (meine Urgroßeltern und ihre Kinder) lebte auf einem Bauernhof am Land wo der Vater nebenbei eine kleine Sparkasse führte.

Insgesamt hatten die Eltern sechs Kinder, die alle um 1930 geboren wurden. 1937 starb die Mutter.

Wenige Jahre später, 1942, wurde die Familie ausgesiedelt und kam in ein Arbeitslager.

1945 durfte sie gemeinsam wieder zurück auf ihren Hof. Drei Jahre später starb der Vater.

Heute sind alle Familienmitglieder verstorben.

 

 

Geschichten wurden nur vage weitergegeben. Ganz vage und ganz unpersönlich und doch irgendwie ein bisschen lieblich. So lieblich wie vier Blumen vor dem Krieg.

 

Norbert Kröll: No SARS on Mars – ESSAY

Am 28.04.2020 hätte Norbert KRÖLL in einer gemeinsamen Lesungsveranstaltung mit Paul AUER (Fallen, Septime Verlag 2020) seinen soeben erschienenen Roman Wer wir wären (Edition Atelier, 2020) im Robert-Musil-Institut vorgestellt.
Da die Buchpräsentation, wie alle weiteren Veranstaltungen bis 30. Juni, abgesagt werden musste, hat Norbert Kröll einen Essay für das Musil-Institut verfasst, den wir hier erstmals veröffentlichen dürfen.

 

No SARS on Mars

oder was sosl distensi mit Krieg zu tun hat und was Omas Reindling mit Gott

Essay

Nobert Kröll

 

Sie sei ja schon ein bisschen eine Heilige, haucht meine Oma ins Telefon. Deshalb glaube sie, dass die Krise von oben herabkomme, direkt von Gott, als Strafe, gerade weil sie alle betreffe. Ich frage sie, warum die Krise nicht von unten heraufkomme, direkt von Satan, gerade weil sie alle betreffe? Aber nein, lacht sie in den Hörer, der sei doch nicht fürs Bestrafen verantwortlich!

Ich schreibe diesen Text und werfe einen müden Blick auf die Uhr. Es ist fünf Uhr dreißig morgens, meine beiden kleinen Kinder waren zwischen zwei und vier Uhr munter: Hunger? Verdauung? Gehirnentwicklung? Schlecht geträumt? So genau weiß man das nicht, und es macht im Nachhinein auch keinen Unterschied. Das Baby – es kam auf die Welt, als SARS-CoV-2 bereits in China wütete –, hat zuerst geschrien und dann mit breitem Grinsen vor sich hin gebrabbelt, der Zweijährige ist bald über unsere Körper gerollt und hat dabei unaufhörlich abgejandlt, also Wörter erfunden, auf die Jandl sicherlich stolz gewesen wäre. Nun bin ich, nach zwei vollen Windeln, die dringend zu wechseln waren, munter und kann nicht mehr zurück.

Am Schreibtisch meines jugendlichen Stiefsohnes Platz genommen. Er schläft ohnehin wie ein Stein. Der merkt nichts davon, dass ich seinen Schreibtisch zu meinem Schreibtisch umfunktioniere. Homeoffice nennt man das neuerdings. Ich habe das Gefühl, dass wir uns, um unbequeme Veränderungen in unseren Leben zu verschönern, daran gewöhnt haben, auf englische Wörter zurückzugreifen. Homeoffice, das klingt doch schon mal recht sexy. Da schreibt es sich gleich angenehmer. Und Big Data hört sich besonders lässig an, vor allem für Jugendliche, die sich für Datenschutz gerade noch nicht interessieren, sowie für jene, die oftmals blind darauf vertrauen, dass die da oben schon wissen werden, wovon sie sprechen.
Ob sie eine Ahnung habe, was darunter zu verstehen sei, frage ich Oma. Mit Big Ben habe es wohl nichts zu tun, schnauft sie in den Hörer. Mit dem ausgerechnet nicht, sage ich und füge schmunzelnd hinzu, aber sie sei wirklich nahe dran.

 

Meine Oma hat nie Englisch gelernt. Wie sich für sie wohl social distancing anhört? Wie leicht es uns über die Lippen geht. Und wie leicht auch die Umsetzung im täglichen Leben, nicht wahr? (Hier bitte einen zwinkernden Smiley denken.) Mit den beiden Wörtern räumliche Distanzierung hätten wir gewiss gröbere Probleme gehabt. Das wäre uns zu technisch gewesen, da wären wir gestolpert, so genau hätten wir es dann bitteschön gar nicht wissen wollen! Nein, habe ich zu meinem Zweijährigen gesagt, als er gestern mit ausgestreckten Armen auf ein anderes Kind zugelaufen ist, er dürfe in nächster Zeit leider nicht zu den anderen Kindern hin, er müsse Abstand halten. Ob er etwa nicht wisse, was social distancing bedeute, habe ich ihn gefragt (und mich gewundert, warum Kinder nicht von Geburt an ironische Bemerkungen verstehen). Er hat den Kopf geschüttelt, mich angelächelt und versucht, die Wörter zu wiederholen: sosl distensi, hat er gesagt. Genau, wiederholte ich, so nenne man das heutzutage: sosl distensi. Blöd, hat er darauf gemeint. Stimmt, habe ich gesagt, blöd. Aber notwendig.

 

Ich sitze hier und schreibe diesen Text, weil jemand in China, der sogenannte Patient null – ich denke automatisch an einen Mann, warum? –, als erster Mensch vom SARS-CoV-2 Virus befallen wurde. Und der Premierminister von Großbritannien lag deshalb auf der Intensivstation und viele andere liegen genau aus diesem Grund unter der Erde oder zu Asche verbrannt in einer Urne.
Wenn man sich das so überlegt: Dieser eine Mensch, genau betrachtet war er – und ich will ihm hier keine Schuld zuweisen, denn er wusste ja nichts von der zukünftigen Pandemie –, und trotzdem: Diese Person war es, die das Virus weiterverteilt hat. Wäre dieser eine Mensch kurz nach der Infektion niemandem mehr begegnet, wäre es, sagen wir, zufällig ein Eremit gewesen, der sich, bloß um seine Speisekammer aufzufüllen, an jenem verhängnisvollen Tag beim Besuch eines Markts in Wuhan angesteckt hätte, sagen wir, da er von einem Rüpel unsanft weggestoßen worden wäre und daraufhin mit dem Kopf an einen mit Fäkalien beschmutzten Käfig geknallt, worin – wieder rein zufällig – ein mit Covid-19 infiziertes Gürteltier (oder ein anderes Mittlertier, das erst gefunden werden muss) auf seinen Tod gewartet hätte, so wäre der Kelch an uns vorübergegangen. Warum? Nun, er hätte die Krankheit in seiner Einsiedelei bekommen, die Symptome – wenn er denn überhaupt welche gehabt hätte – als Grippe abgetan, und wäre genesen … oder verstorben, ohne dass die Welt davon Notiz genommen hätte.

Aber, und das wissen wir, es wäre nur ein Aufschub gewesen, ein verflixtes Spiel mit der Zeit. Denn solange der Handel mit Wildtieren und dessen Verzehr in China, und dem Rest der Welt, aufrecht erhalten bleibt (man wird noch sehen, ob das Verbot diesmal eingehalten wird, denn nach der SARS-Pandemie 2002/2003 wurde der Verkauf bald wieder erlaubt), solange ist die potentielle Gefahr gegeben, dass eines von den dutzenden verschiedenen Coronaviren der Fledermäuse abermals ein Mittlertier befällt und dort mutiert, um – und an diesem Punkt würde sich gewiss ein gelangweilter Gott ins perfide Spiel einklinken – endlich auf den Menschen überzuspringen. Auf den Menschen, der zu dumm ist, um rechtzeitig die Reißleine zu ziehen, der einerseits fähig ist auf den Mond zu fliegen und Sonden zum Mars zu schicken (will nicht irgendjemand den Hit: No SARS on Mars schreiben? Bei Interesse gebe ich den Titel bei zehnprozentiger Tantiemenbeteiligung gerne her), der fähig ist Teilchenbeschleuniger zu bauen, und doch beschleunigt sich in den Gehirnen der Regierenden relativ wenig, da werden Schulen, Après-Ski-Hütten und Geschäfte nicht oder viel zu spät geschlossen, je nachdem welche Herdenimmunitäts-Theorie gerade en vogue zu sein scheint.

 

Da wird auch bald das Wort Krieg in den Mund genommen, salopp bei einer Rede an die Nation herausgeschüttelt, weil es sich toll anhört, weil jeder Politiker, der einen Krieg führt, an Sympathiewerten gewinnt.
Unverantwortlich, wie ich meine. Denn von diesen Zuständen sind wir weit entfernt. Auch Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien und die USA sind davon weit entfernt. Einige Militärfahrzeuge fahren mit Leichen zur Einäscherung und andernorts werden vorsorglich Massengräber ausgehoben, ja, es ist äußerst tragisch, und das Herz tut mir weh, wenn ich diese und ähnliche Bilder sehe, aber das bedeutet – bei allem Mitleid mit den Covid-19 Opfern – noch lange nicht, dass dort Krieg herrscht.

Denn: Ein Krieg, das ist etwas anderes. Ein Krieg zerreißt Kinder wie Erwachsene, ein Krieg bedeutet, in zerbombten Ruinen wohnen zu müssen, keine oder wenige Arzneien (oder Krankenhäuser, geschweige denn Beatmungsgeräte oder Intensivbetten) zur Verfügung zu haben, keine oder wenig Nahrung zu besitzen, zu hungern, zu hungern, zu hungern und nochmals: zu hungern; wir sind, ganz im Gegensatz zum soeben Erwähnten, dazu verdammt, Fett anzulegen, so wir nicht täglich zehn Mal um den Häuserblock joggen oder uns Fitness-Total-Body-Indoor-Workout Videos reinziehen (freilich ohne die Übungen nachzumachen). Wir stopfen das Essen in uns hinein. Wir haben Tonnen an Klopapier, um uns nach dem Fressen die Ärsche wund zu wischen. Können die Leidenden in einem Kriegsgebiet dasselbe von sich behaupten? Ich glaube kaum. Also reißt´s euch gefälligst zam, ihr Regierenden da draußen, und hört auf, von Krieg zu sprechen, das ist eine unglaubliche Beleidigung für all jene, denen tatsächlich tagtäglich die Kugeln um die Köpfe schwirren, die gezwungen werden, ihre Länder zu verlassen – im Gegensatz zu den im Ausland lebenden Österreicherinnen und Österreichern, die von der Regierung aufgerufen werden, nun, in dieser Krise, nach Hause zurückzukehren!

 

Mein bald vier Monate altes Baby scheint munter zu sein, ich schlüpfe kurz ins Schlafzimmer, hebe es in die Trage, schreite ein paar Kilometer in der Wohnung ab, frage es, was es eigentlich von Homeoffice halte. Es scheint sich nicht für meine Frage zu interessieren, schläft ein. Um es nicht wieder aufzuwecken, nehme ich in Zeitlupentempo am Schreibtisch Platz. Der Stuhl knarzt. Das Baby seufzt, dann Stille. Vorsichtig lehne ich mich zurück, lege die Finger auf die Tastatur. Plötzlich fährt der Kopf meines Stiefsohnes in die Höhe, er murmelt etwas vom Satz des Pythagoras; sein Kopf legt sich daraufhin, als wäre fürs Erste das Wichtigste gesagt, nieder auf den Polster. Homeschooling, frage ich, was er davon halte. Ich wiederhole die Frage. Er antwortet nicht, beginnt leise zu schnarchen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, es ist halb sieben. Gut so, sage ich mir. Endlich können die Kinder nach ihrer eigenen Uhr leben und nicht nach der der Gesellschaft. (Alle Eltern wissen, dass der Schulbeginn um acht Uhr ein kompletter Schwachsinn ist, übrigens auch die Neurologinnen und Neurologen – aber wir bleiben dabei, weil so mach ma das halt, so hammas immer g´macht und aus uns is a wos gwordn, nit wohr?)

          Homeschooling – auch wieder so ein Wort, das ultramodern rüberkommen soll, in Wahrheit aber, na ja, höchstens suboptimal umzusetzen ist. Bei den Lehrerinnen und Lehrern scheint noch keine Vernetzung stattgefunden zu haben. Die einen schicken Aufgaben per Mail, die anderen schreiben sie ins sogenannte digitale Klassenbuch, die einen benützen diese Plattform, die anderen jene, die dann aber wegen der vielen gleichzeitigen Zugriffe überlastet ist und nicht reagiert, sich immerfort aufhängt. Eine Lehrerin schreibt, dass sie die Arbeitsblätter bitte nicht mit dem Handy fotografiert haben will, sondern unbedingt als Scan benötigt. Wie kann sie davon ausgehen, dass jede Familie einen Scanner zuhause rumstehen hat? Laptop oder Computer soll (muss?) ohnehin jedes Kind schon besitzen, sonst ginge überhaupt nichts. Ach, eine schnelle Internet Verbindung wäre fein. Und, wenn´s kein größeres Problem darstellt, dann vielleicht noch ein Headset, falls doch mal eine Unterrichtsstunde gestreamt wird. Dass davon ausgegangen wird, dass sich jede Familie diese Geräte leisten kann, finde ich überheblich. Ebenso, dass wir, als Eltern, plötzlich Lehrer und Eltern zur selben Zeit sein sollen.

Manche Lehrerinnen und Lehrer schicken gleich gar nichts: Warum bittet der Turnlehrer die Kinder nicht, bestimmte Übungen für zu Hause zu machen, als Lockerungsübungen für zwischendurch? Er hat sich tatsächlich kein einziges Mal gemeldet, scheint untergetaucht zu sein. Warum schickt die Deutschlehrerin keine Liste raus mit zeitgenössischen Büchern, die zu lesen wären? Wann, wenn nicht jetzt? Vielleicht, weil es zu viel Arbeit wäre, sich mit einem neuen Buch auseinanderzusetzen? Hauptsache Sturm und Drang hätten sie zum x-ten Mal durchgekaut! (Ja, die Herren Goethe und Schiller, ihr seid eh sehr sehr SEHR wichtig und werdet es auch bleiben, aber ihr wart bestimmt froh, dass ihr zu Lebzeiten rezipiert wurdet, um überleben zu können, nicht?) Wieso verschickt die Biologielehrerin kein Infomaterial über Viren – zum Beispiel im Unterschied zu Bakterien – an die Schülerinnen und Schüler? Es wäre doch eine unglaublich große Chance, dieses Thema aufzugreifen. Warum schickt der Musiklehrer nicht Youtube-Videos von The Knack mit My Sharona und allen dazugehörigen My Corona Coverversionen raus, um die Kinder, nach erfolgreich hochgeladenem Arbeitsblatt über die Renaissancemusik, dem Madrigal und der Viola da gamba, zwischendurch einfach einmal aufzuheitern? Wieso verteilt die Geografielehrerin kein Infomaterial zur derzeitigen Wirtschaftslage an die Kinder? Weshalb empfiehlt der Geschichtelehrer nicht eine interessante Online-Doku über Pandemien, über die spanische Grippe? Weil das ja genau genommen zu Biologie gehöre und nicht zu Geschichte? Echt jetzt? Ist es vom Lehrpersonal zu viel verlangt, Bezüge zur Gegenwart herzustellen? Ist das nicht eigentlich ihre Aufgabe, ihre Pflicht? Geht halt nicht, weil sie nichts Neues durchnehmen dürfen. Weil Camus’ Die Pest heuer leider nicht im Lehrplan steht. Tut das Lehrpersonal absichtlich so, als würden wir im Moment nicht unter einer weltweiten Krise, unter einer absoluten Ausnahmesituation leiden? Würde es einen verpflichtenden Ethikunterricht (für ALLE) geben, könnten auch die psychischen Herausforderungen und philosophischen Implikationen diskutiert werden. Aber ich vergaß: Es stünde nicht im Lehrplan. Am besten also Augen zu und irgendwie durchwurschteln!

 

Das Baby erwacht abermals, schaut mich mit großen Augen an und fragt mich, was es dann sei, wenn es kein Krieg sei? Ganz einfach, erkläre ich ihm: Die Grausamkeit der Natur habe zugeschlagen. Ich korrigiere mich: Die Natur habe zugeschlagen, ohne Grausamkeit. Ich korrigiere mich abermals: Die Natur, sage ich, und füge hinzu, nur die Natur, mehr nicht. Sie schlage nicht zu, sie sei da, umgebe uns und sei in uns. Es selbst sei auch ein Teil davon, sage ich dem Baby. Das Baby nickt. Es ist ein guter Zuhörer. Es fragt, ob Viren auch etwas Gutes bewirken können. Viren seien weder gut noch böse, erkläre ich, aber ja, ich verstehe, was es meine: Viren können Krebszellen töten, sie sorgen für Artenvielfalt und für ein ökologisches Gleichgewicht in den Ozeanen, die Viren der Bakterien unserer Darmflora beeinflussen auch unser Immunsystem, sie waren ein wichtiger Faktor in der menschlichen Evolution. Falls es sich näher dafür interessiere, sage ich dem Baby, könne es sich gerne im Internet darüber informieren, freilich nur als ersten Anknüpfungspunkt, um dann zur Vertiefung die wissenschaftlichen Beiträge in den Zeitungen und einschlägigen Zeitschriften zu lesen. Das Baby sagt: cool. Es schläft weiter.

Ich huste. Oma fragt mich sogleich, ob er trocken sei, der Husten. Ich sage, er sei feucht, meines Erachtens extrem feucht (er ist trocken), außerdem hätte ich mich nur verschluckt. Panik steigt in mir hoch. Es erinnert mich an die ersten Tage im Lockdown. Nun endlich ein Wort, das im Englischen bedrohlicher klingt als das schale Ausgangssperre im Deutschen, aber vermutlich nur deshalb, weil mich der Klang an dystopische Weltuntergangsfilme erinnern lässt. Es wird, denke ich, wegen der trockenen Luft sein, sage ich meiner Oma. Das habe die Erna von der Schattenseite drüben auch gemeint, ich kenne sie doch? Aber ja, sage ich, die gute alte Erna (wer zur Hölle ist Erna?). Sie habe anfangs jedenfalls auch Ausreden parat gehabt, meint Oma, doch nun liege sie im Krankenhaus. Gott möge sie beschützen, fügt sie hinzu. Ob ich das richtig verstanden hätte, frage ich: Gott habe uns zuerst alle absichtlich bestraft, und nun soll er die Erna vor seiner eigenen Strafe beschützen? Lange höre ich nur Omas Schnaufen durch den Hörer. Ich verstehe das halt nicht, sagt sie schließlich und legt nach einer kurzen Entschuldigung auf. Ich werde sie später zurückrufen und fragen, wie ihr der Osterreindling diesmal gelungen sei und ob sie mir nicht ein Stück, das übriggeblieben sei, per Post nach Wien schicken wolle. Das wird sie bestimmt aufheitern. (Sie wird mir keinen halben Reindling schicken, sie wird für mich extra einen neuen backen, was auch meinen Magen aufheitern dürfte.)

Ich öffne die Jalousien, dann die Fenster. Mein Stiefsohn erwacht durch die schräg hereinfallenden Sonnenstrahlen und wirft mit einem Ruck die Decke zurück. Er habe von der Schule geträumt, murmelt er. Seine Freunde, er vermisse sie. Ich öffne den Mund, um ihm Trost zu spenden. Plötzlich schreit das Baby, es will trinken. SOFORT! Zeitgleich trippelt mein Zweijähriger – wie sehr ich dieses Geräusch liebe! – mit einem (leider vergriffenen) Erwin Moser Buch in seinen kleinen Händen ins Zimmer und ruft bestimmt: lesen! Okay, okay. Einatmen. Ausatmen. Ich huste abermals, diesmal bewusst in die Armbeuge. Ich glaube, es wird bloß wegen der trockenen Luft gewesen sein. Oder? Oma würde wohl sagen: Wenn du unbedingt glauben willst, ruf Gott an, aber in diesem konkreten Fall dann doch lieber die 1450!

 

 


Norbert Kröll, geb. 1981 in Villach (Österreich), lebt und arbeitet in Wien.

Sprachkunst Studium an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Mitherausgeber des Literaturmagazins JENNY #2 (De Gruyter). Arbeits- und Reisestipendien des Kunstministeriums. Wiener Literatur Stipendium 2016. Forum Land Literaturpreis 2017. Jubiläumsfonds-Stipendiat der Literar-Mechana 2018. Förderpreis für Literatur des Landes Kärnten 2018. Dritter Preis beim Feldkircher Lyrikpreis 2019. Wiener Literatur Stipendium 2020.

Veröffentlichungen in Literatur-Zeitschriften und Anthologien (LICHTUNGEN, Die Rampe, etcetera, DUM, …). Der Debüt-Roman Sanfter Asphalt erschien 2017 im Löcker Verlag. Der Roman Wer wir wären erschien im März 2020 bei Edition Atelier.
http://www.norbertkroell.net/


Neuerscheinung:

Norbert Kröll: Wer wir wären (Roman)
Edition Atelier, März 2020
296 Seiten
ISBN: 978-3-9906502-6-4

Mladen Savić: Ankunft

I bin a Weana Bazi, sprich, ich bin Wiener, mit allen mir missfallenden Eigenschaften und Stereotypen: im Tonfall teils weinerlich und auch ein bisschen unangenehm, kurz, einer vom „Wasserkopf“, wie man leicht verächtlich in den Bundesländern sagt, mitunter in Kärnten, seit Monarchiezeiten, schon ein Weilchen. Das sprachliche Bild vom geistig Behinderten ist keinesfalls Zufall, wenn man, anstatt dem Volk nur aufs Maul zu schauen, nuancierter hinhorcht und auf dessen Wortwahl hört: Die freilich fremde, ferne Hauptstadt nennt man immer noch einen Wasserkopf, während man in Wirklichkeit, bewusst oder unbewusst, die Kopflosigkeit des Machtzentrums meint, die zentralistische Blindheit für heimische Sorgen, die unausweichliche Fremdheit jeder Verwaltung, gepackt in einen brauchbaren Begriff. Dies ist die unausgesprochene Quintessenz jener Sprechweise und sei darum den lieben Leuten in der Provinz verziehen, denn die Wendung hat bestimmt ihre Gründe – sonst gäbe es sie vermutlich nicht. Sogar die Wiener selbst verwenden den Begriff „Bazi“ zur Selbsterklärung, und selbige bedeutet, bei allem Bedauern, nichts Anderes als Wichtigtuer, Angeber, Großmaul. So ist es auch.

Wie gesagt, ich komme aus der einstigen Kaiserstadt, einem politischen Operettenort stetig abnehmenden Glanzes, aus dem nunmehr nur mehr blass roten Wien, übrigens meinem persönlichen Moloch, den ich wegen seiner polizeilichen Alltagsmentalität, seines gängigen Grants und seiner ebenso ungemütlichen wie stolz gepflegten Übellaunigkeit nicht durchwegs schätzen kann – aus einer geschichtlich reichen und seelisch doch verarmten Stadt demnach, deren erstes und letztes Opfer, lapidar gesprochen, die Lust und Lebensfreude sind. I sog a so, wie es in Kärnten heißt, das behaupte ich einmal, frei weg von der Leber. Die Bundesgeisterhauptstadt Wien … Ihre angebliche Gemütlichkeit, zweifellos ein Ruf, viel rosiger als die Realität, hat bereits Hermann Bahr in Abrede gestellt durch die treffende Bemerkung: „Man lebt in halber Poesie, gefährlich für die ganze.“ Nun bin ich ja in Klagenfurt angekommen, in Celovec, wie der ursprünglich slawische Name lautet, umringt von markanten Bergen mit Schneespitzen und allerlei pittoresken Seen. Und es gibt Unmengen an Wald, allem voran Fichtenforste, wie ich mir habe sagen lassen. Dass der Stadtname, eigentlich eine deutsche Lehnübersetzung, sich aus dem slowenischen „Cviljovec“ ableite, was Ort der Klagen heißt, hat entweder mit Jahrhunderten feudaler Germanisierung zu tun, wie auch anzunehmen ist, oder mit einem sprachlichen Streich der Geschichte, der von da nach dort seine eigenen etymologischen Wanderungen unternimmt.

Die Passanten jedenfalls lächeln hier öfter, ungezwungener und insgesamt mehr. Zumindest blicken sie nicht großstädtisch-atomisiert drein, als wäre ein jeder Vorbeispazierende ihr Feind schlechthin. Das gefällt mir, versteht sich. Vielleicht verbirgt meine Einschätzung sich in der Natur der Dinge, aber so genau will ich das Ganze gar nicht beurteilen. Der Süden liegt in jeder Hinsicht näher als in Wien, nicht nur botanisch, sondern auch lebensweltlich, wenngleich dort daheim „hinterm Ring“ der Balkan oder überhaupt, in Metternichs klassistischem Obrigkeitsjargon, gleich Asien beginnen würde. Irgendwie, und es hat gewiss auch mit dem Ortswechsel zu tun, atme ich freier seit meiner Ankunft – trotz Ausnahmezustand und Staatsquarantäne. Als Schriftsteller, in meinem Fall ein Euphemismus für Stubenhocker, bin ich das Sitzen im trauten Heim größtenteils gewohnt, wobei ich für gewöhnlich nicht die Virusepidemien aussitze, sondern lähmende Phasen einer lavierten Depression. Aber das macht nichts, um ehrlich zu sein, schließlich ist der depressive Grundtenor bewiesenermaßen der Preis für ein realistischeres Weltbild – und ein recht kleiner Preis obendrein, viel kleiner als bei dem vom Göttertrunk naschenden Narren, den so mancher Poet zeitweise um seine Inspiration beneiden könnte.

 

Langer Rede kurzer Sinn, ich fühle mich in meiner neuen Bleibe beileibe wohl. Sogar die Sonnenstrahlen wirken auf mich sonniger und das morgendliche Vogelgezwitscher im verwunschenen Garten hinter dem Gebäude klangvoller, deutlicher und sowieso überwältigend. Manchmal kommt mir vor, als hätte ich es über die Jahre, Rückschläge und Gebrechen verlernt, mich nervlich zu sammeln und ab und zu einzuhalten, um den Singvögeln zu lauschen und mich an ihrer Tonpracht zu ergötzen, unversiegbar wie sie ist. Da denke ich mir dann, das vollends urbane Milieu stelle in seiner Zubetonierung eine in hartes Grau gegossene Irrung dar, einen Holzweg ohne Holz, ein dumpfes Dasein ohne Baum und Strauch, ohne Blätterrascheln, Ästeknarren, Tierlaut oder natürlichen Klang: eine Art geometrischer, grau melierter Wüste, welche sich als zivilisatorische Ordnung gebärdet. Getrübter Sinne, man bedenke doch bloß, bleibt einem Stadtkind wenig übrig, als diese mit starken Reizen nachzuwürzen, meinetwegen, mit künstlichen aus der Unterhaltungsindustrie. Dahingehend funktioniert die digitale Revolution ja. Indes, ich habe vorerst genügend Zeit, um mir die Pflänzchen und Gebüsche nebenan einmal einzeln anzusehen. Wenn man sich Beobachtungen widmet, finde ich, entdeckt man immer etwas, und es ist meistens eine lohnende Erfahrung. Mein täglicher Blick aus dem Fenster ist wuchernde, halbwilde Natur – der reinste Luxus gewissermaßen.

Ein irischer Jugendfreund und krasser Kulturfeind hat mir beizeiten einmal gesagt, warum er die Commonwealth-Kultur unterm Strich nicht mag, nämlich, weil er allein schon aus ästhetischen Erwägungen heraus den englischen Brauch hasse, eine bunte Blumenwiese prompt niederzumähen, um hernach eine einzige Blumensorte einfarbig im Quadrat einzupflanzen. Obwohl ich das Kultivieren der Erde gänzlich anders deute als er, denn Blumenbeete sind weder vorab hässlich noch eine sonderlich britannische Spezialität, hat mich seine national paranoische, aber pointierte Aussage seither nicht mehr völlig losgelassen. Ihr kritischer Kerngedanke hat sich in mir eingenistet. Worte gleichen unsichtbaren Widerhaken, die sich wie Flunkenanker gedanklich in die Seele graben. Auch den Wald, in welchen ich – was weiß ich, warum! – nahezu nie gehe, liebe ich. Ein Stück Natur im unmittelbaren Lebensraum und um ihn herum bedeutet auf Dauer so einiges für die geistige Gesundheit, das innere Wohlbefinden, den gesamten menschlichen Wahrnehmungsapparat. Darum besitzen Villenviertel in der Regel viel Grün, viele Gärten und freie Räume, im Gegensatz zu den modernen Betonzinshäusern, den Arbeiterlegebatterien ohne blumige Flächen, saftige Wiesen und schattenspendende Baumkronen. Margareten, das Grätzl, wo ich aufgewachsen bin, und der einzige Wiener Innenbezirk, der nicht an den Ersten grenzt, wo das betuchte Moralgesindel weilt, kann als billige Betonwüste ein Liedchen davon singen. Weg aus Wien, wie froh ich darüber bin!

Sicherlich wäre es leichter, statt einer Beschreibung in kunstvollen Worten einfach eine Fotografie hinzustellen, ins Netz oder auf eine Buchseite, um einen wirklichkeitsgetreuen Eindruck davon zu vermitteln, was mich an diesem neuen Örtchen umgibt. Ich selbst, aufgewachsen mit Fernseher und Mauern vor der Nase, Städter durch und durch, habe zeitlebens beim Lesen von Romanen immer nur darauf gewartet, dass die allzu literarischen Landschaftsbeschreibungen, bitte, endlich aufhören, spätestens auf der nächsten Seite … Ob es an meiner mangelnden Vorstellungskraft oder meiner Ungeduld gelegen ist, weiß ich nicht. Hingegen, auch eine lautere, bildkräftige Umschreibung in naturalistischer Perfektion würde ihrerseits nur ein Stimmungsbild liefern, getunkt in des Schriftstellers subjektive Feder. So auch hier und jetzt: Die Lage meiner von „For Forest“ zur Verfügung gestellten Wohnung ist in jeder Hinsicht zentral, sodass ich zu Fuß in Minutennähe entfernt von der Innenstadt und dem Bahnhof residiere – und allen anderen Kammern, Ämtern und Kasernen, die sich ebenfalls in Reichweite befinden. Residenz trifft es begrifflich am besten. Die Wohnung ist geräumig, mit riesigen Flügelfenstern und Parkettböden ausgestattet, die Räume sind asymmetrisch, praktisch angelegt und insgesamt sehr hell. Anders als in meiner Wiener Wohnzelle, kann ich mehr als die mir bekannten zwei, drei Schritte in einer Richtung gehen, ohne sofort anzustoßen, und der Selbstbedienungsladen liegt zum Glück in Sichtweite.

Die Zufahrt vors Haus ist nicht hürdenlos gewesen. Am Viktringer Ring muss man mit dem Automobil ein Stückchen weiter fahren, ehe man einbiegen kann, und muss dann, was die Hürde wiederum läppisch erscheinen lässt, ungefähr hundert Meter zurück rollen. Das grüne, eiserne Tor öffnet per Fernbedienung und Automatik, und zwar langsam wie in einem Spielfilm, als würde die bedeutsame nächste Szene damit angekündigt werden. Der Fahrweg nimmt gleich daneben, vor einem slowenisch-katholischen Nonnenwohnheim ein Ende; von dort geht es nicht mehr weiter. Rechts des besagten filmischen Tors erhebt sich die For-Forest-Villa, in sich ruhend wie ein Sommerwohnsitz verarmten Landadels, ein erst auf den zweiten Blick prachtvolles Landhaus samt sympathischem Wildgarten, groß genug zum Ballspielen, und einem sich selbst überlassenen Miniaturacker. Das Hauptgebäude, unter Umständen französischer Klassizismus, zweifellos aber provenzalisch in der Bauart, ragt selbstbewusst, aber unaufdringlich vor der Zufahrt in die Höhe und wird von einem nach allen vier Seiten hin abfallenden Dach friedlich zusammengehalten. Ein paar Schritte weiter noch entlang eines asphaltierten Wegs sind es bis zum einstigen Dienstbotenhäuschen, wie ich annehme, einem kleineren Gebäude gleicher, untertriebener Schlichtheit, das über drei Wohneinheiten verfügt, eine unten und zwei oben, über geräumige Zimmer, wie gesagt, und gönnerhaft große Fenster.

Schnell habe ich es mir einigermaßen kommod eingerichtet: ein süßes Detail hier, ein anderes Detail da, meine Lieblingsschirmlampe aufgestellt, Kuscheldecke aufs Bett, ein paar Jugendstil-Bilder auf die Wände, Küchenzeile eingerichtet, Geschirr eingeräumt, Regale aufgebaut, sogar den passenden Platz für meine Palme gefunden. Nach nur wenigen Tagen genüsslichen Kochens, entspannten Lesens und Flanierens, fröhlicher Begegnungen und erfrischender, intellektueller Bekanntschaften jedoch – der völlige Stillstand nahezu allen gesellschaftlichen Lebens. Scheiß Corona! Die Universitäten, die Schulen, die Kaffeehäuser, Restaurants und sonstigen Geschäfte schließen mehr oder minder über Nacht. Die staatlich verordnete soziale Isolation, situativer Wunschtraum aller seelischen Blockwarte, die mittlerweile im Namen einer übergeordneten Vernunft nach noch mehr Strenge rufen, bricht herein mit der Wucht einer Naturgewalt. Plötzlich fühle ich mich gestrandet, aber auch zum ersten Mal seit Jahren wirklich ausgeschlafen.

Das Einzige, das mir in einer solchen Lage bleibt, abgesehen von „Stay-the-fuck-home“-Botschaften aus dem Internet, telefonischen Lamentos aus dem engeren Freundeskreis und der als solidarisch empfundenen Blitzfaschisierung der Gesellschaft aus den Nachrichten, ist die von alledem weitgehend unberührte Naturschönheit, die es für mich noch zu entdecken gilt. Unter Umständen ist Unberührtheit, wenn ich es mir genauer überlege, der falsche Ausdruck, denn die Natur erholt sich mit jedem Tag, da die Wirtschaft sie nicht vergewaltigt, mehr und mehr. Der Markt betrachtet allen Ernstes nämlich die Erde, aus der wir Wasser holen, Öl pumpen, Erze graben und Nahrung ziehen, als Endlosressource, doch wir alle wissen, es stimmt nicht.

Als ich unlängst mit dem Fahrrad bis zum Vrbsko Jezero, dem Wörthersee, gefahren bin, habe ich links des Badestrands und seiner längst geräumten Kais eine meditative Nische entdeckt: eine verborgene Kleinbucht mit rustikalem Holzbänkchen, ins Wasser hängenden Bäumen und Zweigen, Wurzelwerk auf Schritt und Tritt und lauter Schilf entlang des Ufers. Da fängt, wie ich auf einer Tafel gelesen habe, das Europa-Schutzgebiet Lendspitz-Maiernigg an, Zufluchtsort für eine Unzahl heimischer Arten, von Pfeifengraswiesen über bauchige Windelschnecken bis zu Tüpfelsumpfhühnern. Dort in der verschlagenen Bucht habe ich mich hingesetzt und seit Langem wieder einmal gezeichnet, was sich so selbstlos üppig, wie nur die Natur sein kann, meinem Auge dargeboten hat.

 

Kommentar von Gernot Waldner

1) Der Text beginnt damit, dass sich der Erzähler / Sprecher als Wiener deklariert. Den restlichen Text verbringt er damit, die negativen Behauptungen über Wien (und damit auch über ihn als Wiener) nicht zu erfüllen: der Text ist schön geschrieben und liest sich gut, obwohl man zu Beginn vor seinem Verfasser gewarnt wurde. Zwei gegensätzliche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus:

– Niemand weiß, wie Wien eigentlich ist und Wiener gibt es vielleicht gar nicht, aber die Aufrechterhaltung des Glaubens daran, hat etwas fröhlich-tröstliches für die Provinz, wie ein graues Schauermärchen, das einem nie träumen wird müssen;

– Kärnten hat den Verfasser dermaßen verändert, dass er plötzlich solche Texte schreibt. Welche Texte er davor schrieb – in Wien! – sollte unbedingt durch den Erwerb seiner Bücher überprüft werden, um die Größe dieses Projekts in Ansätzen zu begreifen.

 

2) Der Text besticht durchgehend dadurch, dass er charmant ist, man über alle Phänomene irgendwie mehr erfährt, als über sie gesagt werden kann. Hannah Arendt definiert „Charme“ so, dass er in einer kapitalistischen Welt das ist, was über das vertraglich Vereinbarte hinausgeht. Charme ist, in unser Vokabular gefasst, eine Form von Trinkgeld, mit der man nicht gerechnet hat. Inhaltlich spiegelt sich dieser Charme im Text auf zwei Ebenen:

– die Ankunft des Autors ist die neue Zugabe für die Villa For Forest, sozusagen ein charmanter Vorgang, mit dem so nicht zu rechnen war;

– Mehrere Stellen machen deutlich, dass Literatur / Essayistik oft darin besteht, nur eine Zugabe zu sein, da ihr grundlegende Verträge fehlen, die sie zu mehr als einem Überschuss machen könnten; Ob das nur zum Nachteil der Literatur ist, weiß ich nicht, aber die besagte Ambivalenz scheint wichtig zu sein.

 

3) Das Verhältnis zur Natur deckt bisher, abgesehen von marxistischen Einwürfen, die Romantik und die Naturforschung des 19. Jahrhunderts: man liebt den Wald, man war fast noch nie dort. Man kann Pflanzen und Vögel beim Namen nennen. Wie literarische Romantik und klassifizierende Naturforschung enden, ist historisch bekannt, ob sich das Verhältnis zur Natur in den folgenden Texten des author@musil noch mehr der Gegenwart nähert, werden wir lesen.

 

 


FOR FOREST-Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 1:

 

 

Otmar Stark – Sehnsucht.

Otmar Stark

Sehnsucht

 

Tagebucheintrag am 21.02.1980

Gestern ging wieder ein Tag zu Ende, der mir gezeigt hat, wie schön das Leben wäre, wenn es keine Sehnsucht gäbe. Der Ausflug, den wir mit der Dorfgemeinschaft Radweg machten, gab mir die Gewissheit, dass der Brand, bei dem ich glaubte, er wird verlöschen, nie mehr aufhören wird zu lodern. Immer wird eine Freude in mir ungeteilt bleiben. Als ich oben am Pyramidenkogel stand und ergreifend über die schöne Heimat blickte, träumend der gottbegnadeten Stille lauschte, schob sich ein Bild vor meine Augen, welches ich nicht imstande bin aus meinem Herzen zu verbannen. Und später die Fahrt auf den Loiblpass. Die herrliche Gebirgswelt Kärntens, die erhabene Schönheit der Berge, das ewige Brausen des Windes, welcher über die Grate und Gipfel rauscht. Alles ist dazu angetan, um die Sehnsucht wieder wach werden zu lassen um Verlorenes, welches man einmal besaß, als Glück zu betiteln. Ja, all die Schönheit der Natur kann die Freude niemals ganz voll machen. Solche Schönheiten kann man nur mit einem Menschen, mit dem man von ganzem Herzen gut ist, erleben. Denn bei einem alleinigen sich freuen, bleibt trotzdem immer die Sehnsucht, solch Herrlichkeiten auch mit einem geliebten Menschen zu erleben, um richtig froh zu werden.

Ja es stimmt, äußerlich habe ich mich nicht über das Alleinsein zu beklagen. Immer wieder klang es in mir und ich sagte mir. Otmar, schau wie herrlich und schön alles ist.  Es sieht mir auch keiner an, dass ich nicht immer bei der Sache war. Ich habe gelernt mein Äußeres zu beherrschen. Nur einer merkt, dass alles nur Komödie ist, um einen tiefen Schmerz zu verbergen. Ja, Schorsch, du hast recht, wenn mein Mund auch anders spricht. Aber solch eine Liebe kann man nicht von Heut auf Morgen wie ein Stück Wäsche wechseln. Dazu gehört Zeit, wenn es überhaupt möglich ist. Bis jetzt ist mein Gefühl für sie so intensiv, wenn nicht noch stärker, dasselbe geblieben. Der letzte Brief, den sie mir als Kameradin schrieb, zeigte mir, dass es auch ihr nicht leicht ist, um das Gewesene zu vergessen. Drum will ich warten und rein bleiben, vielleicht wird meine Treue einmal belohnt. Seit damals, als ich ein unschuldiges Mädel in Liebe erweckte, habe ich mit keiner mehr etwas gehabt. Bis auf ein paar……! Die aber immer mit harmlosen Küssen…..! Ich weiß auch, das soll ich nicht machen, aber der Kussteufel und das Spiel mit der Liebe hält mich noch immer in seinen Krallen. Eigentlich bin ich jetzt ja frei und kann machen was ich will, aber eine innere Stimme befiehlt mir. Bleibe treu, du wirst belohnt werden. Ich will auf sie horchen, sie hat mich noch nie betrogen!