Wieder und immer wieder, genauer gesagt, jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse oder eben in meine Residenz am Viktringer Ring zurückkehre nach schönen Ausflügen und ausgiebigem Feiern, bin ich überrascht und überwältigt von dem Farbenreichtum und der Üppigkeit des wilden Gartens, der nicht nur für mich einen Zufluchtsort im Stadtzentrum darstellt, eine wahre Oase für Ruhe und Rückzug, sondern auch ein wertvolles Habitat für eine ganze Reihe von Vögeln, Säugern, Amphibien und Insekten.
Über Monate hinweg, in denen ich hier hause, ist es mir möglich gewesen, diesen gleichsam antiautoritären Garten, natürlich wachsend und selbständig sich anordnend, wie er, abgesehen von kleineren Eingriffen, ist, nach und nach zu beobachten. Radial sind manche Stauden größer geworden, doch das horstig wachsende Dickicht bleibt überschaubar. Die Laubbäume mit ihren saftigen Kronen wiegen sich im Wind und säuseln eine Melodie, fast so alt wie das Wellenrauschen am Wasser seit Urzeiten. Vor mir erstreckt sich, versteckt hinter Villa, Radweg und Straße, eigentlich eine Nische für Flora, Fauna und Biodiversität.
Wo im Frühling noch dicht verstreut am Boden lauter Blütenblätter gelegen sind, als Notblüten wahrscheinlich, weil das Wetter spinnt, dort unter dem Magnolienbaum, wo ich gerne sitze und raste und entspannt in die Welt hinausschaue, grünt nun alles. Früher sind da flauschige Samen zu finden gewesen, von Kuhschellen, glaube ich, und Mutterkraut, das irgendwie an Gänseblümchen erinnert und den Schnecken angeblich verhasst ist, und Löwenzahn, der eine Leber schützende und Krebszellen hemmende Wirkung hat und bekanntlich für den Salat verwendet werden kann.
Man stelle sich bloß einmal vor: Ein Bienenvolk muss ungefähr 50.000 bis 100.000 Löwenzahnbesuche durchführen, um ein einziges Kilogramm Honig daraus zu gewinnen. Schon die Größenordnungen übersteigen meine Vorstellungskraft, von den weltweit jährlich produzierten 1,8 Tonnen süßer Köstlichkeit ganz zu schweigen … Und je diverser die pflanzlichen Arten vor Ort, von dem sich Bienen dann den Nektar holen, desto besser und schmackhafter der Honig! All das wäre ohne derlei Nischen, die ja Lebensräume für die Tiere sind, viel schwerer.
Andere krautige Blütenpflanzen scheinen einander im Garten der For-Forest-Villa an Präsenz und Farbenpracht überbieten zu wollen, und auch der angepflanzte Meerrettich, wie ich sehe, hat an Größe deutlich zugenommen. Überhaupt stellt dieser Ort eine Ausnahmeerscheinung dar mit all seinen pflanzlichen Gartenvagabunden, die ich seit meiner Ankunft im Frühling erspäht habe: dunkle Akeleien und helle Christrosen in engen Spalten, Krokusse in der Wiese, Dahlien mitten im Gebüsch, Lilien am Teich und duftender Lavendel, der in mir, solange er nicht im Kleiderschrank liegen muss, um die Motten zu vertreiben, aromatisch so etwas wie mediterrane Lebensgeister weckt.
Ich mag es sehr. Manchmal bedauere ich, kein Gärtner geworden zu sein, der sich mit Pflanzen praktisch auskennt – ein bisschen zumindest. Als Stadtkind hat so ein Wissen, eines über Hortikultur nämlich, auf mich meist wie ein Vorzug gewirkt gegenüber dem Kennen aller Automarken oder Fernsehserien, wie es für die Bewohner der Betonwüste üblich ist. Ansonsten neige ich nicht zur Romantisierung der sogenannten Bodenständigkeit und Naturnähe. Ein wilder Garten indes ist ein großes Glück!
Darüber hinaus, wie ich bei Gelegenheit anmerken möchte, fördert die wissenschaftliche Forschung von heute zutage, dass das berüchtigte Spielen im Dreck, was Kinder gemeinhin lieben, und das gärtnerische Wühlen in der Erde mit nackten Händen tatsächlich gesund seien, und zwar insofern, als sich im Boden ein gewisses Mycobacterium vaccae befindet, welches den besonderen Effekt aufweist, physische Schmerzen zu lindern und das emotionale Wohlbefinden zu unterstützen. In Testversuchen soll das interessante Bakterium aus dem Erdreich ähnliche Erfolge verzeichnet haben wie künstlich hergestellte Antidepressiva, in erster Linie wegen seiner Förderung der Balance im Immunsystem sowie der Serotoninproduktion im Gehirn. Unglaublich!
Tatsache und ebenso einleuchtend ist, dass heimische Pflanzen, die sich eigenständig ihren Standort suchen, entsprechend perfekt daran angepasst sind. Wörtlich haben sie weise gewählt, denn das Sinnvolle setzt sich durch. Stets setzt die lebendig-dynamische Pflanzenverwendung einen bestimmten Kreislauf voraus: passender Standort und Nachbarn – Blüten – Insekten – Bestäubung. Selbiger ist Voraussetzung für einen gelungenen Garten. Vom Sommer bis zum Herbst findet man an den verblühten Blüten und ausgetrockneten Beeren verschiedene Vögel wie Amseln und Finken, beispielsweise an Distelarten. Ab Herbst essen Käfer, Mäuse und Bilche die vorhandenen Samen oder sammeln sie als Futtervorrat für den Winter.
Es ist rechtens, auch hierorts von einem standortgerechten Wuchs zu reden, wenn Pflanzen sich ihr Plätzchen selbst aussuchen, auf natürliche Art und Weise, ohne allzu viel äußeren Zwang. Dieser Zugang offenbart zugleich ein mikrosoziales Bekenntnis zum ökologischen Gleichgewicht im gegenwärtigen Gezerre zwischen Natur und Kultur. Die menschlichen Störungen dieses Gleichgewichts durch die Einführung invasiver Arten haben anschaulich gezeigt, was für gefährliche Folgewirkungen dabei auftreten können: bei Tieren die geschichtlich berühmte australische Hasenplage aufgrund fehlender, natürlicher Feinde und bei Pflanzen in Europa nunmehr die ungebremste Ausbreitung der amerikanischen Lupine oder des japanischen Staudenknöterichs auf Kosten anderer Vegetation.
Die Gartenkunst als solche gibt es schon lange. Die mehr als 4000 Jahre alten Felsengräber im ägyptischen Benni Hassan belegen mit ihren Abbildungen ein kultisches Anlegen von Gärten, da im antiken Ägypten die Bäume allgemein als heilig gegolten und, neben dem zur Schau gestellten Wohlstand, auch das religiöse Versprechen der Wiedergeburt symbolisiert haben. Auch daheim am alten Kontinent haben sich nach der Verwüstung Roms über Jahrhunderte allmählich die Mönche zwecks landwirtschaftlicher Unabhängigkeit Nutzgärten und später Aristokraten Lustgärten zu kontemplativ-ästhetischen Zwecken angelegt, angefangen mit Charlemagne alias Karl dem Großen, einem persönlichen Freund des Kalifen Harun ar-Raschid, der ihm großzügige Geschenke gemacht hat – so allerlei, von einem weißen Elefanten bis hin zu feinsten Früchten und Zierpflanzensamen.
Der Garten hat einstmals den greifbaren Gegensatz zur ungezähmten Naturlandschaft verkörpert, wobei das Geometrische daran, von Versailles bis Schönbrunn, als ein Ausdruck des Kultivierten und Veredelten, des bewusst Künstlichen gelten soll. Die konzeptuelle Beschränkung allein auf Struktur, Gestalt und Geometrie reicht nicht aus, um den Begriff des künstlichen Objekts abseits seiner Funktion sinnvoll herauszuschälen. Doch fest steht, wie Jacques Monod einmal gesagt hat, dass „der Ordnungsgrad selbst des einfachsten Organismus unvergleichlich viel höher ist als der eines Kristalls“, welcher „makroskopischer Ausdruck einer mikroskopischen Struktur“ ist – auch wenn ein Außerirdischer zu Besuch auf unserem Planeten die regelmäßige, kristalline Form anfänglich wohl kaum für eine natürlichen Ursprungs halten würde. Auf ähnliche Weise ist der Ordnungsgrad eines Waldes um ein Vielfaches höher und komplexer als der eines von Menschenhand angelegten, begehbaren, botanischen Gartens.
Heutzutage, da überhaupt wenig Wildnis in der Landschaft und wenig Natürlichkeit im menschlichen Lebensraum anzutreffen ist, sondern hauptsächlich artifizielles Umfeld, steigt wieder der Wunsch nach dem Unberührten, das teils sich selbst überlassen wäre, nach dem Ausgleich von Natur und Kultur. Dieser Wunsch kündigt sich an als kollektiv unbewusste Gegenwehr zur übermäßig geometrischen Architektur und zur Strenge und begleitenden Lebensfeindlichkeit gängiger urbaner Planung.
Ohnehin strotzt der Alltag vor statischen, monotonen und berechenbaren Formen, in nahezu jeder Hinsicht. Doch das Bedürfnis im Menschen, sich Lebensbereiche zu schaffen und frei zu räumen, in denen dennoch eine natürliche Dynamik und eine naturverbundene Ästhetik herrschen, ist als Anlage vorhanden und bleibt uns, solange wir wahrlich Menschen sind, auch erhalten. Darum möchte ich die impliziten Wertigkeiten des Antiautoritären, obwohl es nur den Garten betreffen mag, in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen: Toleranz und Affinität für das Ungeplante als eine Art Ablehnung von kompletter Komposition und durch und durch reglementierter Totalität.
Alle TEXTE von Mladen Savić
FOR FOREST – Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 9