Mladen Savić: Erinnerungen an morgen

Als ich noch ein Kind gewesen bin, ein wenig Traummännlein und allmählich an die Schultasche gewöhnt, hat mich eines Tages ein Albtraum aus dem Schlaf gerissen und wörtlich in den Schweiß getrieben, und ich habe ihn seines Gefühls halber nie vergessen: Nach dem Pflücken einer frischen Feige öffne ich das Gartentor und hopse, den Meeresgeruch in der Nase, bergab zum Strand, um nach ein paar Schritten übergangslos im Wiener Waldmüller-Park zu landen, vor einer vereinsamten Pagode gleich am Straßenrand, gegenüber einer zinnoberroten Ziegelmauer … als mir plötzlich auffällt, dass meine Feige weg ist und ich währenddessen keine Fliege und keinen Vogel bemerkt habe, keine Grille, keinen Käfer, weder Hund noch Eichhörnchen, nicht einmal einen Moskito. Ich blicke mich um, ich lausche, aber – vergebens. Alles tierische Leben ist verschwunden, scheint es. An diesem Punkt befällt mich Panik. Es fühlt sich, obwohl ich von da und dort menschliche Stimmen höre, geradezu gespenstisch an. Da torkelt ein Greis wie eine auf Fäden hängende Puppe auf mich zu, starrt versteinert und spricht, ohne zu sprechen, meine schlimmste Befürchtung aus: „Es gibt nur noch uns!“

Im Nachhinein neige ich dazu, den Stoff des Traums für kaum kindlich und recht abstrakt zu halten, doch das mag inhaltliche Nachdichtung sein oder ein Deutungsüberschuss. Jedenfalls bin ich damals jäh aufgewacht und auf unbestimmte Weise betroffen dagelegen, in Sorge darüber, dass wir Menschen uns in diese Richtung bewegen könnten, weiß Gott oder der Teufel warum. Immer noch erinnere ich mich, wie langsam nur die Enge in der Brust nachgelassen und wie lange es insgesamt gedauert hat, das Ziehen, die Beklemmung, der Schreck. Woher diese urige Angst des Augenblicks? Gottes Ebenbild ganz unter sich! Innerlich und für mich – eine Horrorvision, bis heute. Mit Sicherheit weiß ich noch, dass das Ganze ungefähr in die Zeit gefallen ist, als an der dalmatinischen Küste der Seeigel seltener und am Südpol das Ozonloch größer geworden ist. Eines habe ich in der Familie, das andere in der Schule erfahren. Und die österreichischen Grünen haben sich gerade gegründet, in Klagenfurt übrigens, wie ich unlängst nachgelesen habe.

Die Vorstellung nun, dass die Menschheit alles tilgt, ausnahmslos nämlich, ist unvorstellbar, gleich aus mehreren Gründen, von denen einer eindeutig ihr Ende wäre. Der phylogenetische Stammbaum, gelegentlich Baum des Lebens genannt, weist nicht allein auf die Allverwandtschaft aller Lebewesen hin, sondern auch auf deren gegenseitige Abhängigkeit, wobei zum Überleben bekanntlich die höheren Lebewesen von den niedrigeren mehr abhängen als umgekehrt. Mag die Kirche noch so sehr an ihrer „Krone der Schöpfung“ festhalten – sie irrt, auch wenn es womöglich gut gemeint gewesen ist. Ich selbst finde nicht minder, der Mensch sei das Höchste, Wertvollste und Schönste. Wiederum, wir alle müssen lernen, Wechselwirkungen denken zu können, Folgewirkungen, Zusammenhänge. Sonst wird es nicht besser.

Gleichzeitig drückt jene Albvorstellung meiner Kindheit, das Bildnis einer verstümmelten Mutter Natur ohne Getier, in ihrer Überzeichnung eine tatsächliche Tendenz aus, die als Anlage im Menschen enthalten ist. Wir töten ja Tiere, und ich sage das nicht, weil ich gerne Vegetarier wäre. Es ist kniffliger: Wir töten Pflanzen, Tiere, Menschen, Habitate, einfach alles. Der Tötungsdrang ist uns evolutionär eingeschrieben, aber kulturell nicht austariert, geschweige denn überwunden. Macht steht über Logik, die Gewalt der Gegebenheiten weiterhin über der Stimme des Verstands. Wir sind wirklich imstande, uns selbst auszulöschen, als Gattung ganz und gar, sei es durch Atomwaffen, sei es durch die Übersäuerung der Meere oder die Rodung der tropischen Lungenflügel der Erde. Trivial ist meist nur der Umgang damit. Doch darin hat die Angst meines sonderbaren Traums, bis zu seiner Bedeutung destilliert, ihren Anteil an der Wirklichkeit, welche noch weit sonderbarer sein muss, wenn sie solch eine Absurdität zulässt.

Schon der Begriff des Lebensraums vermittelt sprachlich, dass es sich eben um Raum handle, also um begrenztes Gut, wo gelebt wird und Leben möglich sein soll. Das Wort erklärt sich eigentlich von selbst. Das Konzept davon hinkt hingegen irgendwie hinterher. (Tief gefehlt, haben die Nazis es überhaupt gleich in eine Todeszone verwandelt …) Die Umweltzerstörung zeigt, zumindest neben der nicht-artgerechten Haltung der Menschheit, diesen unsäglichen Umstand an seiner natürlichen Grenze auf, wo Raum zum Leben über kurz oder lang wegfällt oder zur Falle wird, und auch dann, wenn sich hin und wieder die zerstörerische Kraft der Natur entfesselt, etwa in Form von Katastrophen bar unserer Kontrolle.

Vor dem Eintritt ins Gymnasium, und das ist seinerseits über dreißig Jahre her, bin ich thematisch erstmals dem Treibhauseffekt und der Polkappenschmelze über den Weg gelaufen. Ich weiß noch, was dies an kindlicher Erschütterung in mir ausgelöst hat. Der Anstieg des Meeresspiegels hat mich innig beschäftigt, allem voran als Schicksal der Welt, die ich kenne: Häuser, Straßen, Parks und Plätze – unter Wasser. Und die vielen Menschen? Eines Abends habe ich eine Drahtspule und Klebeband aus der Werkzeugkiste sowie Tassen und Trinkgläser aus der Küche mit ins Badezimmer genommen. Mein Meisterplan hat darin bestanden, ein Gerüst zu basteln, welches die Gläser nebeneinander halten würde, wenn ich sie, jeweils gefüllt mit Wasser, kopfüber aus der vollen Wanne hochhebe, bis zum Rand und nicht darüber, wodurch der Wasserspiegel wieder sinkt. Meiner hereingeplatzten, mitunter belustigten Frau Maman, die Teile ihres Geschirrs vermisst hat, habe ich daraufhin mit kolossalem Ernst aus der Badewanne heraus zu erklären versucht, dass wir auf dem offenen Meer riesige Wasserspeicher bauen könnten, um das Ärgste zu verhindern und Holland, wo die bunten Blumen herkommen, vor der Flutung zu retten. Was die Erderwärmung betrifft, bin ich völlig planlos gewesen, und das Ausnahmeklima, das ich niemals habe erleben wollen, gehört mittlerweile zur neuen Normalität wie das Bienensterben samt Dürren, Bränden, Plagen und weißen, touristischen Kunstschneestreifen auf grünen, schneelosen Alpengipfeln.

Mein Verständnis von Katastrophe, muss ich anmerken, ist alles andere als altgriechisch gewesen – das katastrophale Ereignis: nicht als entscheidender Wendepunkt in einem Drama, sondern als Schauder vor der Sinnlosigkeit so einer einseitigen Endlichkeit, vor dem unnötigen Verlust von gemeinsamem Lebensraum, vor der fehlenden Lebensbejahung als solcher. Schließlich kann es auch anders sein, habe ich mir als Kind gedacht. Zu meiner Verteidigung muss ich dazusagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt meiner Entwicklung wenig geahnt habe von der Allmacht selbstverstärkender Idiotie in Politik und Ökonomie. Das Richtige würde sich schon durchsetzen, hat meine naive Hoffnung mir nahegelegt: Man müsste es den Politikern nur verraten und erzählen, es ihnen sagen. Ist das nicht süß? Das ökologische Bewusstsein ist seither gewachsen.

Die Menschen müssten „aufhören, nach den Maximen der Vergangenheit zu leben“, sagt Isaac Asimov 1971 in einem Essay über unseren sterbenden Planeten: „Sie haben im Verlaufe ihrer Geschichte einen Verhaltensstil entwickelt, der einer leeren Erde und einer kurzen Lebenserwartung angemessen ist. In einer solchen Welt war es geboten, viele Kinder zu haben, einen Zuwachs an Menschen und Macht anzustreben, in den endlosen Raum vorzudringen und sich für einen begrenzten Teil der Menschheit einzusetzen. All das kann heute nicht mehr gelten.“

Wenn ich jetzt die Plakate und Aussagen der jugendlichen Demonstranten betrachte, bemerke ich, dass der nächste Reifegrad längst erreicht ist und die Naivität meiner Tage sich in der Jugend verflüchtigt hat unter dem zynischen Gegenwind der Profiteure und Umweltsünder. Einerseits freut es mich, andererseits nicht, denn der fordernde Ton der Klima-Bewegung stellt nur insofern einen Fortschritt dar, als er der Verschärfung der Verhältnisse auch angepasst ist, wobei die Botschaft einer Severn Cullis-Suzuki vor dem Umweltgipfel in Rio 1992 der Ansprache einer Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen 2019 im Grundtenor ähnelt. An der industriellen Nekrophilie des Kapitalismus hat sich nichts geändert. Der Umweltschutz ist insgesamt zu spießig, um die gesamte Produktionsweise, auf der unsere zukunftslose Existenz beruht, so infrage zu stellen, dass diese Idee auch zur materiellen Gewalt wird, die die notwendigen Veränderungen gegen den Willen der Mächtigen und schneller als nach institutioneller Fasson erzwingt.

Das Sinnvolle wird wohl scheitern, denke ich mir ruckartig, und der Massenselbstmord der Gattung siegen. Sobald es um Interessen geht, wird jede Lüge wahr. So sind wir leider: halb aufgeklärt in halbierter Aufklärung. Ich hebe meinen Kopf vom Blatt Papier vor mir und lege den Stift weg. Draußen ist es still und dunkel. Alle schlafen tief und fest. Auch ich werde mich niederlegen und hoffentlich in dieser Nacht nichts träumen.

 

K O M M E N T A R E

 

Kommentar von Maelle Robertson (For Forest)

Ein persönlicher Text in einem zeitlichen Loch

Mladen lässt uns hier wieder in seine tiefsten Gedanken blicken. In Erinnerungen seiner Kindheit, aber auch in Träume, also in Gedanken, die man selbst nicht so gut verstehen kann. Wir begleiten ihn auf dem Weg, ihre Bedeutung besser zu verstehen. Mladen nimmt eine eher pessimistische Position gegenüber der Klimawandel-Problematik ein. Er ist allein zu Hause, er schreibt in der Stille und „alle schlafen tief und fest“. Er scheint hier als einziger in der Lage zu sein, uns eine Aufklärung zu geben. Die Menschheit schläft und niemand sieht die Gefahren, die vor ihr stehen.
Es scheint zu spät zu sein, um gegen diese Gefahr zu handeln. Mladen sieht, dass es zwar Bewegungen zur Sensibilisierung zum Klimawandel gibt, aber das ist anscheinend noch nicht genug, um Politiker zu beeinflussen. Der Titel „Erinnerung an morgen“ spiegelt auch die Idee wider, dass der Menschheit wenig Hoffnung gelassen wird. Morgen liegt schon in der Vergangenheit, und was in der Vergangenheit liegt, kann man nicht mehr beeinflussen. Man kann aber seine Wahrnehmung sowie die Bedeutung der Vergangenheit noch ändern. Man kann seine Augen schließen und schlafen, als ob nichts gewesen wäre. Morgen sei vielleicht ein verlorener Kampf, aber man kann daraus lernen, um vielleicht übermorgen weniger fatal zu machen.
Diese Vermischung von den Zeiten weist auch auf unsere Unmöglichkeit hin, effizient in der Gegenwart zu handeln. Mladen lässt wenig Platz für das „Jetzt“ im Text, wir befinden uns in einem zeitlichen Loch. Dieses Loch (der Verlust der Zeit) materialisiert sich gewissermaßen in der Realität in der Form eines Ozonlochs. Je mehr es wächst, desto weniger Zeit haben wir übrig, um zu handeln.

Mit anderen Worten wird im Text der Menschheit die Möglichkeit zum Handeln genommen. Oder müssen wir uns nur bemühen, um sie zu ergreifen?


Die Blindheit der Vernunft

Das Loch im Ozon hat einen weiteren interessanten Aspekt. Wir verlieren immer schneller etwas Natürliches, das es lang vor uns gegeben hat. Mit der Zeit ist dieses Loch zwar etwas Messbares geworden, aber es bleibt etwas, das man nicht sehen kann, wenn man nur mit den Augen in den Himmel schaut. Genauso wie wir alle Tiere nicht sehen, die jetzt aussterben. Sie verschwinden aber trotzdem, und das Loch wird trotzdem größer.
Statistik und Wissenschaften beweisen stetig den schlechten Zustand unseres Planeten. Diese Zahlen, auch wenn sie danach streben, uns etwas Konkretes zu geben, bleiben aber für viele gewissermaßen abstrakt. Sie sind „nur“ Zahlen, also auch etwas, das man nicht konkret sieht und spürt. Man verliert den Bezug zu den Zahlen. Welchen Unterschied macht es für mich, ob 10 oder 20 Fußballfelder Wald pro Minute abgeholzt werden? Oder waren es doch 30?
Dahinter steht die Frage, ob Menschen die Fähigkeit haben, sich für Sachen einzusetzen, die sie nicht immer gut wahrnehmen können. Da unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten der Welt limitiert sind (Bakterien, Wellen…), sind wir darauf angewiesen, anderen Werkzeugen sowie Zahlen und Fakten (mit anderen Worten Wissenschaft) zu vertrauen. Sie zu ignorieren ist nur eine bewusste Blindheit der Vernunft. Oder wie Mladen schreibt: „Macht steht über Logik“.

Wissenschaft und Religion

Es ist aber auch ironisch zu denken, dass es jetzt unzählige Beweise braucht, um uns zu überzeugen, dass die Erde sich schlecht entwickelt. Mladen macht regelmäßig religiöse Referenzen in seinem Text, und ich muss da an den Unterschied zwischen der Glaubwürdigkeit der Religion gegenüber der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft denken.
Es ist bekannt, dass Menschen ungern eine Lektion über ihr Handeln bekommen. Sie wollen nicht von der Wissenschaft hören, dass ihr eigenes Verhalten nicht umweltfreundlich ist und dadurch Konsequenzen für die ganze Menschheit haben könnte. Wir leben aber in einer Zeit, wo solche Sachen objektiv nachgewiesen werden können.

Gehen wir ein paar Jahrhunderte zurück. Damals wurde jede Naturkatastrophe, jede Dürre als die Rache Gottes wegen einer schlechten Handlung interpretiert. Diese Dinge haben zwar keinen direkt nachweisbaren Zusammenhang (mein alltägliches Handeln beeinflusst nicht, ob der Vulkan ausbrechen wird oder nicht), aber Leute haben daran geglaubt und dementsprechend ihr Verhalten adaptiert.
Wenn so etwas funktioniert hat, wieso kann man jetzt nicht sein Verhalten adaptieren für etwas, das deutlich nachweisbar ist? Wieso haben wir früher einer Jeanne d’Arc und ihren (subjektiven) Erscheinungen glauben können, aber nehmen jetzt eine Jane Goodall und ihre (objektiven) Fakten zur Abholzung des Regenwaldes nicht ernst?
Heute werden nachweisbare Fakten nicht ernst genommen oder nicht geglaubt, weil man denken möchte, dass es eine andere Möglichkeit gibt. Die Menschheit hat zum Glück immer wieder Dinge infrage gestellt, aber Klimawandel sollte nicht eine davon sein. Die Verbreitung von Fake News oder die Annahme, dass es verschiedene Wahrheiten geben kann, werden als Meinungsfreiheit missverstanden.

Man sagt, dass wir in einer Epoche der wissenschaftlichen Revolution leben. Wissenschaft bestimmt unser Leben und das, was wir Menschen werden (Bioengineering, Streben nach Unsterblichkeit) …
Wissenschaft ist wie zu einer Religion (zu einem Schöpfer?) geworden, die gewissermaßen mehr objektive Wahrheit mit sich bringt. Es wäre aber gefährlich, sich nur auf den möglichen Fortschritt der Wissenschaften zu verlassen, um Probleme zu lösen, die wir verursacht haben. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, den die Menschen sehr schwer gewinnen können.
Ein Überleben des Menschen ist untrennbar von dem Überleben unzähliger andere Spezies (wie Mladen mit der Erwähnung von dem Baum des Lebens gemeint hat). Aber auch ein paar Menschen, die reine Liebe für Biodiversität zeigen und dementsprechend ihr Handeln anpassen, sind nicht genug. Wenn diese natürliche Liebe der Schönheit, die die Erde zu bieten hat, uns nicht retten kann, dann vielleicht Egoismus. Der Mensch kann nur überleben, wenn andere Tierarten auch überleben. Ich muss also andere retten, um mich selbst retten zu können.
Diese etwas andere Art von Egoismus (oder opportunistisch Altruismus?) passt zu unserer menschlichen Natur und könnte Leute dazu animieren, die Umwelt zu schützen. In diesem Sinne, was früher eine Sünde in der Religion war, könnte jetzt zu einem Credo werden: Thou shalt be selfish.

 


Kommentar von Stefan Meisterle (For Forest)

Gedanken zum Text „Erinnerungen an morgen“ von Mladen Savic

Mladen Savic beschreibt in seinem Text, dass ihm seit der Kindheit die Zerstörung der Lebensräume, Lebewesen und letztlich der Menschheit bewusst ist. Mladen ist heute über 40 Jahre alt.
Wir alles kennen das Lied „5 Minuten vor 12“ von Udo Jürgens, welches nun schon vor 38 Jahren geschrieben wurde. In knapp fünf Minuten schildert der Kärntner Liedermacher die dramatische Situation, in der sich die Welt befindet. Seit 1982 hat das Lied nichts an seiner Aktualität eingebüßt.

Das Jahr des Waldes 1985
1985 veröffentlichen die Österreichische Post und die Deutsche Bundespost je eine Briefmarke zum Waldsterben. Diese Marken wurden also schon vor 35 Jahren geklebt, um auf das Sterben eines unmittelbaren Ökosystems hinzuweisen. Als begeisterter Philatelist, der ich in meiner Kindheit war, war dies mein erster Berührungspunkt zum Thema „Umweltzerstörung“.

         

1961 wurde der WWF gegründet. 59 Jahre wird unermüdlich darauf hingewiesen, dass die Lebensräume der Welt zerstört werden.

1949 wird in der Deutschen Verfassung das Grundgesetz, im Artikel 20 a, der Umweltschutz verankert und im Artikel 74 „der Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt“ gesetzlich eingefordert.

Was ich mit dieser unvollständigen, zufälligen Aufzählung zeigen möchte, ist der Umstand wie lange die Menschheit sich schon bewusst ist, dass wir unaufhörlich unseren Lebensraum zerstören. Wir wissen schon so lange, dass es höchste Zeit ist, etwas zu tun. Etwas verunsichert, ängstlich, aber auch voll Wut, stellt sich mir folgende Frage: Was wurde in den letzten 70 Jahren eigentlich getan? Welche zählbaren Ergebnisse in Sachen Umwelt- und Artenschutz haben wir vorzuweisen? Was sind die positiven Resultate? Und gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie enorm und unwiederbringlich war die Zerstörung der Erde in den 70 Jahren?
Auch Mladen Savic ist diese Zerstörung bewusst und stellt fest, dass es viel zu spät ist, etwas gegen die Vernichtung unserer Umwelt und damit unserer Lebensräume zu tun.

Das Bewusstsein alleine, dass etwas getan werden muss, reicht augenscheinlich nicht aus, um etwas zu bewegen. Wir sehen im vollen Wissen zu, dass unsere Zeit auf diesem Planten immer schneller abläuft. Ja, der phylogenetische Stammbaum schlägt in der Menschheit vollkommen durch und anscheinend haben wir eine sehr nahe Verwandtschaft zu den Lemmingen. Mit Juhe und Sing und Sang steuern wir fröhlich dem Abgrund zu.
Wir sind nicht die Krönung der Schöpfung! Letztlich werden wir der Sargnagel der Schöpfung sein.

Passend zum Titel „Erinnerungen an morgen“ fällt auch mein Fazit aus:
4,5 Milliarden Jahre brennt die Sonne und sorgt dafür, dass auf unserem Planeten Leben entsteht. 5 Milliarden Jahre wird diese noch weiter leuchten. Man kann nur hoffen, dass nach der Menschheit, ein intelligenteres Lebewesen die Vorherrschaft der Erde übernehmen wird und letztlich das schwarze Kapitel der „Homo erectus“ überwinden wird. Für viele ein Horrorszenario, für mich ein gewisser, schmerzlicher Trost.

 


Kommentar von Gernot Waldner

Der Titel des Textes, „Erinnerungen an morgen“, verrät seinen Aufbau. Aus der eigenen Biographie schöpfend erinnert sich der Erzähler an mehrere Umweltinitiativen der Vergangenheit, denen es allen darum ging, eine ökologisch bessere Zukunft zu gestalten. Diese einzelnen Momente verdeutlichen auch heute noch unliebsame Aspekte des Umweltschutzes. Erstens operiert er mit einer, wie auch immer explizierten, Dystopie, die den Charakter eines Albtraums hat und die man als solchen auch nicht wahrhaben will – „Hysterie“ wird dafür entstaubt.
Zweitens thematisiert er das Problem der Proportion: das eigene Handeln wirkt angesichts des globalen Ausmaßes der Katastrophe wie das eines Kindes, das sich die Badewanne als Ozean imaginiert. „Warum sollte ich, sollten wir einen Unterschied machen?“
Drittens gelingt es dem Text, indem er aktuelle Forderungen historisch einbettet, die Frage nach Lektionen aufzuwerfen, die gegenwärtige Umweltorganisationen aus der Geschichte ihrer Vorgänger ziehen könnten.
Alle drei Aspekte sind für mich gute Hinweise darauf, wie aktuelle Bewegungen von vergangenen lernen könnten.

An manchen Stellen finde ich den Text nicht drastisch genug, etwa wenn gesagt wird: „Häuser, Straßen, Parks und Plätze – unter Wasser“. Gerade in die konkrete Ausdeutung dieser Szenarien ist in den letzten Jahren einiges an akademischer Energie geflossen.
Steigt die durchschnittliche Temperatur um drei Grad an, so würde das in Asien den Lebensraum von mehr als 100 Millionen Menschen zerstören, in Südamerika von fast 20 Millionen, in Nordamerika von rund 15 Millionen und in Europa von fast 10 Millionen. Welche politischen und gesellschaftlichen Folgen das hätte, kann man sich angesichts der Krise 2015, in denen „nur“ Hunderttausende von Menschen ihren Wohnort unverschuldet verloren haben, nicht vorstellen.
https://www.theguardian.com/cities/ng-interactive/2017/nov/03/three-degree-world-cities-drowned-global-warming

Der Ökonom und Philosoph Otto Neurath hat einmal dazu aufgerufen, die Wissenschaft der Utopistik zu gründen. Er erkannte das rigide, totalitäre oder auch „spießige“ Potential einzelner Utopien und forderte daher auf, immer mehrere Lösungen für bestehende Problem abzuwägen.
Anknüpfend an diese Wissenschaft der Utopistik könnte man einer Stelle der Diagnose des Textes widersprechen: „Der Umweltschutz ist insgesamt zu spießig, um die gesamte Produktionsweise, auf der unsere zukunftslose Existenz beruht, so infrage zu stellen, dass diese Idee auch zur materiellen Gewalt wird […]“ Wenn hier mit „spießig“ die Rückkehr zu einer einfallslosen Ordnung gemeint ist, so fallen mir hier mehrere Gegenbeispiele ein: Aus Pilzen werden inzwischen Möbel produziert, die eine höhere Festigkeit als Holz haben und als Fischfutter entsorgt werden könnten, in der Nahrungsmittelindustrie hätten Pilze und Insekten das Potential uns zu ernähren, „Leder“ kann man wachsen lassen, YouTube lädt hier ein, sich in das Potential ökologisch-kreativer Zerstörung einzusehen: https://www.youtube.com/watch?v=jBXGFOk5_Rs&t=12s

 


FOR FOREST-Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 3

Paul Auer: FALLEN – Lesung des Autors

Am 28.04.2020 hätte Paul AUER in einer gemeinsamen Lesungsveranstaltung mit Norbert Kröll (Wer wir wären, Edition Atelier 2020) seinen soeben erschienenen Roman Fallen (Septime Verlag, 2020) im Robert-Musil-Institut vorgestellt.
Da die Buchpräsentation, wie alle weiteren Veranstaltungen bis 30. Juni, abgesagt werden musste, hat Paul Auer den Prolog und die Kapitel 1 und 2 aus seinem neuen Roman für das Musil-Institut eingelesen.

 

 

 

 

Im Leben des Mittzwanzigers Christian passieren seltsame Dinge. Seine neue Nachbarin hat rote Augen und beherbergt zwei geheimnisvolle Flüchtlinge. Immer öfter träumt er davon, wie die Geschichte Jesu nach der Kreuzigung weitergegangen sein mochte und spinnt sich in eine Sage über den Teufel ein, die seine Familie seit Generationen in Atem hält. Ein ominöses Foto bringt ihn und seinen Freund Stefan dann auf die Spur einer Verschwörung. Hatte Christian sich nicht längst mit seinem unspektakulären melancholischen Alltag arrangiert? Umso verstörender, welch unerbittlichen Sog die Fiktion ausübt, wie sie nach und nach die behagliche Normalität auslöscht. Bald wird ihm klar, dass er seinen ganzen Heldenmut zusammennehmen, die Grenzen seiner Wahrnehmung sprengen und sich seinen schlimmsten Ängsten aussetzen muss. Ist er in dem Spiel das Opfer oder ist er der Täter? Ist er wirklich der, für den er sich hält?

„Was habe ich von meinem Vater gewusst, was kann man überhaupt wissen? Niemand hat irgendwas gewusst. Ich weiß überhaupt nichts. Es gibt nur Hoffen, Fürchten, Glauben, und das ist das Schlimmste.“

Können wir die Bedingungen unseres Schicksals verstehen, und wie weit würden wir gehen, um herauszufinden, wer wir sind?
Ein märchenhafter Roman über die Wirkmacht von Mythen, Träumen und Traumata, über Identität, Entfremdung und die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Vor allem aber erzählt „Fallen“ von einer großen Freundschaft, einer Liebe, die jede Grenze, selbst die des Todes, überwindet.

 

Paul Auer: FALLEN (Roman)
Septime Verlag, Februar 2020
240 Seiten
ISBN: 978-3-902711-88-5

 


Paul Auer, geboren in Villach, studierte Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Nach zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erfolgte 2017 sein Romandebüt „Kärntner Ecke Ring“ (Septime). Er lebt als freier Schriftsteller in Wien und Millstatt.

Mladen Savić: Crusoe in Carinthia

Eine jede Stadt, sagt man gelegentlich, habe ihren Flair, ebenso wie die Menschen, die sie bewohnen und ausmachen, und es ist in der Tat schwer zu entscheiden, was schlimmer anmutet: der lokalpatriotische Stolz oder die Abwesenheit von Eigentümlichkeiten an Orten ohne besondere Note. Die besagte Besonderheit setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Dingen, die da hineinwirken, aus Geschichtsspuren und Raumentwicklung, aus Baustilen und Gassenbreiten, aus Sprachkolorit und Kulinarik, aus Landschaft und Vegetation sowie, versteht sich, aus dem allgemeinen Umgang im Alltag. Einen Ort könne man erst wirklich kennenlernen, heißt es entsprechend, wenn man mitverfolgt, wie die Leute in ihrem gewohnten Tun und Treiben ticken, kurz, wie die Stadt atmet, leibt und lebt.

Nun, die sonderbare Lage, in die ich hineingeglitten bin, die Sondersituation gesamtstaatlicher Quarantäne wird mich wohl um diese bereichernde Erfahrung, nach der ich mich eigentlich gesehnt habe, ärmer machen, wie nicht anders zu erwarten, abgesehen davon, dass ich finde, Örtlichkeiten aller Art seien gewissermaßen schön, spannend und genehm, solange man dort nicht Miete zahlen und dazu seine Brötchen verdienen muss, also so lange, bis man eine Meldeadresse und Sozialversicherungsnummer erhält, um endgültig zur amtlichen Statistik zu werden. Die Bedingungen ändern sich dann, und alle Romantik verfliegt recht rasch. Der Tourismus hat, so gesehen, seine Tücken und kann nicht nur ökologisch und virologisch bedenklich, sondern auch psychologisch problematisch sein: als verzogenes Glas mit Verzerrungen für den prüfenden Blick.

Weil es außerhalb der Städte und weitgehend urbanisierten Dörfer, etwa in den Weiten der Berge und Wälder, wo die Natur ganz unsentimental über Lebensqualität und Überleben richtet, keinerlei Kulturgüter gibt, weder die geschützte Bleibe noch das Essen aus dem Lebensmittelladen, keine Kneipen, Kinos und Theater, auch keine Bibliotheken, Krankenhäuser und Schulen, kann man auch sonst nirgends hin außer auf den bekannten Asphalt, sodass ich mir in meinen düsteren Stunden, an meinem eigenen Zweifel kauend, zuweilen denke, die Stadt sei, Obiges einmal mitgedacht, bloß ein Sammellager ohne Zäune – wohin denn auch! Nicht dass ich jemals mit Rousseaus kopflosen Pferden losreiten wollen würde, doch dieser Trojanische Esel, unerkennbar nur für Trottel, hat die Hochkultur von innen fest im Griff.

Wenigstens die hiesige Trockenheit und die vielen sonnigen Tage über dem üblichen Monatsdurchschnitt, unlängst zwinkernd unterbrochen durch zwei skurrile Kärntner Schneetage, verschaffen mir, wenn ich denn die leidige Klimafrage und die Waldbrände ausblende, eine höllische Freude in der Einsamkeit, zu der ich derzeit gezwungen bin. Nach dem Aufwachen, sprich, zwei Bananen und drei Kaffees später, schnappe ich mir meistens die Gitarre und setze mich in den wilden Garten der For-Forest-Villa, um darin erfolglos mit den geradezu unermüdlichen Vögeln um die Wette zu singen. Musizieren ist für mich Medizin. In Augenblicken wie diesen, da ich mich auf mich zurückgeworfen fühle, was mich übrigens noch nie grundlegend gestört hat, stelle ich mir dennoch die Frage nach dem Wesen und Preis der Zweisamkeit gleich mehrmals. Das Alter kommt immer viel zu früh, und ich frage mich in der unfreiwilligen Isolation freilich, ob ich in fortgeschrittenen Lebensjahren jemanden an meiner Seite haben werde oder überhaupt will, der mir zwischendurch ein Glas Wasser reichen oder eben ein Drama bereiten kann. Askese ist an sich nicht mein Ding, dafür Gesinnungsgleichheit und körperliche Nähe – eine lohnende Verbindung in Idealität.

Von der lebenden Stadt selbst kenne ich unweit meiner Kemenate hauptsächlich den neonbeleuchteten Supermarkt, den derzeit lebendigsten Treffpunkt, in welchem ich mich immer wieder beim Versuch ertappe, ähnlich den vereinsamten Wiener Pensionären die Mitarbeiter in Gespräche zu verwickeln. Es wirkt auf mich selbst zum Teil befremdlich, aber im Nachhinein ist es auch irgendwie vergnüglich, was für Inhalte und Gespräche in zeitlich gedrängter Form gegebenenfalls aufbrechen – kleine menschliche Begegnungen, die passieren, wie Einleitungen zu weiteren Vertiefungen, die schließlich nie stattfinden werden. Vielleicht mache ich mir mit derlei Gedanken bloß Mut und suche nach dem Teufel, der einmal mehr meine Gefühlssaite anschlägt und mir etwas vom Guten im Menschen erzählt. Bereits beim Schreiben dieser Zeilen bereue ich, unter Umständen wie alle anderen Seelenstriptease betreibenden Corona-Tagebücher zu klingen. Das will ich nämlich gar nicht, aber es liegt letztlich nicht an mir, darüber zu urteilen. Geschriebene Worte sind nur die eine Hälfte vom Erlebnis.

Jedenfalls verbringe ich vor lauter Aufregung und Ausnahmezustand ungemein viel Zeit damit, zwanghaft Zeitungen zu lesen, wenn ich nicht gerade, sobald nur die Sonne herunterbrennt, am Fahrrad durch die Gegend düse und absurde Denkmäler und Skulpturen entdecke: vom Hain der volksdeutschen Landsmannschaften, wörtlich Blume der Heimat genannt, bis hin zur eisernen Ästhetik einer interessanten Soldatenskulptur mit Wehrmachthelm vor der Handelsakademie. Dabei ist mir schon aufgefallen, dass abseits der landschaftlichen Naturschönheiten – und ich muss zugeben, die in den Himmel ragenden Bergketten um die Stadt herum sind imposant – gerne auch von einer eingekochten Vergangenheit gesprochen wird, von Abwehrkampf ohne Erwähnung des Angriffskriegs zuvor, von Zusammenhalt gegen jemanden, von Freiheit ohne nähere Bestimmung, aber mit einer deutschnationalen Prise hin und wieder. Es ist kaum zu verbergen, sogar in einer ausgestorbenen Stadt wie jetzt.

Erwin Ringel hat, die lokale Sangesfreudigkeit lobend, einst gemeint, herauslesen zu können, dass die Kärntner Kinder auch laut sein dürfen, was angeblich zum Ausbruch aus der österreichischen Zwangsjacke führe, aus der Enge autoritärer Erziehung, in welcher seelisch von Kindheit an Stille herrschen muss und Eltern gefälligst ihre Ruhe haben wollen. Immerhin, der hiesige Menschenschlag sei freier, lauter, lebendiger, weniger im Unterdrücken der inneren Regungen verwurzelt und daher mehr in der lustvollen Durchdringung des Lebensraums. Ich kann ihm glauben oder nicht. Der Abgleich mit der Wirklichkeit bleibt mir als Vergleich verwehrt. Wie die Kärntner Seele nun beschaffen ist, werde ich ein andermal erfahren, wenn die Leute wieder die Öffentlichkeit erobern und ungehindert und ohne Erlaubnis von oben auf Wiesen und Parkbänken sitzen dürfen. Heimat heißt hier und heute, vorerst aus Österreich nicht legal ausreisen zu können …

Selbstverständlich könnte ich stattdessen über positivere Entwicklungen sinnieren und mich ein bisschen darüber freuen, dass die Umwelt sich im Stillstand der viralen Krise kurzfristig erholt, dass, zum Beispiel, durch den Wegfall des Smogs zum ersten Mal seit dreißig Jahren vom nordindischen Pathankot aus plötzlich das Himalaya-Gebirge aus der Ferne sichtbar wird. So sollen schon Delphine in den Kanälen Venedigs gesehen worden sein, doch soweit ich weiß, dringen die sogenannten großen Tümmler, wenn auch selten, höchstens zur Lagune vor. Und ich verstehe das breite Bedürfnis nach guten Nachrichten, Hoffnung und Trost in dieser misslichen Lage vollkommen. Indes, mich beschäftigt, da selbige mir nicht schmeckt, nun einmal weit mehr, ob die Flucht aus der strengen, städtischen Zivilisation als Möglichkeit übrigbleibt, denn brüchig ist sie längst geworden, und ob sich die Fichten in den Wäldern doch noch überzeugen ließen und immer noch Gämsen in den Lawinen finden würden.

 

 

Kommentar von Gernot Waldner

Abstrakt betrachtet beginnt der Text in aristotelischer Weise mit der Suche nach einem dritten Weg, indem er unterschiedliche Extreme zu vermeiden versucht: weder Lokalpatriotismus noch Non-Places (Marc Augé) bejahen, weder Staatsbürger noch Tourist sein. Diese Reflexion endet nicht aus gedanklicher Konsequenz, sondern abrupt mit einem klimatischen Standbild aus mit Gitarre begleiteter Einsamkeit, in die der Erzähler durch die derzeitige Situation „gezwungen“ wurde.

Gregory Bateson hat in einem seiner Aufsätze zwei Arten von Lernen unterschieden,

die beide diesen Übergang ausdeuten könnten. Beide Arten von Lernen ersetzen die gedanklichen Alternativen, mit denen man Erlebnisse versteht (Lokalpatriotismus – Non-Places) durch neue (Bürger und Tourist).

Während die erste Art von Lernen aber nur zwischen bekannten Alternativen wechselt, ist letztere ein radikalerer Wechsel des Systems von Alternativen, ein bewusster Bruch mit bewährten Interpretationen.

Letztere Art des Lernens ist nach Bateson sehr selten, hat in seiner Seltenheit häufig pathogene Tendenzen, gleicht religiösen Bekehrungen und Erlebnissen der Erweckung. Letztere Interpretation könnte auch dem Bischof von Kärnten mitgeteilt werden, sofern die Anspielungen auf Franz von Assisi mit den der Villa For Forest    benachbarten Schulschwestern vom Heiligen Franziskus abgestimmt werden.

 

Ein Absatz widmet sich Erwin Ringel, dem großen Individualpsychologen, der die österreichische Seele für heilbar hielt. Nur drei Absätze nach dem eigenen Gesang wird hier Hoffnung in die Sangesfreudigkeit der Kärntner Kinder gesetzt, deren Lautstärke die Stille der autoritären Erziehung aufbrechen könnte.

Ich denke, ich muss hier Ringel nicht widersprechen, wenn ich auf die Aspekte des Kärntnerliedes hinweise, die eher wenig zum Abbau der autoritären Einstellung  beitragen: musikalisch die Vorsänger-Stimme (nach einem weiteren „Nachbar“, Thomas Koschat), „der intellectuelle und actuelle Führer“ eines Vier- oder Fünfgesangs, die sozialen Folgen der Lieder, die, neben vielem anderen, die Verdrängung des Slowenischen zu einem psychischen Breitenphänomen machten, und die Inhalte der Texte wären hier auch auf ihre Wirkung hin zu analysieren. Ansonsten bliebe der Hinweis auf die Lautstärke ein isolierter Vergleich, wie der Umstand, dass Death Metal noch lauter ist oder dass auch Koschat im fünften Wiener Gemeindebezirk wohnte.

 

Der letzte Absatz des Textes kommt kurz auf ein medial sehr wirksames Motiv zu sprechen, „nature is healing“, liest man oft im Internet. Über diese „guten Nachrichten“, nach denen man sich sicherlich sehnt, wüsste ich gerne mehr. Zwei Thesen, die sich aus diesem Motiv ableiten lassen, wären die folgenden:

1) Wir sind der Virus. Wenn man uns wieder frei lässt, geht es der Natur wieder schlechter, deshalb freuen wir uns für die Natur, so lange wir mehr Zeit dafür haben, ihr weniger Schaden zuzufügen.

2) Wir sind schrecklich gesund. Ohne die rücksichtslose, landwirtschaftliche und industrielle Unterdrückung der Natur, wäre es nie zu diesem Leben gekommen, das wir alle als normal annehmen. Unserem schlechten Gewissen geht es daher besser in der neuen Unfreiheit.

Ich halte beide Thesen für falsch, wie sich der Autor@Musil zu ihnen positioniert, werden wir vielleicht im nächsten Beitrag erfahren.

 

 


FOR FOREST-Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 2

 

Lena Leitner – Die Taufe.

Lena Leitner

Die Taufe

 

Auf dem Foto sieht man zwei Mädchen, beschützt von ihrem Vater und ihrer Mutter. Die jüngere Tochter wird heute getauft, es ist meine Mutter. Ihr Name wird Maria sein. Ihr ganzer Name, Maria Schmidt, sie ist die dritte Generation von Mädchen, die diesen Vor- und Familiennamen tragen.

Die erste war meine Urgroßmutter, Maria Schmidt, dann meine Großmutter, die auch Maria Schmidt hieß, und nun wird auch dieses kleine Mädchen, meine Mutter, diesen Namen ebenfalls bekommen. Die Taufe fängt um 13:30 im Stephansdom an. Nach der Taufe wird es im Innenhof meiner Großeltern ein lustiges Fest geben.

Meine Großmutter hat überhaupt keine Ahnung was sie anziehen soll. Sie steht vor dem Spiegel, doch nichts fällt ihr ein. Schließlich entscheidet sie sich für eine graue Bluse und eine Perlenkette, nobel nobel. Ihre Töchtern ziehen weiße Kleider und ihr Ehemann einen dunklen Anzug an.

Es ist 13:00, alle sind aufgeregt. Nur noch dreißig Minuten. Meine Großeltern, ihre Töchter und ein paar Gäste werden von einem bunten Bus zum Stephansdom gebracht.

Die erste Maria Schmidt, meine Urgroßmutter ist auf dem Bild nicht sichtbar, sie lebt bei Ihrem Sohn, meinem Großvater. Ihre Traurigkeit ist immer spürbar. Sie war Jüdin, ist knapp den Nazis entkommen, hat zwar überlebt, aber viele Familienmitglieder und Freunde verloren. Sie ist fast immer still und entzogen. Meine Großmutter, die zweite Maria Schmidt, ist auf dem Foto erkennbar, sie wird eine unpolitische, manchmal lustige aber oft sehr schwierige Mutter.

Meine Großeltern haben meine Mutter zum Taufbecken begleitet. Das kleine Mädchen strahlte wie die Sonne. Alle in der Kirche standen auf um Respekt und Ehrfurcht zu zeigen. Die Taufe dauerte ungefähr eine halbe Stunde, nach der Taufe gab es ein Fotoshooting und dann fuhren alle zum Haus meiner Großeltern. Es ist ein schöner und angenehmer aber auch stressiger Sonntag für meine Großeltern.

Sie besitzen eine Bäckerei und Konditorei, dadurch ist es viel leichter für sie Essen zu organisieren und ein tolles Buffet aufzubauen. Im Innenhof standen zwei lange Tische mit weißen Tischtüchern, dekoriert mit Blumen und Obst.

Die Erwachsenen und die Kinder hatten jeweils einen eigenen Tisch damit zwischen allen Kontakt und Freude entstehen kann. Es ist 15.08, alle genießen das Fest. Für die Kinder wurden lustige Spiele vorbereitet und die Erwachsenen konnten in Ruhe

ihre schönen, brillanten und langen Gespräche führen. Es ist Abend geworden, die Gäste haben sich verabschiedet, und alle fanden die Taufe und das Fest wunderbar. Am Ende dieser Feier entstand auch das beigelegte Foto mit meiner Mutter.

Ich bin die vierte Frauengeneration die den Namen Maria Schmidt übernehmen sollte. Meine Mutter hat jedoch entschieden, dass diese Namenstradition unterbrochen wird und ich nicht Maria Schmidt heißen soll.