Paul Auer: FALLEN – Lesung des Autors

Am 28.04.2020 hätte Paul AUER in einer gemeinsamen Lesungsveranstaltung mit Norbert Kröll (Wer wir wären, Edition Atelier 2020) seinen soeben erschienenen Roman Fallen (Septime Verlag, 2020) im Robert-Musil-Institut vorgestellt.
Da die Buchpräsentation, wie alle weiteren Veranstaltungen bis 30. Juni, abgesagt werden musste, hat Paul Auer den Prolog und die Kapitel 1 und 2 aus seinem neuen Roman für das Musil-Institut eingelesen.

 

 

 

 

Im Leben des Mittzwanzigers Christian passieren seltsame Dinge. Seine neue Nachbarin hat rote Augen und beherbergt zwei geheimnisvolle Flüchtlinge. Immer öfter träumt er davon, wie die Geschichte Jesu nach der Kreuzigung weitergegangen sein mochte und spinnt sich in eine Sage über den Teufel ein, die seine Familie seit Generationen in Atem hält. Ein ominöses Foto bringt ihn und seinen Freund Stefan dann auf die Spur einer Verschwörung. Hatte Christian sich nicht längst mit seinem unspektakulären melancholischen Alltag arrangiert? Umso verstörender, welch unerbittlichen Sog die Fiktion ausübt, wie sie nach und nach die behagliche Normalität auslöscht. Bald wird ihm klar, dass er seinen ganzen Heldenmut zusammennehmen, die Grenzen seiner Wahrnehmung sprengen und sich seinen schlimmsten Ängsten aussetzen muss. Ist er in dem Spiel das Opfer oder ist er der Täter? Ist er wirklich der, für den er sich hält?

„Was habe ich von meinem Vater gewusst, was kann man überhaupt wissen? Niemand hat irgendwas gewusst. Ich weiß überhaupt nichts. Es gibt nur Hoffen, Fürchten, Glauben, und das ist das Schlimmste.“

Können wir die Bedingungen unseres Schicksals verstehen, und wie weit würden wir gehen, um herauszufinden, wer wir sind?
Ein märchenhafter Roman über die Wirkmacht von Mythen, Träumen und Traumata, über Identität, Entfremdung und die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Vor allem aber erzählt „Fallen“ von einer großen Freundschaft, einer Liebe, die jede Grenze, selbst die des Todes, überwindet.

 

Paul Auer: FALLEN (Roman)
Septime Verlag, Februar 2020
240 Seiten
ISBN: 978-3-902711-88-5

 


Paul Auer, geboren in Villach, studierte Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Nach zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erfolgte 2017 sein Romandebüt „Kärntner Ecke Ring“ (Septime). Er lebt als freier Schriftsteller in Wien und Millstatt.

Mladen Savić: Crusoe in Carinthia

Eine jede Stadt, sagt man gelegentlich, habe ihren Flair, ebenso wie die Menschen, die sie bewohnen und ausmachen, und es ist in der Tat schwer zu entscheiden, was schlimmer anmutet: der lokalpatriotische Stolz oder die Abwesenheit von Eigentümlichkeiten an Orten ohne besondere Note. Die besagte Besonderheit setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Dingen, die da hineinwirken, aus Geschichtsspuren und Raumentwicklung, aus Baustilen und Gassenbreiten, aus Sprachkolorit und Kulinarik, aus Landschaft und Vegetation sowie, versteht sich, aus dem allgemeinen Umgang im Alltag. Einen Ort könne man erst wirklich kennenlernen, heißt es entsprechend, wenn man mitverfolgt, wie die Leute in ihrem gewohnten Tun und Treiben ticken, kurz, wie die Stadt atmet, leibt und lebt.

Nun, die sonderbare Lage, in die ich hineingeglitten bin, die Sondersituation gesamtstaatlicher Quarantäne wird mich wohl um diese bereichernde Erfahrung, nach der ich mich eigentlich gesehnt habe, ärmer machen, wie nicht anders zu erwarten, abgesehen davon, dass ich finde, Örtlichkeiten aller Art seien gewissermaßen schön, spannend und genehm, solange man dort nicht Miete zahlen und dazu seine Brötchen verdienen muss, also so lange, bis man eine Meldeadresse und Sozialversicherungsnummer erhält, um endgültig zur amtlichen Statistik zu werden. Die Bedingungen ändern sich dann, und alle Romantik verfliegt recht rasch. Der Tourismus hat, so gesehen, seine Tücken und kann nicht nur ökologisch und virologisch bedenklich, sondern auch psychologisch problematisch sein: als verzogenes Glas mit Verzerrungen für den prüfenden Blick.

Weil es außerhalb der Städte und weitgehend urbanisierten Dörfer, etwa in den Weiten der Berge und Wälder, wo die Natur ganz unsentimental über Lebensqualität und Überleben richtet, keinerlei Kulturgüter gibt, weder die geschützte Bleibe noch das Essen aus dem Lebensmittelladen, keine Kneipen, Kinos und Theater, auch keine Bibliotheken, Krankenhäuser und Schulen, kann man auch sonst nirgends hin außer auf den bekannten Asphalt, sodass ich mir in meinen düsteren Stunden, an meinem eigenen Zweifel kauend, zuweilen denke, die Stadt sei, Obiges einmal mitgedacht, bloß ein Sammellager ohne Zäune – wohin denn auch! Nicht dass ich jemals mit Rousseaus kopflosen Pferden losreiten wollen würde, doch dieser Trojanische Esel, unerkennbar nur für Trottel, hat die Hochkultur von innen fest im Griff.

Wenigstens die hiesige Trockenheit und die vielen sonnigen Tage über dem üblichen Monatsdurchschnitt, unlängst zwinkernd unterbrochen durch zwei skurrile Kärntner Schneetage, verschaffen mir, wenn ich denn die leidige Klimafrage und die Waldbrände ausblende, eine höllische Freude in der Einsamkeit, zu der ich derzeit gezwungen bin. Nach dem Aufwachen, sprich, zwei Bananen und drei Kaffees später, schnappe ich mir meistens die Gitarre und setze mich in den wilden Garten der For-Forest-Villa, um darin erfolglos mit den geradezu unermüdlichen Vögeln um die Wette zu singen. Musizieren ist für mich Medizin. In Augenblicken wie diesen, da ich mich auf mich zurückgeworfen fühle, was mich übrigens noch nie grundlegend gestört hat, stelle ich mir dennoch die Frage nach dem Wesen und Preis der Zweisamkeit gleich mehrmals. Das Alter kommt immer viel zu früh, und ich frage mich in der unfreiwilligen Isolation freilich, ob ich in fortgeschrittenen Lebensjahren jemanden an meiner Seite haben werde oder überhaupt will, der mir zwischendurch ein Glas Wasser reichen oder eben ein Drama bereiten kann. Askese ist an sich nicht mein Ding, dafür Gesinnungsgleichheit und körperliche Nähe – eine lohnende Verbindung in Idealität.

Von der lebenden Stadt selbst kenne ich unweit meiner Kemenate hauptsächlich den neonbeleuchteten Supermarkt, den derzeit lebendigsten Treffpunkt, in welchem ich mich immer wieder beim Versuch ertappe, ähnlich den vereinsamten Wiener Pensionären die Mitarbeiter in Gespräche zu verwickeln. Es wirkt auf mich selbst zum Teil befremdlich, aber im Nachhinein ist es auch irgendwie vergnüglich, was für Inhalte und Gespräche in zeitlich gedrängter Form gegebenenfalls aufbrechen – kleine menschliche Begegnungen, die passieren, wie Einleitungen zu weiteren Vertiefungen, die schließlich nie stattfinden werden. Vielleicht mache ich mir mit derlei Gedanken bloß Mut und suche nach dem Teufel, der einmal mehr meine Gefühlssaite anschlägt und mir etwas vom Guten im Menschen erzählt. Bereits beim Schreiben dieser Zeilen bereue ich, unter Umständen wie alle anderen Seelenstriptease betreibenden Corona-Tagebücher zu klingen. Das will ich nämlich gar nicht, aber es liegt letztlich nicht an mir, darüber zu urteilen. Geschriebene Worte sind nur die eine Hälfte vom Erlebnis.

Jedenfalls verbringe ich vor lauter Aufregung und Ausnahmezustand ungemein viel Zeit damit, zwanghaft Zeitungen zu lesen, wenn ich nicht gerade, sobald nur die Sonne herunterbrennt, am Fahrrad durch die Gegend düse und absurde Denkmäler und Skulpturen entdecke: vom Hain der volksdeutschen Landsmannschaften, wörtlich Blume der Heimat genannt, bis hin zur eisernen Ästhetik einer interessanten Soldatenskulptur mit Wehrmachthelm vor der Handelsakademie. Dabei ist mir schon aufgefallen, dass abseits der landschaftlichen Naturschönheiten – und ich muss zugeben, die in den Himmel ragenden Bergketten um die Stadt herum sind imposant – gerne auch von einer eingekochten Vergangenheit gesprochen wird, von Abwehrkampf ohne Erwähnung des Angriffskriegs zuvor, von Zusammenhalt gegen jemanden, von Freiheit ohne nähere Bestimmung, aber mit einer deutschnationalen Prise hin und wieder. Es ist kaum zu verbergen, sogar in einer ausgestorbenen Stadt wie jetzt.

Erwin Ringel hat, die lokale Sangesfreudigkeit lobend, einst gemeint, herauslesen zu können, dass die Kärntner Kinder auch laut sein dürfen, was angeblich zum Ausbruch aus der österreichischen Zwangsjacke führe, aus der Enge autoritärer Erziehung, in welcher seelisch von Kindheit an Stille herrschen muss und Eltern gefälligst ihre Ruhe haben wollen. Immerhin, der hiesige Menschenschlag sei freier, lauter, lebendiger, weniger im Unterdrücken der inneren Regungen verwurzelt und daher mehr in der lustvollen Durchdringung des Lebensraums. Ich kann ihm glauben oder nicht. Der Abgleich mit der Wirklichkeit bleibt mir als Vergleich verwehrt. Wie die Kärntner Seele nun beschaffen ist, werde ich ein andermal erfahren, wenn die Leute wieder die Öffentlichkeit erobern und ungehindert und ohne Erlaubnis von oben auf Wiesen und Parkbänken sitzen dürfen. Heimat heißt hier und heute, vorerst aus Österreich nicht legal ausreisen zu können …

Selbstverständlich könnte ich stattdessen über positivere Entwicklungen sinnieren und mich ein bisschen darüber freuen, dass die Umwelt sich im Stillstand der viralen Krise kurzfristig erholt, dass, zum Beispiel, durch den Wegfall des Smogs zum ersten Mal seit dreißig Jahren vom nordindischen Pathankot aus plötzlich das Himalaya-Gebirge aus der Ferne sichtbar wird. So sollen schon Delphine in den Kanälen Venedigs gesehen worden sein, doch soweit ich weiß, dringen die sogenannten großen Tümmler, wenn auch selten, höchstens zur Lagune vor. Und ich verstehe das breite Bedürfnis nach guten Nachrichten, Hoffnung und Trost in dieser misslichen Lage vollkommen. Indes, mich beschäftigt, da selbige mir nicht schmeckt, nun einmal weit mehr, ob die Flucht aus der strengen, städtischen Zivilisation als Möglichkeit übrigbleibt, denn brüchig ist sie längst geworden, und ob sich die Fichten in den Wäldern doch noch überzeugen ließen und immer noch Gämsen in den Lawinen finden würden.

 

 

Kommentar von Gernot Waldner

Abstrakt betrachtet beginnt der Text in aristotelischer Weise mit der Suche nach einem dritten Weg, indem er unterschiedliche Extreme zu vermeiden versucht: weder Lokalpatriotismus noch Non-Places (Marc Augé) bejahen, weder Staatsbürger noch Tourist sein. Diese Reflexion endet nicht aus gedanklicher Konsequenz, sondern abrupt mit einem klimatischen Standbild aus mit Gitarre begleiteter Einsamkeit, in die der Erzähler durch die derzeitige Situation „gezwungen“ wurde.

Gregory Bateson hat in einem seiner Aufsätze zwei Arten von Lernen unterschieden,

die beide diesen Übergang ausdeuten könnten. Beide Arten von Lernen ersetzen die gedanklichen Alternativen, mit denen man Erlebnisse versteht (Lokalpatriotismus – Non-Places) durch neue (Bürger und Tourist).

Während die erste Art von Lernen aber nur zwischen bekannten Alternativen wechselt, ist letztere ein radikalerer Wechsel des Systems von Alternativen, ein bewusster Bruch mit bewährten Interpretationen.

Letztere Art des Lernens ist nach Bateson sehr selten, hat in seiner Seltenheit häufig pathogene Tendenzen, gleicht religiösen Bekehrungen und Erlebnissen der Erweckung. Letztere Interpretation könnte auch dem Bischof von Kärnten mitgeteilt werden, sofern die Anspielungen auf Franz von Assisi mit den der Villa For Forest    benachbarten Schulschwestern vom Heiligen Franziskus abgestimmt werden.

 

Ein Absatz widmet sich Erwin Ringel, dem großen Individualpsychologen, der die österreichische Seele für heilbar hielt. Nur drei Absätze nach dem eigenen Gesang wird hier Hoffnung in die Sangesfreudigkeit der Kärntner Kinder gesetzt, deren Lautstärke die Stille der autoritären Erziehung aufbrechen könnte.

Ich denke, ich muss hier Ringel nicht widersprechen, wenn ich auf die Aspekte des Kärntnerliedes hinweise, die eher wenig zum Abbau der autoritären Einstellung  beitragen: musikalisch die Vorsänger-Stimme (nach einem weiteren „Nachbar“, Thomas Koschat), „der intellectuelle und actuelle Führer“ eines Vier- oder Fünfgesangs, die sozialen Folgen der Lieder, die, neben vielem anderen, die Verdrängung des Slowenischen zu einem psychischen Breitenphänomen machten, und die Inhalte der Texte wären hier auch auf ihre Wirkung hin zu analysieren. Ansonsten bliebe der Hinweis auf die Lautstärke ein isolierter Vergleich, wie der Umstand, dass Death Metal noch lauter ist oder dass auch Koschat im fünften Wiener Gemeindebezirk wohnte.

 

Der letzte Absatz des Textes kommt kurz auf ein medial sehr wirksames Motiv zu sprechen, „nature is healing“, liest man oft im Internet. Über diese „guten Nachrichten“, nach denen man sich sicherlich sehnt, wüsste ich gerne mehr. Zwei Thesen, die sich aus diesem Motiv ableiten lassen, wären die folgenden:

1) Wir sind der Virus. Wenn man uns wieder frei lässt, geht es der Natur wieder schlechter, deshalb freuen wir uns für die Natur, so lange wir mehr Zeit dafür haben, ihr weniger Schaden zuzufügen.

2) Wir sind schrecklich gesund. Ohne die rücksichtslose, landwirtschaftliche und industrielle Unterdrückung der Natur, wäre es nie zu diesem Leben gekommen, das wir alle als normal annehmen. Unserem schlechten Gewissen geht es daher besser in der neuen Unfreiheit.

Ich halte beide Thesen für falsch, wie sich der Autor@Musil zu ihnen positioniert, werden wir vielleicht im nächsten Beitrag erfahren.

 

 


FOR FOREST-Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 2

 

Lena Leitner – Die Taufe.

Lena Leitner

Die Taufe

 

Auf dem Foto sieht man zwei Mädchen, beschützt von ihrem Vater und ihrer Mutter. Die jüngere Tochter wird heute getauft, es ist meine Mutter. Ihr Name wird Maria sein. Ihr ganzer Name, Maria Schmidt, sie ist die dritte Generation von Mädchen, die diesen Vor- und Familiennamen tragen.

Die erste war meine Urgroßmutter, Maria Schmidt, dann meine Großmutter, die auch Maria Schmidt hieß, und nun wird auch dieses kleine Mädchen, meine Mutter, diesen Namen ebenfalls bekommen. Die Taufe fängt um 13:30 im Stephansdom an. Nach der Taufe wird es im Innenhof meiner Großeltern ein lustiges Fest geben.

Meine Großmutter hat überhaupt keine Ahnung was sie anziehen soll. Sie steht vor dem Spiegel, doch nichts fällt ihr ein. Schließlich entscheidet sie sich für eine graue Bluse und eine Perlenkette, nobel nobel. Ihre Töchtern ziehen weiße Kleider und ihr Ehemann einen dunklen Anzug an.

Es ist 13:00, alle sind aufgeregt. Nur noch dreißig Minuten. Meine Großeltern, ihre Töchter und ein paar Gäste werden von einem bunten Bus zum Stephansdom gebracht.

Die erste Maria Schmidt, meine Urgroßmutter ist auf dem Bild nicht sichtbar, sie lebt bei Ihrem Sohn, meinem Großvater. Ihre Traurigkeit ist immer spürbar. Sie war Jüdin, ist knapp den Nazis entkommen, hat zwar überlebt, aber viele Familienmitglieder und Freunde verloren. Sie ist fast immer still und entzogen. Meine Großmutter, die zweite Maria Schmidt, ist auf dem Foto erkennbar, sie wird eine unpolitische, manchmal lustige aber oft sehr schwierige Mutter.

Meine Großeltern haben meine Mutter zum Taufbecken begleitet. Das kleine Mädchen strahlte wie die Sonne. Alle in der Kirche standen auf um Respekt und Ehrfurcht zu zeigen. Die Taufe dauerte ungefähr eine halbe Stunde, nach der Taufe gab es ein Fotoshooting und dann fuhren alle zum Haus meiner Großeltern. Es ist ein schöner und angenehmer aber auch stressiger Sonntag für meine Großeltern.

Sie besitzen eine Bäckerei und Konditorei, dadurch ist es viel leichter für sie Essen zu organisieren und ein tolles Buffet aufzubauen. Im Innenhof standen zwei lange Tische mit weißen Tischtüchern, dekoriert mit Blumen und Obst.

Die Erwachsenen und die Kinder hatten jeweils einen eigenen Tisch damit zwischen allen Kontakt und Freude entstehen kann. Es ist 15.08, alle genießen das Fest. Für die Kinder wurden lustige Spiele vorbereitet und die Erwachsenen konnten in Ruhe

ihre schönen, brillanten und langen Gespräche führen. Es ist Abend geworden, die Gäste haben sich verabschiedet, und alle fanden die Taufe und das Fest wunderbar. Am Ende dieser Feier entstand auch das beigelegte Foto mit meiner Mutter.

Ich bin die vierte Frauengeneration die den Namen Maria Schmidt übernehmen sollte. Meine Mutter hat jedoch entschieden, dass diese Namenstradition unterbrochen wird und ich nicht Maria Schmidt heißen soll.

 

 

Anna Dragaschnig – Vier Blumen vor dem Krieg.

Anna Dragaschnig

Vier Blumen vor dem Krieg

 

Oft fragt man sich, was Blicke sagen wollen. So individuell und doch so monoton. Augen, die einen anschauen, ganz ruhig und verlassen, auf einem alten Foto. Auf einem alten schwarz­ weiß Foto meiner Vorfahren. Irgendwann vor dem zweiten Weltkrieg oder vielleicht schon mittendrin.

Sechs kleine Augenpaare schauen mich an. Sie beobachten mich, starren auf mich, als ob jedes seine eigene Geschichte erzählen möchte. Eine ganz andere und persönliche Geschichte. Ich kann sie nicht hören, ich kenne sie nicht. Niemand kennt die wahren Geschichten und niemand kann sie hören. Sie werden sanft vom Wind getragen, vorbei an den alten Höfen, auf denen sie geboren wurden, auf denen geschuftet wurde, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Manchmal hört man sie pfeifen, manchmal rascheln und doch bleiben sie immer im Geheimen und niemand wird sie je erfahren. Es sind die Erinnerungen der Vergangenheit, die nur vage von Verwandten und Bekannten weitererzählt werden, ganz vage und ganz unpersönlich. Sie werden einsam weitergegeben, denn ihr Herz und ihre Seele sind irgendwo weit weg und eines Tages werden wir sie vielleicht wiederfinden.

Noch immer beobachten mich die Blicke. Immer tiefer schauen sie in mich hinein. Irgendwie müde und irgendwie traurig und doch so liebevoll. Die kleinen Augen der Mutter wirken erschöpft und ihr Gesicht sieht alt aus, ein bisschen faltig, ein bisschen geschwächt und trotzdem trägt sie dieses liebevolle kleine Lächeln auf ihren Lippen. So klein, dass man es kaum sehen kann und doch ist es da, das scheinbar unwichtige kleine Lächeln, das einem das Gefühl von Geborgenheit gibt. Die Mutter trägt ein schönes, dunkles Kleid. Es ist ein besonderes Kleid, das sie bestimmt nicht jeden Tag trägt. Einzig ihre Schuhe erinnern an den Alltag. Sie sind abgenützt und alt, doch das stört nicht. Auf ihrem Schoß sitzt ihre jüngste Tochter, die sie zärtlich im Arm hält. Das kleine Mädchen blickt düster und unter ihren Augenbrauen liegen dunkle Schatten. In ihren Händen hält sie eine Blume. Die erste Blume. Die erste Blume, die dem Bild einen Hauch von Freude und Freiheit und Lieblichkeit verleiht.

Auch die Hände der drei weiteren Kinder zieren Blumen. Schöne Blumen. Schöne, blühende Blumen, die den Kindern ein bisschen Kindlichkeit schenken und den Eltern ein klein wenig Härte aus ihren kalten, ängstlichen Gesichtern nehmen.

So sieht sie mich an, die Familie. So harmonisch, wie der Vater die kleinen Händchen seiner Kinder an sich drückt, als wären diese sein ganzer Stolz, als wären sie sein weiches Herz. Sein weiches Herz hinter einer schützenden Hülle. Sie ist nicht streng, nein. Nur irgendwie hart und doch so harmonisch und doch so lieblich. Als wäre er eins mit den Blumen. Als wären sie alle eins mit den Blumen, ganz tief in ihrem Inneren. Sie können es nur nicht zeigen.

 

Die Familie (meine Urgroßeltern und ihre Kinder) lebte auf einem Bauernhof am Land wo der Vater nebenbei eine kleine Sparkasse führte.

Insgesamt hatten die Eltern sechs Kinder, die alle um 1930 geboren wurden. 1937 starb die Mutter.

Wenige Jahre später, 1942, wurde die Familie ausgesiedelt und kam in ein Arbeitslager.

1945 durfte sie gemeinsam wieder zurück auf ihren Hof. Drei Jahre später starb der Vater.

Heute sind alle Familienmitglieder verstorben.

 

 

Geschichten wurden nur vage weitergegeben. Ganz vage und ganz unpersönlich und doch irgendwie ein bisschen lieblich. So lieblich wie vier Blumen vor dem Krieg.