Mladen Savić: Nur ein Nachtrag

Das Ende ist nie das Ende. Ereignisse haben die sture Angewohnheit, nicht zum Erliegen zu kommen. Auf etwas folgt immer wieder etwas. Dies lässt sich sagen ohne nähere Bestimmung oder schlechtes Gewissen. Bewegung und nicht Starre definiert die Welt, wie das geschichtliche Denken anhand seiner Belege beweist – wenngleich es im Leben vorschnell scheinen mag, als würden die Dinge sich kaum ändern. In meinem Fall hat es sich begeben, dass ich während des Sommers doch noch in Kärnten verbleibe, allem voran aus Freude über gewonnene Freunde, über die Menschen hier und die natürlichen Reize, über Stadt, See, Wald und die Berge rundum. Es gefällt mir in der Gegend, und dies ist sozusagen mein trunkenes Glück, als ein schriftstellerischer und persönlicher Segen.

Die Sinngebung meines verlängerten Aufenthalts ergibt sich dabei aus der urteilenden Betrachtung der Ereignisse und nicht aus dem Sammeln von Fakten und Beschreibungen. Auch in der Auseinandersetzung mit allgemeinen Entwicklungen überwiegt weiterhin die Vorstellung, Geschichte im weitesten Sinn, bis hin zur Biografie, befinde sich entweder in einem fortschrittlichen Prozess auf aufsteigender Linie wechselnder Zyklen des Erfolgs oder in einem rückschrittlichen Prozess auf absteigender Linie vom „goldenen“ Zeitalter zum Untergang. Das Ganze ist viel komplizierter, versteht sich. Die gefühlten Sicherheiten und gedanklichen Gewissheiten in der Menschheit, deren Teil ich bin, sind längst aufgebrochen und angeknackst, aber an deren Stelle ist nichts getreten als die postmoderne Lobhudelei gegenüber der Ambivalenz. Kurz, gesellschaftlich ist die Verwirrung groß. Das Leben hingegen, durch und durch konkret und von ambivalenten Haltungen unbeeindruckt, drückt seinen Wesen die wesenhafte Gegenständlichkeit auf, wie jeder greifbare Gegenstand einen Schatten wirft. Heute ist noch die Luft zu atmen, der Körper bewohnbar, das Wasser trinkbar, der Boden bebaubar, das Getier benutzbar und die Nahrung essbar – und morgen?! Wir befinden uns ökologisch und darum auch geschichtlich kopflos auf steinigen Wegen.

Ich versuche mich nun in keinem Rückgriff auf zyklische Geschichtstheorien, in denen göttliche Vorsehung wie in der Antike, ein Walten von Fortuna und Kontingenz wie in der Renaissance und die Allmacht von Relativität wie in der Postmoderne den Fluss des Lebens zum Glücksrad führt, welches alles Erreichte entweder zunichtemacht oder in ein Treppenhaus des stufenweisen Fortschritts verwandelt. Abfolgen und Entwicklungen sind schier eine Tatsache, und die Erinnerung an ihre Phasen, Höhen und Tiefen erfüllt allem voran die Aufgabe, den Höchststand der materiellen und geistigen Möglichkeiten erkennen zu lassen sowie im prüfenden Rückschluss die Bedingungen festzumachen, die diese Möglichkeiten entweder befördern oder behindern. Dass, was meines Erachtens wahr ist, der weltgeschichtliche Höhepunkt im Sinne einer Spitzenstellung der Gegenwart fortwährend vom erneuten Absturz in die Barbarei, Entmenschlichung oder gar Vernichtung bedroht ist, kann meinetwegen in Abrede gestellt, aber nicht auf ein Neues in einen zyklischen Weltbrand samt Wiedergeburt gepackt werden, welcher dem Bild des Blühens und Welkens der Natur und Kulturkreise entspräche. Diese Idee hat ausgedient und sich bestenfalls im gegenwärtig lebensweltlichen Zynismus wiedergefunden, wonach die Menschheit auf der Erde einem vorübergehenden, zerstörerischen Virus gleiche, an dem sie leide.

Die Überzeugung eines zeitlosen Schicksals oder einer überzeitlichen Gemeinsamkeit gewisser Entwicklungsepochen hat lange der geschichtlichen Selbsterkenntnis konzeptuell den Blick versperrt und täte es immer noch, wenn man sich narrativ darauf einließe. Das will ich nicht; dafür ist mir die Welt zu wichtig. Ein objektives Urteil und eine perspektivische Wertung vergangener Epochen im Umgang mit Mensch und Natur läge erst dann in Reichweite, nachdem das Übergewicht traditionalistischer Denkformen und systemisch etablierter Lebensgewohnheiten abgenommen hätte – was ja nicht der Fall ist. Wie gesagt, will ich auch morgen noch mit Frischluft in der Blumenwiese und ohne Hautkrebsbedenken in der Sonne liegen können. Dass ich mir überhaupt derlei Gedanken machen muss, provoziert mich in Wirklichkeit, aber soll ausführlicher ein andermal erzählt werden. Auch ist es mir kein Anliegen, eine Lanze zu brechen für die lineare Fortschrittstheorie, welche überholt ist und bereits von Bernard Fontanelle im 17. Jahrhundert aufgedröselt worden ist durch die Feststellung eines stetigen Wachsens von Erfahrungen und Erkenntnissen, ungeachtet aller Rückschläge und Irrwege. Fontanelle führt als Voraussetzung für ein kontinuierliches Anhäufen von Erfahrungswissen und nützlichen Techniken das Argument der gleichbleibenden physischen Konstitution des Menschen an und als Bedrohung und Grund für das Scheitern von Fortschritt, abgesehen von barbarischer Gewalt, den mächtigen Einfluss von Tradition, Unvernunft und die Neigung geschichtlich starr eingefasster Subjekte, trotz besseren Wissens in den Bahnen des Angestammten und Gewohnten zu verharren.

Sein Zeitgenosse Jacques Bossuet, ansonsten Bischof, hat diesbezüglich in seinem „Discours sur l’histoire universelle“ einst zu Recht klargestellt, dass kein besseres Mittel existiert aufzudecken, „was die Leidenschaften und Interessen, die Zeiten und Umstände, die guten und schlechten Ratschläge vermögen“, als das Studium der Vergangenheit selbst: „Die Geschichte besteht nur aus den Taten derer, die sie beherrschen, und alles scheint für deren Gebrauch gemacht. Wenn die Erfahrung für sie vonnöten ist, um jene Klugheit zu erwerben, die gut regieren lässt, so ist nichts nutzbringender für ihre Unterweisung, als mit den Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte die Erfahrungen zu verbinden, die sie Tag für Tag machen.“ Mit anderen Worten, die Aussage enthält, von ihrer Unbeholfenheit hinsichtlich der Herrschaftsverhältnisse einmal abgesehen, Keim und Kern eines notwendigen Geschichtsbewusstseins, das uns heute noch helfen kann, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Der sterbende Planet Erde wird eines brauchen, das wir ihm im Idealfall bereitstellen könnten. Sonst ist der Naturschützer, wie Richard Schuberth mokiert, in der Tat bloß: „Aktivist, den sich das zu schützende Objekt leider nicht aussuchen kann“.

Auf jeden Fall sind, wie sich mehr und mehr abzeichnet, der Zweifel und das Unverständnis gegenüber den zukunftsträchtigen Möglichkeiten moderner, materieller Kultur mitunter dem geschichtslosen Bewusstsein zu schulden, das mit der bestehenden, instrumentellen Lebensweise unmittelbar zusammenhängt – auch darum, weil das Gegebene nicht ansatzweise am Möglichen gemessen wird, sondern sich anderen verkündeten Relevanzen und Imperativen verschreibt, etwa den weltwirtschaftlichen, den unternehmerischen, den besitzorientierten und dergleichen. Es ist an der Zeit, uns ernsthaft zu fragen, was im Gegensatz zur altbekannten, administrativen Flickschusterei uns optimale geschichtliche Perspektiven eröffnen könnte, damit wir die in der unumkehrbaren Vorwärtsbewegung beschlossene, tragende Tendenz des Geschichtsprozesses von heute nicht völlig verfehlen und uns sinnvolles, kollektives Handeln erlauben. Das notwendige Kettenglied des Gesamtverlaufs der Weltgeschichte, an der wir alle wohl oder wehe teilnehmen, sind wir selber – ganz gleich, ob wir sie nun aktiv schreiben oder passiv erleiden. Die Umwelt stellt insoweit nur die Rahmenbedingungen dar, unter denen wir weiterleben können, und die gesellschaftlichen Widersprüche, infolge derer das Ökosystem keucht und in letzter Konsequenz auch wir ächzen, spitzen sich sichtlich zu. Sogar die heutigen Kids, die durchaus brave Konsumenten verkörpern, schaffen es nimmer, ihre Sorgen darüber zu verbergen, wie viel Wirtschaft denn die Natur in Summe verträgt und worauf der Welthandel geschichtlich hinausläuft. Eine Entscheidung naht, die uns alle betrifft, und wir sollten es endlich zur Kenntnis nehmen. Fragt sich freilich: Ist Überleben überhaupt noch die ultimative Ideologie?

Der Philosoph Immanuel Kant hat, passend zu dieser Frage, Rousseaus Problemlösung zu Natur und Kultur, zu Gesellschaft und Individuum, zu Lebenszeit und Geschichtlichkeit folgendermaßen bejahend zusammengefasst: „wie die Kultur fortgehen müsse, um die Anlage der Menschheit als einer sittlichen Gattung zur ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, sodass diese jener als Naturgang nicht mehr widerstreite.“ Es geht in irgendeiner Form um Einklang und eine Dynamisierung des Weltverständnisses. Andere aufklärerische Denker wie etwa Baron d’Holbach haben das Streben der Menschen nach Selbsterhaltung, nach Befriedigung ihrer Interessen und Bedürfnisse und nach Verbesserung ihrer Lebensbedingungen als Triebkraft des Fortschritts angesehen. Nicht dass man mich missversteht: Ich habe keineswegs die Absicht, wie eine Art philosophischen Nostalgikers piekfein in die Posaune der Aufklärung zu blasen und so den moralischen Zeigefinger zu erheben. Allein, sogar die geschichtlich abgelaufenen Gedanken und zuweilen unausgereiften Konzepte bieten Anhaltspunkte zur Besinnung auf Elementarfragen, die als solche in unserem schnelllebigen Zeitalter nicht mehr oder bestenfalls in verkürzter Form gestellt werden. Oder, wie der große Herder poltert: „Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung, aber in einem höheren Sinne geben, als man’s gewährt hat?“

 

 

K O M M E N T A R von Gernot Waldner

Der Text beginnt damit, dass der Erzähler offen lässt, ob es sich bei ihm um ein Ereignis handelt oder nicht. Dafür, dass er ein Ereignis ist, spricht der Umstand, das Ereignisse persistieren, ebenso wie der Erzähler in Klagenfurt. Dagegen, dass er ein Ereignis ist, spricht die Aussage, dass es „im Leben vorschnell scheinen mag, als würden die Dinge sich kaum ändern“. Mit dieser Ambivalenz lässt der Erzähler die Landeshauptstadt Kärntens in dankenswerter Ungewissheit.

In Abgrenzung von zyklischen Geschichtsmodellen und Narrativen des Fortschritts oder des Verfalls, positioniert sich der Erzähler historiographisch. Ihm liegt daran, die Bedingungen der Möglichkeit von Entwicklungen festzumachen. Diese Position ist Teil einer großen Tradition in der Geschichtswissenschaft. Der Erzähler geht aber darüber hinaus, indem er auch eine Art Ziel seiner Analysen andeutet, nämlich „den Höchststand der materiellen und geistigen Möglichkeiten erkennen zu lassen“, aus dem „sinnvolles, kollektives Handeln“ folgen könnte. Ich bin gespannt, was For Forest von diesem Vorschlag hält.

Eine Passage, die mir in ihrer Abstraktheit nicht ganz einleuchtete, ist die, in der behauptet wird, das „geschichtslose[ ] Bewusstsein“ hänge mit der bestehenden „instrumentellen Lebensweise“ unmittelbar zusammen. Wegen der Lebensweise werde das Bestehende nämlich nicht am „Möglichen gemessen“, sondern stehe unter „weltwirtschaftlichen, unternehmerischen, besitzorientierten“ „Imperativen“. Dem widerspricht die Diagnose des französischen Kulturpsychologen Alain Ehrenberg: er geht davon aus, dass das Mögliche noch nie so eine große Rolle gespielt hat wie im Neoliberalismus. Jeder Beruf, jede Weiterbildung, jedes Projekt hat den Anschein des Möglichen – für Ehrenberg die Ursache der stetig steigenden Zahl an Depressionen, da die Arbeitenden Subjekte nie bei sich selbst ankommen und dazu verdammt sind, dank des Möglichen, im Zustand des eigenen Ungenügens zu leben. Es könnte immer mehr gehen. Dem könnte der Erzähler entgegnen, dass sich dieses Mögliche eben an unternehmerischen Zielen orientiere. Die pointierte Rückfrage wäre hier: Wie nähert man sich dem Möglichen konkret, wenn man kein Erzähler ist?

 


 

FOR FOREST – Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 7

Mladen Savić: Regenwetter vor dem Abschied

Der Mai ist vorbei und heuer eher kühl gewesen, zum Ausgleich sozusagen für den warm-trockenen, sehr sommerlichen April. Mir scheint, das Wetter spinnt wieder. Die Radiatoren bei mir zu Hause heizen zum Beispiel. Bis auf ein paar Badewettertage bislang ist auch die erste Junihälfte recht kalt ausgefallen – auf jeden Fall unter der erwarteten Durchschnittstemperatur. Das Klima, denke ich mir immer öfter, ändert sich sichtlich. Wohl muss es allen auffallen, auch wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt sein mögen. Die Jahreszeiten weichen auf und bilden keine festen Einheiten mehr. Die Temperaturschwankungen von Woche zu Woche, von einem Tag auf den nächsten sind vergleichsweise größer geworden – als neue Natürlichkeit im Ausschlagen der Kurve. Das Extrem nistet sich ökologisch in die Normalität ein und verkürzt so die Zeit zur natürlichen Anpassung.

Es regnet wieder, doch diesmal ausgiebig. Bis zur Berieselung prasseln die Tropfen abwechselnd auf den blechernen Fenstersims. Und obwohl ich Regen nicht sonderlich mag oder zu genießen weiß, muss ich zugeben, dass mich seine Klänge und sein Geruch auf eigentümliche Weise beruhigen. Der Natur tut es gewiss gut. Pflanzen brauchen eben Wasser. Überhaupt riecht die Luft dann frischer. Dafür ist der Himmel deutlich dunkler. Ich selbst freue mich mäßig, aber mein inneres Ringen mit den Witterungen belustigt mich auch irgendwie. In Voltaires philosophischem Wörterbuch findet sich die wendige Frage des skythischen Bauern Dundendak, gerichtet an den griechischen Theologen Logomachos, wozu ein Gebet zu dessen Gott schon tauge und mit welchem Recht man sich Sonne für die Laune wünschen könne, wenn der Nachbar sich Regen für Feld und Saat wünsche. Ähnliches spielt sich in mir ab, wenn der Verstand meiner trüben Stimmung spottet.

In zwei Wochen etwa sollte ich Celovec bzw. Klagenfurt wieder verlassen. Da kommt die persönliche Prise Trübsal wahrscheinlich her. Mein Mandat, wenn man so will, läuft hier aus. Im Gebäude des Musil-Instituts werden vor dem Herbst keine Veranstaltungen mehr stattfinden. Terminlich hat sich einiges verschoben. Die For-Forest-Villa, wo während der Corona-Krise Musikerinnen und Musiker ohne Einnahmen sich getummelt und für etwas Taschengeld ihre Lieder aufgenommen haben, wird mich vermissen. Unter ihnen hat es auch andere Künstlerinnen und Künstler mit würzig-interessanten Geschichten gegeben: professionelle Tontechniker mit absolutem Gehör auch für Zwischentöne, körpernahe Kunstprojektanten mit kaputten Brillen, schlitzohrige Theaterleute mit Eheproblemen, begabte Schauspieler mit einmaligen Sprechblockaden, Poeten des großen Blabla, Tänzer mit manischen Anfällen und ihre Verteidiger, Maler mit bäriger Stimme und großem Herzen.

Gefühlter Maßen habe ich kaum Zeit gehabt, Stadt und Leute genügend kennenzulernen. Die ersten Eindrücke formen sich bereits zu letzten. Doch das Glück, die Bekanntschaft besonderer Personen zu machen, die mir meinen hiesigen Aufenthalt mit wahrlich menschlichen Begegnungen versüßt haben, ist nicht von meiner Seite gewichen. In einem Atelier namens „Favela“ habe ich so etwas wie emotionale Familie getroffen, woran ich eigentlich gar nicht mehr glaube, und unabhängig von all den unmöglichen bis unheimlichen Zufällen, die dort zusammenlaufen, das gesellige Trinken als gesundes Ventil wiederentdeckt. Im Gasthaus „Pumpe“ habe ich in einem überdachten Innenhof unter einem Baum unlängst mit einem lieben Kollegen zu Mittag gegessen. Im berühmten Theatercafé, und dies wird womöglich eigenartig klingen, habe ich den gesamten Trupp der Kärntner Mondlandung miterlebt, samt Kamerateam, und auf Einladung eine dosierte Portion Gulasch gegessen. Das ist dort so.

Mein literarisches Engagement zu Umweltthemen, wie ursprünglich beabsichtigt, wirkt auf mich selbst im Nachhinein zum Teil unbeholfen und verworren: zu wenig von der Umwelt und zu viel von mir als Literat. Andererseits lässt sich das biologische Leben vom individuellen und sozialen niemals völlig trennen. Davon erhoffe ich mir Absolution. Die gemeinsamen Parameter von Mensch und Welt, welche die Biozönose als eine Gemeinschaft von Organismen bestimmen, könnten, sofern erkannt und anerkannt, auch zur Versöhnung von Kultur und Natur dienen. Wenn ich nur daran denke, dass da draußen in Form von Managementvorgaben, genannt ISO 14.000, internationale Normen zum Schutz der Umwelt vorhanden sind und über 50.000 verschiedene Organisationen in 120 Ländern, von UNEP bis WWF, die allesamt keinen praktischen Schritt weiter kommen unter den weiterhin unantastbaren Imperativen der Wirtschaft und des Handels – wird mir zuweilen regelrecht übel.

Fast fürchte ich mich davor, zu langweilen und mich zu wiederholen. Indes kann die Wahrheit, ob unbequem, beschwerlich oder verschüttet, nicht oft genug gesagt, ausgesprochen und nachgereicht werden. Mächtige Worte zur Verteidigung eines sinnvollen Zusammenlebens mit der lebenden Natur stoßen beim schlussendlichen Machtwort des Kapitals auf ihr eigenes, gestopftes Maul. In Krisenzeiten spürt man es mehr als sonst. Dafür bürgt der bürgerliche Staat, der das materielle Gefälle, die Warenproduktion und die Umweltzerstörung so verwaltet, dass das Toxische daran einstweilen massenhaft verträglich bleibt. Das Ganze läuft ungeachtet seines definitiven Ablaufdatums dennoch wie geschmiert. Zu schnellen Schlüssen lasse ich mich dadurch aber nicht verleiten.

Das ungeheure Anwachsen der postfaktischen Dummheit bedeutet keineswegs eine endgültige Zusage der Massen für ihr Programm, sondern lediglich eine unbewusste Absage an das bestehende, nationalstaatliche System und dessen Untauglichkeit für die gemeinschaftlichen Wege der Zukunft, und zwar auf allen Ebenen. Auch ist sie Ausdruck der Hilflosigkeit und Verwirrung von unzähligen Kleinbürgern, deren Aluminiumhüte auch in Demonstrationen vor der Kärntner Landesregierung aufblitzen und deren lächerliche Parolen gegen Impfpflicht und 5G-Hochfrequenzelektronik mehr von sagenhafter Unwissenheit und unverarbeiteter Bevormundung künden als vom reinen Wahnsinn. Allerdings ist es anderswo um das Bildungswesen und Bewusstsein noch schlimmer bestellt. In den Vereinigten Staaten von Amerika existiert sogar eine „Flat Earth Society“ mit Millionen Anhängern, wohlgemerkt: „all around the gobe“ …

Vielerlei müsste derweil bedacht werden, um in einer bewohnbaren, besseren Welt zu landen statt in einer mehr und mehr unbewohnbaren, verdummten, untergehenden: sozio-ökonomischer Hintergrund, Trinkwasserversorgung, Landflächennutzung, Waldzustand, Artenreichtum, Küstenlandschaften, Atmosphäre, urbane Gebiete, Mikroklima, industrielle Verschmutzung, Ressourcenabbau, Naturkatastrophen usw. Wenn ich mir auch nur flüchtig vor Augen führe, was denn alles zu bedenken und zu begreifen wäre, um adäquat zu handeln, welche Mengen an Wissen und aufrechtem Interesse vonnöten wären, um strategischer vorzugehen, wie sehr doch die Zeit drängt, um die Menschheit von Kapital und Idiotie zu befreien, wird mir stets ein bisschen schwindelig. Natürlich ist es machbar – nur eben nicht im Kapitalismus! Entweder siegt die Intelligenz, von der die meisten gerne behaupten, sie entbehre einer eindeutigen Definition, so als wäre sie dadurch hinfällig, oder wir verschwinden als Spezies allesamt. Dies ist meiner Meinung nach der springende Punkt in diesem Millennium. Dabei wissen wir das Wichtigste ohnehin, nämlich, dass niemand von dieser Erde entfliehen kann.

Die geografisch, klimatisch und historisch bedingte ungleichmäßige Entwicklung der Regionen, bekannt auch als Kolonialismus und Imperialismus, hat zuerst zu einem Ungleichgewicht zwischen Güterproduktion und Leistungsverteilung geführt und im Anschluss zu einem Missverhältnis zwischen sozialer Entwicklung und rationalem Umgang mit natürlichen Ressourcen. Abholzung und Brandrodung hängen auf diese Weise miteinander zusammen, die großflächige Ausbeutung von Bodenschätzen mit dem Verschwinden selbstversorgter Lebensweisen, die Bewässerung mit der Versalzung, die Umwandlung in Agrarflächen mit Landzerstörung usw.

Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen schlicht keine Vorstellung von den destruktiven Dimensionen haben, zumindest keine anschauliche in Zahlen. Sonst wäre Ernährungssicherheit als globales Zukunftsproblem für sie auch in der Provinz ein reges Thema. Land wird als Anbaufläche unbrauchbar infolge von Korrosion nach Bewässerungsmaßnahmen (56%), Erosion durch Wind und Wetter nach Abholzung (28%), Vergiftung nach Pestizidanwendung (12%) und anderen Formen (4%) nach Auslaugen des Bodens, Brandrodung usw. Faktisch handelt es sich um zwei Milliarden Hektar Agrarland, welche das kapitalistische System in den letzten vier Jahrzehnten zerstört hat (15% der agrarisch nutzbaren Erdoberfläche), wobei die Gesamtfläche der Erde, wo Boden unter den Füßen liegt, insgesamt 13,4 Milliarden Hektar beträgt. Weltweit sind nicht mehr als 1,45 Milliarden Hektar Ackerland übrig. Davon entfallen nur noch 260 Millionen Hektar auf menschliche Nahrungsmittel, bereits 55 Millionen Hektar auf Biotreibstoffe und üppige 1030 Millionen Hektar auf tierische Futtermittel. Ich selbst frage mich, wenn ich derlei Zahlen zusammenklaube, was das für mich hier und jetzt im Klagenfurter Umfeld bedeuten könnte, und fühle mich überfordert, sowohl informativ als auch emotional.

Vom dramatischen Waldrückgang ganz zu schweigen. Um 1900 herum sind 12% des Planeten mit Wald bedeckt gewesen, nunmehr sind es nur noch ungefähr 7,8%. Jährlich verringert sich der Regenwaldbestand um 12 Millionen Hektar mit steigender Tendenz. Aus einem mir nicht ganz einsichtigen Grund werden diese schwindenden Flächen in den Massenmedien meist in Fußballfeldern angegeben. Im Jahrestakt wird die Menge des in Wäldern gebundenen Kohlenstoffs um jährlich eine Gigatonne netto reduziert, was klimaaktiven Kohlensäure-Emissionen von vier Gigatonnen entspricht. Das sind für wissenschaftlich geschulte Ohren horrende Zahlen.

Die sogenannte Informationsgesellschaft ist, Hand aufs Herz, schlecht informiert in jeder Hinsicht und von notwendiger Allgemeinbildung und wissenschaftlichem Weltbild meilenweit entfernt. Zwar haben alle von saurem Regen schon gehört und wissen vage Bescheid um den Schaden am globalen Baumbestand. Die Säureskala mit dem ph-Wert von 1 bis 14 sagt ihnen höchstens vom Hörensagen etwas: 1 heißt sauer, 7 neutral und 14 alkalisch. Saurer Regen zwischen ph-Wert 5 und darunter vergrößert die Konzentration von Schwermetallen, verhindert das Aufgehen von Keimen, greift Rinde und Blattwerk an, wäscht aus der Erde zum Wachstum unverzichtbare Mineralien heraus und tötet mit einer Säurekonzentration unter 3 allerlei Bakterien, Pilze, Amphibien und Fische. Unter einem ph-Wert von 5 sterben Frösche, unter einem von 4 Forellen, unter einem von 3 jedweder Fisch und Meeresgetier, sodass selbst die Möglichkeit zur Bildung von Schalen und Krusten völlig versagt. So steht es also um unsere Nahrungskette. Bei diesen Gedanken blicke ich in den Himmel hinauf und hoffe auf eine prometheische Wendung, ganz gleich aus welcher Richtung. Was ich jedoch sehe, ist kein rettender Prometheus, kein leuchtender Perun oder polternder Thor, sondern allein dichte Wolken und graue Fäden voller saurer Regentropfen.

 

 

Kommentar von Gernot Waldner

Für mich war der stärkste Satz des ganzen Textes dieser: „Die ersten Eindrücke formen sich bereits zu letzten.“ Er fasst für mich den Duktus des Textes gut zusammen: Abschied von einem Ort zu nehmen, schärft die Wahrnehmung und lässt, wenn man fit genug im Kopf ist, auch unterschiedliche emotionale Perspektiven zu. Schade, dass Du den Umkehrschluss nicht diskutiert hast: wer immer am gleichen Ort lebt, sieht vieles nicht mehr. Sehr gelungen fand ich auch die Passagen, in denen Du die Leute aus der Villa beschreibst. Du schaffst es, mit wenigen Worten eine Person klar zu kennzeichnen, ohne ihren Namen zu nennen (Datenschutz), aber wahrscheinlich verrätst Du den Personen auch etwas Neues über sie selbst. Wärst du Pfarrer in Niederösterreich geworden, Bürgermeister und Bezirkshauptmann hätten große Angst vor Dir.

 

Was die Ursachen für die fehlenden Aktionen gegen die drohende Klimakatastrophe betrifft, werden drei Faktoren genannt. Erstens die Perpetuierung des kapitalistischen Systems, anschaulich dargelegt anhand von Zahlen, die die Vernichtung von Ressourcen und Lebensraum belegen. Zweitens, auf der Ebene der Menschen, das Anwachsen einer „postfaktischen Dummheit“, das von „unverarbeiteter Bevormundung“ und „sagenhafter Unwissenheit“ zeugt. Auch deshalb hätten, drittens, viele „schlicht keine Vorstellung“ von den Dimensionen der Zerstörung. Mir leuchtet das ein und ich stimme Dir zu, dass Wahrheiten wiederholt werden müssen.

 

In den 1970er Jahren soll es noch üblich gewesen sein, alte Kühlschränke direkt im Wörthersee zu entsorgen. Ich schreibe das, weil ich einmal evangelisch war, Du an einer Stelle „Absolution“ erhoffst und, wenn ich mich richtig erinnere, die Taufe die Voraussetzung für die Absolution war. Lieber Mladen, hoff Du kannst den Wörthersee noch genießen, Du wirst an seinen Ufern unvergessener bleiben als die Kühlschränke und es bleibt allen hier zu wünschen, dass auch Du wieder einmal auftauchst, um in Deiner umgänglichen Art auf falsche Prämissen und akkute Probleme hinzuweisen.

 


FOR FOREST – Serie mit dem Musil-Institut, Teil 6

 

25.06.: OPEN AIR Lesung & Musik mit Mladen Savić

OPEN AIR

LESUNG & MUSIK

mit
author@musil: Mladen Savić

Musik von Richard Klammer, Manfred Plessl und Martin Sadounik

 

Donnerstag, 25.06. 2020

18.00 Uhr

Villa FOR FOREST

Viktringer Ring 21

Eintritt frei – Spenden erlaubt*

 

Nach einer kurzen Buchpräsentation des im März 2020 erschienen Essay-Bands „Narrenschiff auf großer Fahrt“, moderiert von Walter Fanta, und anschließender Podiumsdiskussion findet eine öffentliche Lesung statt, in der unter der Moderation von Gernot Waldner Mladen Savićs Klagenfurter For-Forest-Texte vorgestellt werden,
gefolgt von einem ansprechenden Live-Konzert der Musiker Richard Klammer, Manfred Plessl und Martin Sadounik.

Begrüßungsworte: Anke Bosse, Leiterin Robert-Musil-Institut / Kärntner Literaturarchiv

 

 

Eine gemeinsame Veranstaltung von:

  • Robert-Musil-Institut / Kärntner Literaturarchiv
  • For Forest GmbH
  • Verein Innenhofkultur
  • Drava-Verlag

 

 

Wir freuen uns über Ihr und euer Interesse!

 

*Das Geld für die Spendebox wird an Wildnis Dürrenstein für ihr Projekt „Haus der Wildnis“ gehen. Das Wildnisgebiet Dürrenstein ist das einzige Wildnisgebiet Österreichs und wurde 2017 von der UNESCO zur ersten Weltnaturerbe Österreichs erklärt. Sie fokussieren auf die Sensibilisierung zum Thema Wald und sein Ökosystem.

Walter Fanta – Das Haus.

Walter Fanta

Das Haus

auf diesem Schwarz-Weiß-Bild bildet die Fassade für einen Moment aus der Mitte der 1960er. Etwas ist sichtbar, sehr vieles unsichtbar, was zu diesem Bild gehört und erzählbar wäre. Viele und lange Geschichten erregt das Bild, die mit dem Haus Münzgrabenstraße Nr. 114 zusammenhängen und den Menschen, die es bewohnt haben und bewohnen. Zwei von ihnen sind auf dem Bild sichtbar.
Das hübsche Mädchen in der Mitte mit den Zöpfen, mit dem Teddybären und der Trachtenjacke in den Händen, das ist meine Schwester Maria. Sie lächelt sehr freundlich in die Kamera, das tut sie heute noch gern. Ihr gehört jetzt das ganze Haus. Als Dank dafür, dass sie auf die Großtante schaute.
Die immer schwarz gekleidete und immer schlohweiße Tante Steffi wohnte damals in dem Haus, ihr Vater hatte es 1903 gekauft. Im Dachboden gibt es Kisten mit Dokumenten von diesem Urahnen, zusammen mit Marias Erinnerungen, daraunter auch denen aus ursprünglich Tante Steffis Mund, erzählen sie über das Haus die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Von Ausbeutung, Krieg, Überleben.
Die Tante Steffi auf dem Bild ist schon alt, sie ist in unseren Erinnerungen immer schon alt gewesen. Doch starb sie erst dreißig Jahre später in dem Haus. Die Großtante schaut nicht her, ihr Gesicht mit den wulstigen Lippen und den Brillen ist ganz dem Mädchen zugewandt, mit ihrem krummen Finger kratzt sie seinen Arm oder den Bauch des Teddys. Der war vielleicht ihr Geschenk.
Der Bub am Bild bin ich. Er schaut eher trotzig in die Kamera. Die Mundstellung deute ich heute als abweisend. Die Wolljacke – welche Farbe? ich erinnere mich nicht – ist gut zugeknöpft, auch der Hemdkragen bis obenhin. Auch die Schachtel unter dem Arm erzeugt einen Abstand. Wahrscheinlich war da mein Geschenk drin. Tante Steffi wurde dann später meine Firmpatin. Aufgezwungen, ich mochte diese Tante nicht, sie war mir unangenehm, unheimlich. Ich wollte mit ihr, mit dem Haus nichts zu tun haben. Hatte dann später auch nichts damit zu tun.
Als Volksschulkinder damals waren Maria und ich ein Pärchen. Nur vierzehn Monate treffen uns im Alter. Meine ersten Freundinnen bekam ich später von ihr. Als sie mit zwanzig zu Tante Steffi in das Haus in Graz zog, war das einer der Schritte der Trennung.
Mir fällt auf, dass die Tür des Hauses offen ist. Wir werden in den VW Käfer steigen (ganz links am Bildrand) und nach Villach fahren. Tante Steffi wird winken und dann gleich durch die offene Tür hineingehen und sich die steile, schmale Stiege hinaufschleppen.
Der unsichtbare Fotograf ist unser Vater. Er ist in dem Haus geboren. Eine dramatische Sturzgeburt auf der steilen, schmalen Stiege am 5. Februar 1931. Tante Steffi war dabei. Warum erzählt sie, dass Onkel Julius sein kleines Brüderchen, als er es in Blut und Schleim erblickte, gleich entsorgen wollte? Das ist eine der finsteren Geschichten, zu denen es keine Bilder gibt.