Livia Hofstätter – Das Meer voller Erinnerungen.

Livia Hofstätter

Das Meer voller Erinnerungen

 

Die Sonne brannte ihr auf der Haut. Dieses Gefühl, vollkommen von der Wärme umhüllt zu sein, hatte sie schon lange nicht mehr. Sie hatte es vermisst, die Sonne, das Meer und das Gefühl nicht alleine zu sein. Sie hatte ihre Augen geschlossen und genoss dieses Gefühl, das ihr so sehr gefehlt hatte. Als Kind war sie oft hier, mit ihrer ganzen Familie. Ihre Mutter hatte diesen Ort geliebt. Sie liebte es zu tauchen und von den Klippen ins Meer zu springen. Sie lag gern im Schatten der großen Olivenbäume und hörte den Möwen zu, wie sie kreischend über das Meer flogen. Sie schwärmte gerne Stunden lag davon, wie schön es sein musste, ein Vogel zu sein. Man könnte über die ewigen Weiten des Meeres schweben, der Sonne entgegen und nichts und niemand würde einen aufhalten. Auch sie hatte es geliebt, das Tauchen mit ihrer Mutter. Sie liebten es beide, wenn man beim Tauchen nach oben an die Wasseroberfläche schaute und sehen konnte, wie die Sonne an der Oberfläche glitzerte und sich die Sonnenstrahlen nach unten in die unendlichen Weiten des Meeres erstreckten. An den niedrigen Stellen des Meeres konnte man sogar am Boden des Meeres beobachten, wie das Licht flackerte und tanzte. Es hatte etwas so unglaublich Zauberhaftes für die beiden, sodass sie sich stundenlang darin verlieren hätten können. Ihr fiel ein, wie sehr sie sich immer darauf freute, das Meer zu riechen. Sie liebte diesen salzig süßen Duft. Und wenn man das Meer auch nur kurz schon aus dem Fenster ihres kleinen Busses sehen konnte, hatte sie sofort diesen Duft in der Nase, auch wenn es noch gedauert hätte, bis sie es wirklich riechen konnte.

Ihre Mutter hatte eine Leidenschaft für die Malerei und zeichnete mit Vorliebe die Natur. Doch was sie liebte zu malen, war das Meer. Sie sagte immer, wenn sie ein Element wäre, wäre sie ohne Zweifel Wasser und am liebsten ein großer, unendlich großer Ozean, denn das Wasser ist immer in Bewegung, aufschäumend und wild. Doch hat es auf der anderen Seite etwas so Beruhigendes, man könnte stundenlang zusehen, wie das Wasser auf die Felsen schlägt und sich ineinander verschlingt. Stunden war sie damit beschäftigt, das Meer zu malen.

Sie schaute ihrer Mutter gerne dabei zu und hoffte, das Meer eines Tages auch so malen zu können wie sie, denn sie schaffte es all die Ausdrücke, die sie mit dem Meer verband, auf dem Papier zu einem Bild zu formen. Sie lag da, noch immer, auf dem heißen Sand. Sie hasste es früher im Sand zu liegen, vor allem wenn sie nass war. Doch jetzt wollte sie die ganze Pracht dieses Ortes erleben und dazu gehörte auch der goldige Sand, der sie früher immer unter den Füßen kitzelte. So lange war sie nicht mehr hier gewesen, seit dem Tod ihrer Mutter. Sie hatte Angst davor, diesen Ort ohne ihre Mutter zu besuchen. Sie hatte Angst davor, die Erinnerungen würden sie überrollen. Als sie hier an diesem Ort ankam, kam es ihr schon ein wenig seltsam und ungewohnt vor, doch sie spürte auch, dass es ihr vielleicht helfen würde, den Schmerz zu lindern. Sie dachte an ihre Mutter und sie fühlte sich nicht traurig, sondern vollkommen geborgen, so als wäre ihre Mutter bei ihr. In gewisser Weise war sie das vielleicht ja auch, denn sie verband ihre Mutter schon immer mit dem Wasser und dem Meer, da ihre Mutter es so geliebt hatte. Und so fühlte sie sich ihr nah, hier an der Stelle, wo das Meer voll mit Erinnerungen war.

Sie öffnete ihre Augen und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sie hielt sich die Hand über die Augen, um etwas sehen zu können. Ihr Blick fiel zu den großen Klippen. Als Kind hatte sie sich nie getraut, von den Klippen ins Wasser zu springen. Sie kamen ihr immer so riesig und unüberwindbar vor. Sie bewunderte jeden, der den Mut aufbrachte, sich von ihnen aus in die Wellen zu stürzen.

Sie stand am Rand der Klippe und blickte auf die Weiten des Meeres bis an den Horizont, der ihr so nah erschien, als könnte sie ihn, wenn sie sich ausstrecken würde, berühren. Die Sonne brachte gerade noch letzte Kraft auf und färbte das Meer und den Himmel in Gold- und Rottöne, bevor sie unter gehen würde. Sie ging einige Schritte nach hinten, um Anlauf zu nehmen. Sie rannte auf das Ende der Klippe zu, wo es nach unten gehen würde, ins Meer. Und sie sprang ohne Angst oder Zweifel und während sie sprang, konnte sie ihre Mutter lachen hören, so als würde sie neben ihr von der Klippe springen. Auch sie schrie und lachte zu gleich. Sie fühlte sich frei und unbeschwert, sie fühlte sich ihrer Mutter so nah wie schon lange nicht mehr.

Helene Gattereder – Wann endlich kämpfen?

Helene Gattereder

Wann endlich kämpfen?

Seine Augen sind dunkel, sanft, wie seine Stimme. Er steht gerade da, die Hände wie immer am Rücken verschränkt steht er in der Tür zum Trainingsraum. Und während sie versucht, sich an ihm vorbei zu drücken, hört sie ihn sagen: „Wann wollen sie anfangen zu kämpfen, mit achtzig?“

Was hat er gesagt?

Er spricht schlecht Deutsch, aber sie hat es genau verstanden.

„Es ist so wichtig zu kämpfen, so viel Potential – und Sie wollen nicht kämpfen“!

 

Vor einer Woche war sie in seinem Büro und hat ihm mitgeteilt, dass sie die Freikampfübungen, die dreimal pro Woche zum Trainingsprogramm gehören, nicht mehr machen will.

„Ich mag nicht, gibt’s nicht“, hat er gesagt. Aber dann hat er ihr doch zugestanden: „Na gut, aber ab und zu doch“.

Dabei war sie grade so stolz auf sich, dem Großmeister ein Ich-Mag-Nicht entgegengesetzt zu haben. Fühlte sich stolz. Endlich nicht mehr so winzig, unwissend und verschreckt. Und jetzt das. Alles in ihr wird eng, wieder nicht durchgehalten, sie weiß ganz genau, sie wird nachgeben. Sie geht auf und ab wie in einem Käfig, dann fällt ihr endlich eine Antwort ein.

„So klein fühl ich mich, wenn ich das machen muss“, sagt sie und deutet die Größe mit Daumen und

Zeigefinger an. Aber das interessiert ihn herzlich wenig, und solche Sätze hört er sowieso nicht gern. Sein Körper zeigt ganz kurz Unwillen und Abwehr. Sie merkt das sofort, sie hat gelernt, auf solche Zeichen zu achten. Er wird aber gleich wieder sanft.

„Es ist so wichtig, zu kämpfen!“, betont er wieder.

Sie geht immer noch auf und ab, die Luft stoßweise und seufzend herauspressend. Dann ein Blick in seine Augen, ganz hinten das Lächeln, das sich jetzt auch bei ihr bemerkbar macht. Er hat ja recht. Wann werde ich wirklich anfangen zu kämpfen? Nicht verteidigen, kämpfen!

„Also gut, ich mach‘s wieder“, sagt sie. Warum tut sie so, als würde sie ihm einen Gefallen tun? Es ist ja wichtig für sie. Sie kann sich nicht beruhigen, immer noch rebelliert sie innerlich. Im Auto spricht sie mit sich selbst, weint und schläft dann auch schlecht.

„Wann wollen Sie anfangen zu kämpfen, mit achtzig?“

 

Wie war das damals?

Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt, wohnt am Land. Der Bus fährt immer zehn Minuten nach der Stunde in die Landeshauptstadt. Vierzig Minuten dauert die Fahrt in jeweils eine Richtung, hin und zurück, in die Bezirksstadt sind es zwölf Minuten. Aber dort ist es das Gleiche. Jeder kennt jeden, kein ordentlicher Gesprächsstoff, kaum einer liest ein Buch und die ehemaligen Schulfreundinnen kennt sie kaum mehr. Sie war ja schon viele Jahre nicht mehr hier. Ihr Mann ist Vertreter, auch dann unterwegs, wenn es nicht geschäftlich ist. Mit Freunden, Kumpanen, mit Männern, die gerne trinken, was sie überhaupt nicht mag. Sie ist die ganze Woche allein mit dem Kind in dieser armseligen Behausung.

Zimmer, Küche, Wasser aus dem Ziehbrunnen, den sie vor der Kälte schon im Herbst einwintern muss und der dann doch einfriert und mühselig von ihr immer wieder mit heißem Wasser, das sie oben in die Öffnung beim Schwengel einfüllt, aufgetaut werden muss. Er ist ja nicht da, er fährt mit dem Firmenauto durch die Gegend, schläft in guten Hotels, bringt ab und zu fremde Damen- und komischerweise auch Herrenwäsche nach Hause. Sie tobt. Aber sie weiß ganz genau, sie wird, wie immer, nichts Ernsthaftes unternehmen.

Das Plumpsklo ist eigentlich kaum auszuhalten. Im Sommer stinkt‘s erbärmlich und im Winter friert einem der Arsch ab, wenn man erst durch den frisch gefallenen Schnee stapfen muss, um auf den grauslichen Brettern zu hocken. Und die Mäuse, die ihr durch Kratzgeräusche nachts schreckliche Angst einjagen bis sie endlich weiß, woher diese Geräusche kommen, sitzt sie vor dem Fenster, mit einem Messer in jeder Hand und wartet auf den vermeintlichen Einbrecher. Er muss ja nur einen großen Schritt machen, um über diese niedrige Mauer zu kommen. Alles ist feucht. Die Vorhänge frieren im Winter an der Schlafzimmermauer an. Die kann man erst im Frühling wieder in die richtige Stellung bringen, weil sonst ja alles reißt. Aber es glitzert immer schön, wenn man das Licht einschaltet.

Es ist Freitag, Mitternacht. Er ist wieder von seiner Wochentour zuerst zu seiner Mutter gefahren, hat Freunde getroffen und wird nach Alkohol riechen, wenn er nach Hause kommt. Wird mit ihr schlafen, weil sie glaubt, es ihm schuldig zu sein, weil er ja das Geld verdient und sie froh sein muss, so eine gute Partie gemacht zu haben. Angestellter, das ist schon was, und sie doch aus so einem Milieu kommt. Der Vater Knecht, die Mutter, ein abgelegtes Kind einer Vagabonda bei Bauern. Beide sind Kinder von nicht bekannten Vätern. Nicht nur die Kriegsjahre haben beide gewalttätig gemacht. Das Leben mit fünf Kindern auf Zimmer und Küche bringt schon eher die dunklen Seiten der Menschen zu Tage. Da sind dann Menschen, die zwar auch auf Zimmer und Küche aufwachsen, aber dafür Wasser und ein eigenes WC am Gang hatten, und nur zwei Kinder aufzogen, Privilegierte. Dazu kommt noch, dass er die Hauptschule besuchen durfte.

Nach einem Jahr kam es zum Umzug in eine kleine Wohnung in einem Schloss -Nebengebäude in der Stadt. Wieder Plumpsklo, aber im Haus unter der Stiege. Wieder Mäuse, die werden aber mit Schuhen, die vorsorglich vorm Schlafengehen am Nebenbett deponiert sind, vertrieben. Die Katzen warten schon jeden Morgen vor der Wohnungstüre auf die in den Fallen gefangenen Mäuse. Dann endlich. Eine richtige Wohnung. Dritter Stock, in Villach. Hell, klein aber mit Parkettboden, richtiger Küche, eigenes WC.

Astrid, das zweite Kind wird mit einem Herzfehler geboren, was man ihr aber erst sagt, nachdem sie beim Arzt vorstellig wird, wo denn die Vorladung zur Pockenimpfung bleibt. Die gibt’s nicht für dieses Kind, das hat einen Herzfehler.

 

Beatrix Haidutschek – Dazwischen Liebe.

Beatrix Haidutschek

Dazwischen Liebe

Die Geschichte der Begegnung von Rudolf Haidutschek und der jungen Ingeborg Bachmann während des Zweiten Weltkrieges

 

 

 

Im Zimmer Nummer Sieben des Pflege- und Seniorenheimes fällt gelbes Herbstlicht durch das angelaufene Glas der Balkontüre auf den in der Mitte stehenden Tisch. Ein praktisches Modell. Gerade Formen, abwischbare Kunststoffplatte, zeitlos, beige. Rudolf, seit dem letzten Schlaganfall verwirrt, betrachtet im Sessel vornübergebeugt die vor ihm liegenden, ausgeschütteten Schwarzweißfotografien aus der Zeit des zweiten Weltkrieges. Kleine Bilder mit gewelltem Rand von einer erstaunlichen Schärfe und Qualität. Lange, sehr lange Zeit hat er sie in einer ehemaligen Rasiercremeschachtel, schwarz mit aufgedrucktem Blumenmotiv aufbewahrt. Diese ist mit ihm mehrmals umgezogen und zuletzt, wahrlich zuletzt hier an dieser Endstation seines intensiven Lebens angekommen. Bis zum heutigen Tag waren sie geordnet, teilweise auf der Rückseite beschriftet. Mit Bleistift in akkurat nach rechts gerichteten Buchstabenfolgen und mit Jahreszahlen versehen. Jetzt in blassen, kaum leserlichen Wortinseln verschwommen.

 

Seine Tochter ist auf Besuch. Sie fuhr mit dem Auto aus Klagenfurt nach Arnoldstein. Vierzig Minuten Fahrtzeit auf der Autobahn, gefühlsmäßig eine Ewigkeit.  Sie sitzt ihrem Vater gegenüber wie in einem anderen Raum, getrennt durch die Glasfront der Erinnerungen.

 

Er greift Richtung eines einzelnen Fotos, trifft nicht, schüttelt den mit reinweißem Haar bedeckten Kopf, berührt mit seiner rechten Hand, die seit dem Krieg wie taub ist, sein Kinn und versucht es erneut. Obwohl Schweiß seine Stirn bedeckt und ihn diese Handlung offensichtlich anstrengt. Schwerstarbeit für Geist und Körper. Bilder fallen dabei zu Boden, sie fallen wie nasse Herbstblätter, wollen liegen bleiben. Er bemerkt es nicht. Wiederum ein Versuch. Der „Schwarzweißhügel“ in der Mitte des Tisches bildet einen Krater, wird umgerührt. Sie verharrt regungslos, um ihn nicht zu stören und beobachtet bei sich denkend was er wohl sucht.

 

Im Raum ist das laute Atmen seiner im Bett liegenden Frau zu hören. Zu Mittag muss sie ihren Körper ausruhen lassen, denn tagsüber verbringt sie ihre Zeit im Rollstuhl sitzend. Sie möchte schlafen, rasten.

„Was machst du denn schon wieder?“

Sie kennt ihren Mann schon zweiundsechzig Jahre und spürt seine Unruhe beinahe körperlich.

„Gib doch endlich einmal Ruhe!“

 

Das Fallen der Bilder ist lautlos. Rudolf ist versunken in seinem Fischen nach seinen Geschichten. Seine Sprechweise ist seit dem letzten Schlaganfall verändert. Anfangs schwer verständlich, doch mit längerem Reden besser.

Da, er hat ein Bild gefunden, in seiner Hand. Beim Betrachten richtet sich sein Körper unmerklich auf.

„Da bin ich mit der Inge!“

Sein linker Zeigefinger zeigt auf das kleine Papier in seiner rechten Hand.

„Hab ich dir schon von der Inge erzählt?“

Seine Frau reagiert unvermutet schnell: „Wer will das schon wissen? Deine alten Geschichten, immer dieselben!“

Vater blickt auf, schweigt dazu und macht mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, ohne jedoch das Bild von Inge aus den Augen zu verlieren.

Er sieht seine Tochter an und ist für einen kurzen Moment wieder da. Der Vater mit seinem Blick, dem klaren Blick aus seinen ausdrucksstarken hellen Augen.

 

Die Zeit scheint still zu stehen. Langsam zieht es die Tochter in ein vergangenes Geschehen. Bild verbindet sich mit Bild, wird zu fortlaufenden Szenen.

 

Er hat ihr schon von Inge erzählt. Geschichten verbinden sich mit dem Foto und aus diesem erwächst ein Stummfilm. Einst durchlaufend vertont, droht dieser Film an verschiedenen Stellen zu reißen, oder er wird durch die Hitze des Vorführapparates schmelzen, zu einem schwarzen, ausgefransten Etwas, einem Loch. Aus dem mittig wiederum ein weißer Fleck, ein freier Raum dahinter sichtbar werden könnte. Ihr scheint es so, als säße sie in einem alten Kino, wo sich langsam der Vorhang vor der Leinwand beiseiteschiebt. Sie wartet.

Ihr Vater räuspert sich und nimmt sie mit in das Jahr 1943.

 

 

Im Hohen Norden

 

Eine Landschaft zeigt sich. Ohne Berge, Flachland mit hin und wieder eingestreuten Hügeln, bedeckt von weißem Schnee bis an den Horizont. Von Schneeverwehungen versteckte Krüppelbirkenhaine, vereinzelte Felsbrocken, Weite, Kälte, diesiges Licht.

Das Land der Mitternachtssonne. Finnland.

Sie kennt die Bilder ihres Vaters, seine Motive von der Tundra gespeist. Wie ein Puzzleteil setzt sie ihn hinein. Da steht er auf Wache. Später wird er das Lied „Es steht ein Soldat am Wolgastrand – hält Wache für sein Vaterland“ lieben.

Jetzt im Jahre 1943 ist er in einen dicken Innenpelzmantel mit Fellhaube gekleidet. An seinen Füßen Lederschuhe, die steif und kalt bleiben. Nur die in der Heimat von seiner Mutter gestrickten Wollsocken wärmen einigermaßen. Unter den Fußsohlen Eis und Kälte. Zwei Zehen sind erfroren, totes empfindungsloses Gewebe. Hier herrschen Temperaturen von minus fünfunddreißig Grad und mehr.

Die „Eismeerfront“, ein passender Name.

Sie fragt sich: „Was machen diese jungen Männer hier?“ Und ihr fällt ein Spruch von Ludwig van Beethoven ein, den er anlässlich der Uraufführung seiner siebenten Symphonie schrieb:

„Uns alle erfüllt nichts, als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben!“

Damals nach der Völkerschlacht von Leipzig. Jetzt mitten im Zweiten Weltkrieg an der Front, gilt wieder  dasselbe. Frieden scheint uns Menschen weniger zu liegen als der Krieg. Noch zwei Jahre wird er dauern, der totale Krieg – in diesem Jahr ausgerufen. Doch ihr Vater weiß nicht, wie der Krieg ausgehen wird, was aus ihm wird und ob er seine Heimat je wiedersehen wird. Er steht in der Kälte.

 

„Ich war so müde beim Wache stehen. Oft waren es zwei Tage und eine Nacht lang ohne Schlaf. Nichts war so schlimm, wie nicht schlafen zu dürfen.

Vor mir das Feindgebiet, die Russen. Bis auf hundertfünfzig Meter Nähe. Uns Wachen war es verboten, einzuschlafen. Darauf stand die Todesstrafe, denn ein unachtsamer Wachtposten konnte die ganze Kompanie gefährden. Meine Müdigkeit war zeitweise so groß, dass es mir egal war, ob ich dafür erschossen worden wäre.

Die Augen fielen mir zu und ich konnte sie im letzten Moment wieder öffnen. Manche von uns fielen einfach um, blieben schlafend im Schnee liegen, wo man sie dann am nächsten Morgen fand, erfroren. Ich wollte nur mehr schlafen, einsinken in warme weiße Wolkenfelder. In Wärme und Sonnenlicht liegen, geborgen, ohne Bedrohung von Feind oder den eigenen Leuten.“

Vater atmet schwer, reibt wie selbstvergessen seine Hände aneinander und erzählt weiter.

„Stell dir vor, hier herrschte im Winter ein halbes Jahr Dunkelheit mit einer zarten Dämmerung am Morgen. Damals war mir der eisige Wind ein guter Freund. Er schnitt in meine Wangen, drang durch die Fäustlinge, blies von unten in meinen Mantel den Körper aufwärts. Um nicht zu frieren, bewegte ich immer wieder die Beine von links nach rechts. Wir nannten das den „Tundratango“.

Wenn ich die Nordlichter in ihrer rasch bewegten, wechselhaften Schönheit sah, war ich getröstet.“ Das war endlich Licht, Farbe, unbeschreibliches Himmelsgeschehen.

Er dreht sich zu ihr, sein Blick ist weich, verschwommen, die Stimme bricht, wird rauer.

„Es war ein tägliches Warten auf Unvorhersehbares. Keinen Tag, keine Nacht war ich sicher, ob es meine letzte sein sollte.“

Sie fragt ihn: „Wie konntest du das auf die Dauer aushalten?“

„Ich habe immer im Augenblick gelebt. Dadurch hatte ich das Zeitgefühl ausgeschaltet. Vor dem Tod habe ich mich dann nach dem Krieg nicht mehr gefürchtet. Ich sah seine vielen Gesichter und habe später auch im Lazarett die Sterbenden betreut und sie bis zu ihrem Ende begleitet. Sie hatten letztendlich friedliche Züge und ihr letztes Wort war oft „Mama“. Man gewöhnt sich an Vieles.

Ich habe das Glück gehabt, unverletzt aus dem Krieg zurückzukommen. Seit dieser Zeit habe ich kein Problem mehr mich mit dem Tod auseinanderzusetzen.“

 

Mutter meldet sich wieder.

„Red‘ nicht schon wieder vom Krieg! Als ob es nichts anderes als Tod und Verderben gibt, ich kann es nicht mehr hören, deine ewigen Kriegsgeschichten!“

„Du hast ja recht, es gab auch heitere Momente.“

Wie schnell er eine Wendung vollzieht, wenn Mutter sie einfordert. Sie beobachtet wie Vater ein Lächeln auf sein Gesicht setzt und die Geschichte ins Positive lenkt.

Niemals will er Streit und Konfrontation. Harmonie ist sein Wunsch, auch wenn es Verzicht auf seine echte Gefühlswelt bedeutet. Also steckt er Gedanken, Worte über den Tod wieder weg und erzählt vom Holzstehlen, Schachspielen im Bunker.

Aber so leicht lässt sich die damalige Wirklichkeit nicht verstellen. Es drängt ihn zu reden. Da ist die Tochter, die heute zuhört. Das will er wahrnehmen.

„Die Briefe, das war immer ein Höhepunkt.

Die Post aus der Heimat. Manchmal kam sie wöchentlich, dann dauerte es wieder vierzehn Tage oder länger. Mit der Feldpost Nr. 24880. Briefe von Mama und Vater, meinen Schwestern, von Sophie, Astrid und von der Inge. Mama wollte mich nach dem Krieg mit Sophie verkuppeln, Gerüchte kursierten schon in Klagenfurt, bis ich sie mühsam widerlegen konnte. Ich und heiraten, damals undenkbar.

Aus den Briefen erfuhr ich, was daheim so los war. Ich schrieb nur Belangloses und beruhigende Worte. Viele Lügen, um sie nicht zu beunruhigen. Hätte nichts gebracht, nur Kummer. Sie aber schrieben sich alles von der Seele.

Besonders die Inge.

Sie beschäftigte mich, sie war anders. Schüchtern und dennoch irgendwie stark.

Ihre unschuldige Nähe gefiel mir. Doch ihre Briefe, die waren nicht unschuldig, schüchtern. Sie waren schwer, dunkel, gefüllt mit schwarzem Inhalt und Ideen vom Widerstand.“ Er stockt.

 

Bewegung des Herzens. Nach grauen Tagen. Ingeborg Bachmann

Eine einzige Stunde frei sein!

Frei, fern!

Wie Nachtlieder in den Sphären.

Und hoch fliegen über den Tagen

möchte ich

und das Vergessen suchen—

über das dunkle Wasser gehen

nach weißen Rosen,

meiner Seele Flügel geben

und, oh Gott, nichts wissen mehr

von der Bitterkeit langer Nächte,

in denen die Augen groß werden

vor namenloser Not.

Tränen liegen auf meinen Wangen

aus den Nächten des Irrsinns,

des Wahnes schöner Hoffnung,

dem Wunsch, Ketten zu brechen

und Licht zu trinken—

Eine einzige Stunde Licht schauen!

Eine einzige Stunde frei sein!

 

Inge, Inge sprach sein Innerstes an. Sie vermutet, dass es ihn geschmerzt hat, wenn er ihre Worte las, die klar von der Wahrheit im Krieg erzählten. Die Propaganda entlarvte und inneres Elend zur Sprache brachte. Der damalige Rudolf verbarg seine Emotionen geschickt und färbte sein blasses Gesicht mit einem tapferen rosa Schein, um auf seine Art zu überleben.

Später verstand er ihre Gedichte, doch er las wenig von ihr, der berühmten Frau aus Klagenfurt.

 

„Gib mir bitte ein wenig Wasser, mein Mund ist ganz trocken!“

Sie steht auf, reicht ihm den Becher an die Lippen.

„Danke“, er lächelt sie an.

„Ruh‘ dich etwas aus, ich bin ja da, du kannst auch später fortfahren zu erzählen.“

„Wer weiß, vielleicht vergesse ich bald meine Geschichten.“

Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. Sie muss sich kurz abwenden, um nicht ihre aufsteigenden Tränen zu zeigen. Wie lange noch, wer weiß wie lange noch?

Vater legt sich auf sein Bett. An den Wänden hinter und neben ihm hängen gerahmte Bilder aus seinem Leben. Ein Gruppenbild seines Männerbundes. Er vorne sitzend, das leuchtend weiße Haar und sein Lächeln hebt sich vom würdigen Ernst der übrigen Männerblicke ab. Einige Kinder und Jugendfotografien. Darunter eine Aufnahme im Wiener Prater, als so er um die fünf Jahre alt war. Angetan mit kurzen Hosen, einem Jopperl, im Hintergrund eine gemalte Szene mit See und Säule. Der ernste Blick, vom Fotografen angeordnet. Seine Haare kurz geschoren. Sie kennt die Geschichte dazu. Rudolf hatte einen Onkel und eine Tante in Wien. Diese durfte er manchmal besuchen. So wie in diesem Sommer, als das Foto entstand. Nach dem Stillhalten im Studio darf er mit dem Onkel in den Prater gehen. Rudi ist traurig, denn der Haarschnitt hat ihn tief traurig gemacht. So gehen sie an dem am Eingang stehenden großen Chinesenstandbild – dem Kalafati – vorbei zum Wurstelprater.

Rudi sitzt bald unter vielen anderen Kindern und freut sich auf das Puppenspiel. Der Vorhang öffnet sich und Hanswurst begrüßt die Kinder. Nach dem „Seid ihr alle da?“, ruft er in die Menge: „Jö, schau, da sitzt a Glatzata!“ Alle Kinder blicken auf ihn und lachen. Rudi springt auf und rennt davon. Später gehen sie nach Hause zu Tante Erna, die ihn mit einem warmen Kakao zu trösten versucht.

Dieser ehemals kleine Bub liegt nun als neunzig Jahre alter Mann schwer atmend auf seinem Bett im Pflegeheim. Die Jahre scheinen dahinzufliegen wie weiße Vögel auf ihrem Flug in den Süden. Aus der Kälte in die Wärme und wieder zurück, wenn es Zeit ist.

 

Ihr Vater zieht sich wieder aus dem Heute ins Jahr 1943 zurück.

Mit einem Ruck setzt er sich auf und blickt seine Tochter an.

„Dann hab ich sie getroffen. Ich war auf Heimaturlaub in Klagenfurt. Stell dir vor, was für eine lange Reise. Sechstausend Kilometer mit Schiff und dem Zug bis zum Hauptbahnhof  und zu unserer Wohnung vis-à-vis, der Bahnhofstraße fünfzig.“

Zeit für Begegnungen, die Eltern sehen, im eigenen Bett schlafen, Gemeinsamkeit und Ausgehen, um Mädchen und Freunde zu treffen. Weg von Kälte und Krieg, wenigstens kurzfristig.

 

„Hab‘ ich dir schon gesagt, dass ich ein guter Küsser war?“

„Rudi, hör auf, das ist nichts für deine Tochter!“, macht sich Mutter bemerkbar. Erst jetzt. Früher hat sie mitgehört, zwangsläufig. Sie kann nicht ausweichen, mit sich alleine sein. Außer er malt in seinem Atelier. Sonst sind sie aneinander gebunden. Beide in einem Zimmer, Tag und Nacht.

„Das war doch vor dir, du weißt doch „immer dein Rudi“, ab unserer Verlobung bis heute. Und geküsst hab ich dich ja auch!“

Keine Antwort erfolgt. Sie möchte sich auflösen in diesem Hin und Her, dem noch immer traurigen Spiel entkommen. Dazwischen scheint mein Platz zu sein. Geparktes Ausgleichen, vermitteln, harmonisieren aus tiefer Liebe zu den Eltern, sich selbst vergessend. Sie ist dergleichen müde. Die Tochter als Zünglein an der Waage der Beziehung.

„Die warmen Lippen eines Mädels spüren wollte ich und schöne Worte hören. Inge aber hatte so eine dramatische Ader, so wie du meine Tochter!“

Das brauchte sie gerade noch, eine Verbindung zwischen der Schriftstellerin und ihr. Vergleiche, Verwechslungen, Familienaufstellungen. Bitte nicht heute.

Ihre Lippen schließen sich, der Vater bemerkt es nicht. Er spricht mit und für sich.

Im Innen und im Außen. Das Unerhörte mischt sich mit dem Verlauteten.

Er erinnert einen Abend, holt ihn aus der Versenkung und erlebt aufs Neue.

Das Foto mit ihm und Inge zeigt Wirkung. Wieder einmal.

 

 

 

Rudolf zieht seine Ausgehhose und sein kariertes Sakko an. Er steht in der großen ebenerdigen Küche in der Bahnhofstraße fünfzig.

Am Küchentisch sitzt sein Vater auf der Eckbank und liest in einem Buch. Seine Mutter heizt den Kohleherd ein. Trotz Sommerabend ist es hier kühl und der Zichoriekaffee will noch mit heißem Wasser aus dem Wasserkessel aufgegossen werden. Das Feuer knistert und knackt im Ofenloch. Es riecht nach Holz und Rauch, klammen Mauern und Sparsamkeit. Ein Glas der Küchenfenster ist zerbrochen und notdürftig mit Zeitungspapier verdeckt. Glas ist nicht verfügbar. Aus dem Radio erklingt Liszt. Reichsnachrichten und Siegermeldungen. Ein Aufruf der Winterhilfe, jetzt schon Socken für die Soldaten im Norden zu stricken.

„Die halten leider zu wenig warm“, meint Rudolf, „aber besser wie keine Socken.“

„Ja, damals war ich immer froh Zivilkleidung zu tragen!“

Ich war sehr penibel, was meine Kleidung anbelangte. Das Hemd musste sauber und gebügelt sein, das Sakko ausgebürstet und die Schuhe auf Hochglanz poliert.

Die Bügelfalte meiner Hose war besonders wichtig. Ich legte meine Hose immer unter die Matratze und meine Körperwärme mit meinem Gewicht waren das beste Bügeleisen. Im Innenhof der Wohnung putzte ich meine Schuhe. Dank meiner Schwester, die einen Farbenhändler geheiratet hatte, war auch im Krieg Schuhpasta vorhanden. Draufgespukt-glanzpoliert mussten sie sein.

Später habe ich Inge aus der Henselgasse abgeholt. Zum Feiern mit Freunden bei Ribiselsaft und Ribiselwein. Ich weiß nicht mehr, ob wir damals auch was gegessen hatten, aber unser Lachen und die Gemeinsamkeit beim Tisch sind mir in guter Erinnerung. Auch der Duft der Mädchen und ihre Anwesenheit, so Seite an Seite, vergesse ich nicht. Damals wollte ich Inge bitten den Inhalt ihrer Briefe zu ändern. Keine solchen Gedichte mehr von schwarzen Vögeln und wogenden Leichenbergen.

Mein Lebensmotto war immer „nur der feige stirbt vor seinem Tode“, doch damals war ich feige. Ich war zu feige ihr zu sagen, dass ich ihre Briefe alle verbrannt hatte. So gaben sie wenigstens im Feuer des kleinen Metallofens im Bunker Wärme ab. Wärme, die ich damals so ersehnte.

„Wenn du damals gewusst hättest, wie berühmt sie einmal werden würde…“, meint seine Frau leise, „hättest du sie nur aufgehoben!“

„Bis auf ein paar Mal miteinander ausgehen ist aus uns beiden kein Paar geworden. So hab‘ ich dich getroffen und jetzt sind wir miteinander hier.“

Ruhe erfasst den Raum. Der Krieg verzieht sich wie dieser Abend in die Grauzonen des alten Mannes zurück. Es ist Zeit, die Eltern sich selbst zu überlassen.

Sie drückt ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn, dreht sich um und will sich noch von der Mutter verabschieden. Doch diese ist wieder in sich gekehrt und sagt noch: „Danke für deinen Besuch!“ Und sieht wieder verloren vor sich hin.

Sie legt der Mutter behutsam die Hand auf die Schulter und geht aus dem Zimmer. Hinaus auf den Gang. Hinaus aus dem Speisesaal. Hinaus auf den Parkplatz zu ihrem Auto.

Noch kann sie nicht fahren, sich von dem Ort verabschieden. Morgen komme ich wieder, kein Entkommen. Stellungskrieg.

 

 

Helene Gattereder – Bojazl

Helene Gattereder

Bojazl´s Reise nach Wien und nicht mehr zurück

 

Sie weiß ja, sie kann den Frauen von der Fürsorge nicht trauen. Die gut genährten, kräftigen Frauen. Die ihrer Tante, die im Dorf beim Fleischhauer als Dienstmädchen gearbeitet hat, ihr lediges Kind, das bei der Heli in ihrer Familie aufwächst, weggenommen haben. Wie sie in der Sonne neben dem Werkskanal von der Schule nach Hause geht, kommt ihr eine dieser Frauen mit der Kleinen am Arm entgegen. Die Kleine weint und streckt die Arme nach ihr aus, aber die Frau lässt sie nicht einmal das Kind angreifen. Der ledige Vater, bucklig, hässlich, und bei seiner Mutter lebend, hat das Kind beansprucht und bekommen.

 

Und jetzt schon wieder so was.

Ihr Vater, er ist aus dem Krieg als Blinder nach Hause gekommen, der nach der Scheidung in Wien mit einer anderen Frau lebt, hat jetzt zwei seiner fünf Kinder beansprucht. Sie muss mit ihrem großen Bruder nach Wien. Keiner hat sie gefragt, keiner hat ihr was gesagt. „Koffer packen, du fährst nach Wien und gehst dort in die Schule.“ „Jetzt, in den Semesterferien.“

Dann wurde noch schnell ein Foto gemacht, mit ihren Brüdern, hinter dem Haus im Schnee und ihrem Bojazl. Den hat sie im Sommer von der Freundin ihrer Mutter in Maria Saal, die auch Heli heißt, bekommen. Sie hat noch nie ein eigenes Spielzeug gehabt und deshalb liebt sie den natürlich sehr. Mit seiner roten langen Zipfelmütze, den Schlenkerbeinen und-Armen. Mit der schönen weißen Halskrause an Armen und Füßen. Alles Spitzenkrausen. Und sie gibt ihn keine Minute aus ihren Armen. Alle sind traurig, aber keiner weint. Nur Hansi ist den Tränen nahe. Er wird auch später leicht weinen und jung sterben.

Dann geht’s zum Zug. Mit einer Fürsorgerin. Sie ist diesmal aber jung, nett und hübsch.

Während der ganzen neunstündigen Fahrt nach Wien, spricht sie kein Wort. Steht die ganze Zeit am Fenster und schaut hinaus. Am Semmering ist Demarkationslinie. Die Russen kommen ins Abteil, sie fürchtet sich, sagt aber kein Wort.

Es ist Abend, als sie in Wien ankommen. Der Vater mit der neuen Frau holt sie beide ab. Vor dem Bahnhof ist ganz viel Licht, es leuchtet hell und es gibt viele kaputte Häuser.

In einem Vier-Familien-Gemeindehaus sind sie und ihr Bruder jetzt zu Hause.

Die Nachbarfamilie im gleichen Stockwerk hat zwei Buben. Der Vater ist ein bissl komisch. Sie denkt immer, er ist ein Russe. Der eine Bub hat ein schönes Buch, es handelt über Eisenbahnfahrten in alle Länder der Welt und wenn der Vater nach Hause kommt, dann bringt er immer Puppen mit. Er gibt ihr das Buch aber nur dann zum Lesen, wenn sie ihm dafür den Bojazl überlässt. Und als das Buch ausgelesen ist, gibt er ihr den Bojazl nicht mehr zurück.

Die Eltern streiten, Heli weint, aber der Bojazl bleibt für immer in der Nachbarwohnung.

Sie kriegt dann, an ihrem neunten Geburtstag eine Puppe. Sie hat Schlafaugen. Die aber bald stecken bleiben und damit dies nicht bemerkt wird, verschwindet die Puppe in einer Schachtel unterm Bett und wird zum Dauerschlaf verurteilt. Das fällt natürlich auf und wird schnell behoben. Ihre Brüder, die in den Ferien zu Hause sind, machen die Puppe dann ganz kaputt.

Das Zuhause in Wien gefällt ihr gut. Alles ist so sauber und sie hat schöne Kleider. In der Schule nimmt sie ihre Lehrerin einmal mitten aus dem Unterricht, sie gehen zum Direktor. Sie fürchtet sich, aber die Lehrerin will nur dem Direktor zeigen, wie gut sie lesen kann. Sie ist aber froh, als sie wieder in der Klasse war und nichts passiert ist.

In den Ferien darf sie mit ihrem Bruder wieder nach Hause. Sie dürfen aber nicht mehr zurück nach Wien, weil der Vater die Kinder nur gebraucht hat, um schnell und billig eine große Gemeindewohnung zu bekommen. Es war dann aber ein schöner Sommer mit Erika, Elke, Dagmar und den anderen, der einzige Sommer in ihrem Schulleben, den sie nicht bei einem fremden Bauer verbringen musste. Und das war sehr schön.