Miriam H. Auer: Violent Dancing – Lesung der Autorin

Literatur in CORONA-Zeiten
Miriam H. Auer: Violent Dancing

 

Miriam H. Auer liest aus ihrem Roman „Violent Dancing“, der im Januar 2020 als vierzehnter Band der EDITION MEERAUGE im Verlag Heyn erschienen ist.
Am 04.06.2020 hätte sie den Text im Robert-Musil-Institut vorgestellt.

Da die Präsentation des Buchs aufgrund der Corona-Maßnahmen für Veranstaltungen abgesagt werden musste, hat Miriam H. Auer einige Ausschnitte daraus eingelesen.

 

 

»Wirbellose haben unzählige Methoden entwickelt, um sich zu schützen. Rückgratlose auch.«

Menschen, die man allzu leicht übersieht, Tiere vor dem Aussterben, Puppen aus allerlei Weggeworfenem: Auf kunstvoll gebauten Schachteltheaterbühnen lässt Miriam H. Auer die Geschöpfe um ihr Leben tanzen.

Zwischen Gegenwartskritik und Empowerment, Heavy Metal und Tandava, Tang-Poesie und Schopenhauer, sozialem Realismus und Kammerspiel, Schatten-theater und frühem Animationsfilm …

In den Hauptrollen von Violent Dancing tanzen:
Ling aus dem Club Venus Wonnen, die biegsam genug ist, um für ihre Freier in Koffer zu kriechen, und nach einem Unfall das Zimmer 6 des Pflegeheims bezieht.
Rita/Lita mit der Old-Hollywood-Figur, die Ling nicht immer wohlgesonnen war und ihr dennoch nicht von der Seite weicht – vielleicht, weil sie sich in den Fäden der Erinnerung verstrickt hat.
Jens, der mit LKW Elke zwischen Wien und Reggio di Calabria Kunst transportiert, in Dragmars Dragonbaby-Den feiern geht, Zebras liebt und Ling lieber etwas vorspielt als sie aufzugeben.

 


Miriam H. Auer, geboren 1983 in Friesach, Studium der Anglistik und Germanistik, 2015 Promotion zum Thema Poetry in Motion and Emotion, lebt als freie Schriftstellerin und externe Lehrbeauftragte am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Alpen-Adria-Universität in Kärnten und in der Steiermark.

Als Autorin trat Miriam Auer erstmals 2012 in Erscheinung und fiel prompt mit zahlreichen Auszeichnungen bei kleineren Literaturwettbewerben auf. Ihr Buchdebüt Hinter der Zeit. Umnachtungsnovelle (Edition Meerauge 2014) erregte dann größere Aufmerksamkeit: 2015 erhielt die Schriftstellerin den Förderpreis für Literatur des Landes Kärnten, 2016 wurde das Buch auf die Shortlist für den Literaturpreis ALPHA der Casinos Austria gewählt.

Neben Prosa schreibt Auer auch Lyrik, Lesedramen und Songs. Zahlreiche Texte sind in Anthologien, Zeitschriften und Online-Magazinen veröffentlicht, darunter Zebraritäten, in: Aber sicher! Die besten Texte aus dem Ö1-Literaturwettbewerb, Braumüller 2017; 6 Gedichte, ausgezogen, in: Freie Räume, Anthologie zum Wiener Werkstattpreis 2017, Edition FZA; Bärte im Glas 1 – Cruz, in: Lichtungen 151/38. Jg., 2017; Wegen Wes, in: entwürfe Nr. 82, Zürich 2016; Travestie der Einsamen, in: Triëdere Sonderheft alternativlos: flüchtling, Wien 2016; Der Feberkaul, in: tanz.zwischen.welten. Anthologie zum Wiener Werkstattpreis 2015, Peter Schaden (Hg.), Edition FZA, Wien 2015; SEELENGARTELN oder Wurmlöcher im Hortus Animae, in: Mein Garten, Gabi Russwurm-Biró (Hg.), Drava, Klagenfurt/Celovec 2015; Opal crocodile, Text für eine Performance mit Sabinna (Sabina Rachimova), in: Writing Fashion, International Fashion Showcase 2015, London Fashion Week, Another Austria, www.anotheraustria.com

Miriam H. Auer ist Mitglied der IG Autorinnen Autoren und des Kärntner SchriftstellerInnenverbandes.

 

Mladen Savić: Was tun? Gute Frage!

„Das Schlimmste im Leben“, hat mir ein Freund einmal gesagt, „ist es, wenn man eine Situation, aber keine Strategie hat“. Immer wieder denke ich zu den unterschiedlichsten Anlässen an die Aussage und ertappe mich genauso oft dabei, dass ich schmunzle. Es umfasst ja einiges, wenn man so will, und ist auf vieles anwendbar. Insbesondere in der Umweltfrage stellt sich automatisch auch die Frage der Praxis und kulturellen Reaktion auf die neuen Gegebenheiten: auf die längst bekannte Bedrohung des Ökosystems, die wir vorzugsweise mit vermeidendem Verhalten bewältigen.

Die Anpassung an situative Sonderlichkeiten lässt sich allgemein auffassen als Fähigkeit von Systemen, ungünstige Einwirkungen der Umgebung so abzufangen, dass ihr inneres Gleichgewicht nicht geschädigt wird. Dieses innere Milieu ist letztlich verantwortlich dafür, wie angenehm oder unangenehm das Überleben sich gestaltet und wie möglich es darin ist: nicht nur in Staat, Ehe oder Job, sondern in der Natur insgesamt, in erster Linie für ihre Lebewesen, von den primitivsten Organismen bis zu den komplexesten, welche wir Menschen darstellen – angesichts unseres großen, gefurchten, gelegentlich genutzten Gehirns.

Wenn wir die Natur beobachten und daraus lernen, durchschauen wir die Dynamiken von Prozessen in natürlichen Systemen. Wenn wir Experimente durchführen, versuchen wir beispielsweise, ein System von den Faktoren der Umgebung zu isolieren. Entsprechend systematisieren wir das aus der Erfahrung gewonnene Wissen, das wir dann über die Welt haben, und gliedern es in Wissenschaften und Disziplinen. Um der kommenden Klimakrise gewappnet zu begegnen, werden wir die Hilfe und Kooperation aller wissenschaftlichen Forschungsfelder auch bitter brauchen, doch sie allein werden nicht reichen. Auch die Massen brauchen Bewusstsein.

Als literarischer Utopist, der an den Primat der Intelligenz und prinzipiell die Macht der Wahrheit glaubt, gebe ich die Hoffnung indes nie auf, dass es sich irgendwann herumspricht: Die Abhängigkeit des Menschen von der Umwelt ist schier eine Tatsache, auch wenn die Umwelt nun eine nur unterworfene Natur ist und kein Haus des Lebens. Interessanterweise bedeutet das altgriechische Wort „oikos“, das im Begriff „Ökologie“ steckt, Hausgemeinschaft, Hof, Heim. Wir freilich fühlen uns in der Natur und auch in unserer gesellschaftlichen, zweiten Natur nicht eingebettet, sondern von ihr vielmehr getrennt. Dieser Umstand ist teils Erziehungssache, teils der ungebremsten Ausweitung des künstlichen Umfelds, allgegenwärtiger Nicht-Natur, geschuldet.

So thronen wir auf dieser 6.000 Trillionen Tonnen schweren und 4,56 Milliarden Jahre alten Erde innerhalb einer bedrohten Biosphäre, wo Leben sich in den buntesten Formen erhält, in einer Blase sozusagen, einem geschlossenen System mit weiteren, wechselwirkenden Subsystemen. Auf allen Ebenen des Lebens vermeine ich darum eine Dialektik von System und Umfeld vorzufinden, einen Tanz der Natur am gespannten Tau des Abgrunds entlang, den Kampf gegen Entropie und Tod neben der Anpassung zum Überleben und Gedeihen. Und wir tanzen mit.

Mein Onkel, wenn er einen guten Tag hat, meint manchmal, er sei in eine Welt geboren, die weder die humanste noch die intelligenteste wäre, aber immerhin in einer Zeit, da er die Möglichkeit gehabt hätte zu erleben, wie Blumen duften und ein blauer Himmel aussieht, was saubere Luft ist, trinkbares Wasser und eine sichere, warme Mahlzeit. Würde er zur letzten Generation gehören, die Gleiches behaupten könnte? Die Natur wird vielfach für eine Endlosressource und obendrein für eine Mülldeponie gehalten! Obwohl ich weiß, dass es einstmals vielleicht üblich gewesen ist, muss ich zugeben, dass nicht nur meinem Onkel, sondern auch mir trinkende Pferde am Fluss als romaneskes Bild heute schwer vorstellbar erscheinen – ich würde in den meisten Gewässern, dreckig, schaumig, industriell verschmutzt, wie sie sind, nicht einmal meine Socken waschen.

Eine Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt lehne ich ab. Jakob Uexküll, der Wortschöpfer des Umweltbegriffs, hat 1909 das Ökologieverständnis auf den Menschen erweitert und damit einen Referenzbezug auf das Individuum und handelnde Subjekt geschaffen: Umwelt sei ihm zufolge zu unterscheiden von der Umgebung eines Organismus, denn die Umgebung nehme Lebewesen als Objekte auf, während die Umwelt von ihnen gestaltet werde. Kurz, das Leben soll und darf nicht isoliert betrachtet werden! Wenn wir uns gedanklich und handelnd aus der Naturgeschichte ausgliedern und Weltgeschichte als abgetrennt davon deuten, verkennen wir, über kurz oder lang, die Notwendigkeit zur Anpassung im Prozess permanenter Veränderungen. Das Milieu ist, wo alles stattfindet, jene Umgebung eines Lebewesens, welche auf es selbst einwirkt und seine Lebensumstände beeinflusst. Dies gilt, genau genommen, auch auf unsere Gattung im Umgang mit natürlichem und künstlichem Lebensraum.

In Bezug auf die Umwelt ist das Schlagwort des global village wohl wahrer als sonstwo; das Ökosystem kennt schließlich keine Landesgrenzen, und der Planet ist ein einziger und dieser allein. Unser Beitrag zu seiner Zerstörung ist zudem evident. Wenn wir demnach von den Umständen gebildet werden, die auf uns zurückwirken – und in ökologischer Hinsicht ist das für Milliarden von uns Menschen entscheidend –, dann müssen wir menschliche Umstände bilden, die die Natur und den Lebensraum und die Lebensgrundlagen der Menschheit schonen. Praktisch zu denken und gezielt zu handeln täte not, denn das Schlimmste wäre doch, für diese globale Situation keine Strategie zu entwickeln … Ich schreibe es, wenn nötig, gerne auf jede Wand und Mauer.

Das Leben in all seinen Erscheinungen und Formen und in seiner ganzen genialen Vielfalt ist bislang ausschließlich auf dem Planeten Erde zu finden. Darauf als Gegenstand, und auf nichts Anderes, konzentriert sich die Ökologie. Als Wissenschaft untersucht sie die Parameter des dynamischen Gleichgewichts alles Lebendigen im Austausch von Materie und Energie sowie das Auftreten von Phänomenen: einmal, mehrmals, zyklisch. Prozesse, deren Gesetzmäßigkeiten und Abweichungen inklusive, werden in einzelnen Disziplinen erforscht und sind aus ökologischer Sicht von größter Bedeutung. Mehr noch, da alle Ökosysteme dynamische Eigenschaften aufweisen, ist die elementare Form ihres Bestehens in einem operativen System die ständige Wiederholung eines Zyklus. Das macht, genau genommen, das dynamische Gleichgewicht aus, auf das wir als Laien vermehrt achten sollten.

Leben auf der Erde, möchte ich ergänzend noch erwähnen, erhält sich vorrangig auf Basis primärer Prozesse, aufgrund von: Photosynthese, Eutrophie, Dissimilation und Reproduktion. Die Photosynthese produziert mithilfe von Sonnenenergie, Kohlensäure, Wasser und Mineralien organische Materie und bildet somit den Anfang der Nahrungskette, sodass sie zur Steigerung der gesamten organischen Produktion beiträgt, nicht zuletzt durch das Nebenprodukt Sauerstoff, zuerst bei Blaualgen, dann bei Pflanzen. Die Eutrophie als regelmäßige Versorgung mit Nährstoffen bei Energiezufuhr macht sich diesen Umstand zunutze. Die Dissimilation als Verbrauch von Körpersubstanz besteht darin, dass komplizierte Stoffe abgebaut und in einfache umgewandelt werden – ohne dem wäre es unmöglich, Energie aus dem Abbau organischer Nahrung zu ziehen. Die Reproduktion als zuerst diploide, dann zweigeschlechtliche Vermehrung ermöglicht durch Rekombination der Gene eine Höherentwicklung von Organismen und deren gesteigerte Anpassungsfähigkeit.

Alles in allem, und ich versuche mich schlicht und kurz zu halten: Wenn die primären Prozesse gestört werden, geschieht Gefährdung – was Gegenmaßnahmen verlangt, versteht sich. Übersäuern die Meere infolge fossiler Brennstoffnutzung und der Massentierhaltung durch Ausschüttung von CO2 und Methan, reißt ein Glied in der globalen Nahrungskette, und die Welt geht wörtlich unter. Verschwinden die Lebensräume für Tierarten infolge fortschreitender Urbanisierung und industrieller, chemisch-monokultureller Landwirtschaft, führt die schwindende Biodiversität zu Problemen in der Pflanzenbestäubung und mittelbar in der menschlichen Nahrungsversorgung ebenso. Verschmutzen die Böden, das Grundwasser und die Biotope bis zu ihrem Zusammenbruch, wird die Nährstoffaufnahme für die irdische Biomasse überhaupt problematisch.

Die rücksichtslose Einwirkung auf Ökosysteme abseits wissenschaftlicher Kriterien – beispielsweise aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen oder Ähnlichem – führt dauernd zu ihrer Degradierung, zu ungewollten Veränderungen, gewichtigen Nebenfolgen, Langzeitschäden oder Zerstörung. Die Warenwirtschaft, soviel steht jedenfalls fest, verhält sich ihren Imperativen und Resultaten nach nicht nachhaltig. Man muss kein Spezialist sein, um zu begreifen, was Ernst Haeckel 1866 mit seiner ersten Definition der Ökologie geliefert hat, nämlich, dass Leben nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist – und dass die Verhältnisse der Organismen zur Natur samt ihren existenziellen Voraussetzungen mitbedacht werden müssen. Eines wird wohl nicht nur mir klar sein: Eine gesamtgesellschaftlich strategischere Haltung wäre hierbei vonnöten. Was tun? Gute Frage! Ich komme darauf zurück …

 

Kommentar von Gernot Waldner

Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass sich der Author@Musil mit dem heutigen Text in ein neues Gebiet gewagt hat. Der Titel des Textes „Was tun? Gute Frage!“ zerfällt in zwei Teile, die den Aufbau des Textes antizipieren und auch deutlich machen, wie sich der Autor seinem neuen Gebiet nähert. Der erste Teil des Titels spielt auf Lenins Hauptwerk von 1902 an, in dem, kurz gesagt, diskutiert wird, ob man eine gesellschaftliche Situation selbst verstehen kann, da man ja in dieser Situation steckt, oder ob einem das Wissen vermittelt werden muss, da es nicht spontan entsteht. Lenin hatte ein Position in dieser Frage, ob seine institutionellen Konsequenzen (Zentralkomitee , etc.) dieser Antwort gerecht wurden, ist ein anderes Thema. Der Author@Musil fragt sich, ausgehende von einem „Freund“ (Kautsky?) ähnliches, kündigt aber bereits im Titel mit einem Ausrufezeichen an, das hier noch einige Dinge zu klären sein werden, bevor es neue Stellenausschreibungen (Naturagitator, Homöostasevorsitzender, etc.) in Kärntner Tageszeitungen zu lesen geben wird.

 

Mir selbst ist die globale Situation, in der wir uns befinden, nicht klar, womit ihre katastrophalen Folgen nicht bezweifelt werden sollen, über letztere herrscht breiter wissenschaftlicher Konsens. Ausgehend vom Text hab ich mir zwei Fragen gestellt:

1) Muss man die Grundlagen verstehen, um die Folgen beachten zu können? Mir scheint zum Beispiel, dass ich eine Rede analysieren kann, ohne Experte für den menschlichen Artikulationsapparat zu sein. Ist das mit den „primäre[n] Prozesse[n]“ der Ökologie anders? Stichwort Emergenz. Oder wäre die primären Prozesse zu ignorieren schon eine Art von ökologischem „Populismus“?

2) Bei einer unserer letzten Gespräche ging es darum, dass es kaum noch gut erhaltene Naturlandschaften in Österreich gibt. Dennoch gab es z.B. in Kärntner Fichtenwäldern eine Art Gleichgewicht, in dem bewaffnete Jäger (trotz aller sozialen Gefahr) die Rolle von Wölfen übernahmen und Wildtiere töteten, was man ökologisch interpretieren kann: Jungbäume wurden gerettet. Kann man in bestimmten Fällen daraus schließen, dass Menschen erst ein Teil eines ökologischen Gleichgewichts erkannt werden, wenn letzteres beschädigt ist? Und heißt das nicht auch, dass es für ein Ökosystem unterschiedliche Formen von Gleichgewicht gibt? Warum klingt das Reden über „Natur“ selten so, als würde es mehrere Formen von Gleichgewicht geben?

 


FOR FOREST -Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 4

Harald Schwinger: Das Melonenfeld – Lesung

Literatur in Corona-Zeiten
Harald Schwinger: „Das Melonenfeld“

 

Text und Textauswahl: Harald Schwinger
Stimme: Heinrich Baumgartner
Filmbearbeitung: Siegfried Ortner
Sounds: Hörspielbox

 

Der Roman „Das Melonenfeld“ ist im März 2020 als fünfzehnter Band der EDITION MEERAUGE im Verlag Heyn erschienen.
Die für 02.04.2020 geplante Buchpräsentation im Robert-Musil-Institut musste aufgrund der Corona-Maßnahmen für Veranstaltungen abgesagt werden.

 

 

Ketil ist als Gerichtsvollzieher zuständig für Delogierungen in Manhattan, einem Hochhauskomplex, wo sich die Armut festgebissen hat. Mit dem Job kommt er bestens zurecht, sollte er Mitgefühl für seine Klienten empfinden, kann er das gut verbergen.
Sorgen bereitet ihm vielmehr die eigene Familie: Ehefrau Margot scheint depressiv, zunehmend verwirrt und davon überzeugt, dass in Tochter Metti das Böse schlummert. Tatsächlich ist die 16-Jährige rebellisch und abweisend – aber gefährlich?
Um die Dinge wieder ins Reine zu bringen, unternimmt Ketil mit ihr eine Reise, ausgerechnet auf die Insel, auf der er als junger Soldat im Friedenseinsatz stationiert war.

Harald Schwinger: Das Melonenfeld (Roman)

Edition MEERAUGE
Verlag Heyn, Februar 2020
139 Seiten
ISBN: 978-3-7084-0630-5

 


Buchbesprechung in der KLEINEN ZEITUNG von Marianne Fischer
04. April 2020

Von Macht, Machtmissbrauch und verdrängten Erinnerungen

Harald Schwinger erzählt von einem Gerichtsvollzieher, dem die Familie entgleitet. Packend und bitterböse.

 

„Ein Frosch springt nur an eine bestimmte Stelle, wenn die Chance besteht, dort auch eine Fliege zu fangen. Unser Leben liegt also in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.“ Das hat ihr Ketil erklärt. Aber was tun, wenn verdrängte Erinnerungen wieder an die Oberfläche kommen? Wenn nichts zurückbleibt außer „verbrannter Erde, Asche, Schmerz und Erinnerung“?
Margot glaubt als Archäologin, dass das Jetzt sich aus der Vergangenheit erklärt. Aber nichts fürchtet ihr Mann Ketil mehr als diese Ausgrabungen, hat er doch ein schreckliches Geheimnis zu verbergen.

Harald Schwinger erzählt in seinem neuen Roman „Das Melonenfeld“ von Macht und Machtmissbrauch, von Verwundung und Verdrängung. Ketil ist als Gerichtsvollzieher zuständig für Delogierungen in Manhattan, einem Wohnblock, in dem vor allem sozial Schwächere wohnen. Seine Macht nutzt er gerne für seine eigenen Zwecke: „Manhattan gehört mir, die Menschen, die hier wohnen, gehören mir.“ Nur seine Familie hat er nicht unter Kontrolle: Nicht nur seine Frau Margot macht ihm zunehmend Sorgen, weil sie glaubt, dass in der 16-jährigen Tochter das Böse schlummert. Auch Metti selbst ist rebellisch und schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Deshalb beschließt Ketil, mit seiner Tochetr nach Zypern zu reisen, wo er einst als junger Soldat im Rahmen einer Friedensmission stationiert war und ein traumatisches Erlebnis hatte. Doch beim Versuch, mithilfe der Wahrheit die Dinge wieder ins Lot zu bringen, entgleitet sie ihm immer mehr.

Schon im Roman „Die Farbe des Schmerzes“ beschäftigte sich der Villacher Autor, der auch für die Kleine Zeitung schreibt, mit den Folgen von Verdrängen, Totschweigen und der Frage: Wann werden aus Opfern Täter? Manchmal werden die Sünden über Generationen hinweg weitervererbt – in diesem Fall packend und schonungslos erzählt bis zur bitterbösen Abrechnung.

 


Harald Schwinger, geboren 1964, Studium der Anglistik, Amerikanistik und Medienkommunikation, lebt als freischaffender Journalist und Autor von Prosa, Lyrik und dramatischen Texten in Wernberg bei Villach/Österreich. Für seine literarische Arbeit erhielt Harald Schwinger zahlreiche Anerkennungen, darunter der Literaturpreis des Club Carinthia (2000), der Förderpreis des Carl-Mayer-Drehbuchwettbewerbs der Diagonale/Stadt Graz (2004, gemeinsam mit Simone Schönett), der Preis des Kärntner Schriftstellerverbandes (2012), der zweite Platz beim Kärntner Lyrikwettbewerb der STW Klagenfurt Gruppe (2014), der Kärntner Jugendbuchpreis (2018) sowie verschiedene Stipendien.

Harald Schwinger ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung und Mitbegründer des Kunstkollektivs WORT-WERK (www.wort-werk.at), das u. a. die „Nacht der schlechten Texte“, ein Wettbewerb für experimentelle Formen von Literatur, veranstaltet.
Veröffentlichungen (u.a.): „Das dritte Moor“ (2006), „Zuggeflüster“ (Erzählungen, 2011), „Zala. Drama in sieben Bildern / Drama v sedmih slikah“ (gemeinsam mit Simone Schönett, 2011), „Die Farbe des Schmerzes“ (2013), „Mirós Mädchen“ (Erzählungen, 2016), „Held“ (Jugendroman, 2018).

 

FOTO Harald Schwinger: Siegfried Ortner

Mladen Savić: Erinnerungen an morgen

Als ich noch ein Kind gewesen bin, ein wenig Traummännlein und allmählich an die Schultasche gewöhnt, hat mich eines Tages ein Albtraum aus dem Schlaf gerissen und wörtlich in den Schweiß getrieben, und ich habe ihn seines Gefühls halber nie vergessen: Nach dem Pflücken einer frischen Feige öffne ich das Gartentor und hopse, den Meeresgeruch in der Nase, bergab zum Strand, um nach ein paar Schritten übergangslos im Wiener Waldmüller-Park zu landen, vor einer vereinsamten Pagode gleich am Straßenrand, gegenüber einer zinnoberroten Ziegelmauer … als mir plötzlich auffällt, dass meine Feige weg ist und ich währenddessen keine Fliege und keinen Vogel bemerkt habe, keine Grille, keinen Käfer, weder Hund noch Eichhörnchen, nicht einmal einen Moskito. Ich blicke mich um, ich lausche, aber – vergebens. Alles tierische Leben ist verschwunden, scheint es. An diesem Punkt befällt mich Panik. Es fühlt sich, obwohl ich von da und dort menschliche Stimmen höre, geradezu gespenstisch an. Da torkelt ein Greis wie eine auf Fäden hängende Puppe auf mich zu, starrt versteinert und spricht, ohne zu sprechen, meine schlimmste Befürchtung aus: „Es gibt nur noch uns!“

Im Nachhinein neige ich dazu, den Stoff des Traums für kaum kindlich und recht abstrakt zu halten, doch das mag inhaltliche Nachdichtung sein oder ein Deutungsüberschuss. Jedenfalls bin ich damals jäh aufgewacht und auf unbestimmte Weise betroffen dagelegen, in Sorge darüber, dass wir Menschen uns in diese Richtung bewegen könnten, weiß Gott oder der Teufel warum. Immer noch erinnere ich mich, wie langsam nur die Enge in der Brust nachgelassen und wie lange es insgesamt gedauert hat, das Ziehen, die Beklemmung, der Schreck. Woher diese urige Angst des Augenblicks? Gottes Ebenbild ganz unter sich! Innerlich und für mich – eine Horrorvision, bis heute. Mit Sicherheit weiß ich noch, dass das Ganze ungefähr in die Zeit gefallen ist, als an der dalmatinischen Küste der Seeigel seltener und am Südpol das Ozonloch größer geworden ist. Eines habe ich in der Familie, das andere in der Schule erfahren. Und die österreichischen Grünen haben sich gerade gegründet, in Klagenfurt übrigens, wie ich unlängst nachgelesen habe.

Die Vorstellung nun, dass die Menschheit alles tilgt, ausnahmslos nämlich, ist unvorstellbar, gleich aus mehreren Gründen, von denen einer eindeutig ihr Ende wäre. Der phylogenetische Stammbaum, gelegentlich Baum des Lebens genannt, weist nicht allein auf die Allverwandtschaft aller Lebewesen hin, sondern auch auf deren gegenseitige Abhängigkeit, wobei zum Überleben bekanntlich die höheren Lebewesen von den niedrigeren mehr abhängen als umgekehrt. Mag die Kirche noch so sehr an ihrer „Krone der Schöpfung“ festhalten – sie irrt, auch wenn es womöglich gut gemeint gewesen ist. Ich selbst finde nicht minder, der Mensch sei das Höchste, Wertvollste und Schönste. Wiederum, wir alle müssen lernen, Wechselwirkungen denken zu können, Folgewirkungen, Zusammenhänge. Sonst wird es nicht besser.

Gleichzeitig drückt jene Albvorstellung meiner Kindheit, das Bildnis einer verstümmelten Mutter Natur ohne Getier, in ihrer Überzeichnung eine tatsächliche Tendenz aus, die als Anlage im Menschen enthalten ist. Wir töten ja Tiere, und ich sage das nicht, weil ich gerne Vegetarier wäre. Es ist kniffliger: Wir töten Pflanzen, Tiere, Menschen, Habitate, einfach alles. Der Tötungsdrang ist uns evolutionär eingeschrieben, aber kulturell nicht austariert, geschweige denn überwunden. Macht steht über Logik, die Gewalt der Gegebenheiten weiterhin über der Stimme des Verstands. Wir sind wirklich imstande, uns selbst auszulöschen, als Gattung ganz und gar, sei es durch Atomwaffen, sei es durch die Übersäuerung der Meere oder die Rodung der tropischen Lungenflügel der Erde. Trivial ist meist nur der Umgang damit. Doch darin hat die Angst meines sonderbaren Traums, bis zu seiner Bedeutung destilliert, ihren Anteil an der Wirklichkeit, welche noch weit sonderbarer sein muss, wenn sie solch eine Absurdität zulässt.

Schon der Begriff des Lebensraums vermittelt sprachlich, dass es sich eben um Raum handle, also um begrenztes Gut, wo gelebt wird und Leben möglich sein soll. Das Wort erklärt sich eigentlich von selbst. Das Konzept davon hinkt hingegen irgendwie hinterher. (Tief gefehlt, haben die Nazis es überhaupt gleich in eine Todeszone verwandelt …) Die Umweltzerstörung zeigt, zumindest neben der nicht-artgerechten Haltung der Menschheit, diesen unsäglichen Umstand an seiner natürlichen Grenze auf, wo Raum zum Leben über kurz oder lang wegfällt oder zur Falle wird, und auch dann, wenn sich hin und wieder die zerstörerische Kraft der Natur entfesselt, etwa in Form von Katastrophen bar unserer Kontrolle.

Vor dem Eintritt ins Gymnasium, und das ist seinerseits über dreißig Jahre her, bin ich thematisch erstmals dem Treibhauseffekt und der Polkappenschmelze über den Weg gelaufen. Ich weiß noch, was dies an kindlicher Erschütterung in mir ausgelöst hat. Der Anstieg des Meeresspiegels hat mich innig beschäftigt, allem voran als Schicksal der Welt, die ich kenne: Häuser, Straßen, Parks und Plätze – unter Wasser. Und die vielen Menschen? Eines Abends habe ich eine Drahtspule und Klebeband aus der Werkzeugkiste sowie Tassen und Trinkgläser aus der Küche mit ins Badezimmer genommen. Mein Meisterplan hat darin bestanden, ein Gerüst zu basteln, welches die Gläser nebeneinander halten würde, wenn ich sie, jeweils gefüllt mit Wasser, kopfüber aus der vollen Wanne hochhebe, bis zum Rand und nicht darüber, wodurch der Wasserspiegel wieder sinkt. Meiner hereingeplatzten, mitunter belustigten Frau Maman, die Teile ihres Geschirrs vermisst hat, habe ich daraufhin mit kolossalem Ernst aus der Badewanne heraus zu erklären versucht, dass wir auf dem offenen Meer riesige Wasserspeicher bauen könnten, um das Ärgste zu verhindern und Holland, wo die bunten Blumen herkommen, vor der Flutung zu retten. Was die Erderwärmung betrifft, bin ich völlig planlos gewesen, und das Ausnahmeklima, das ich niemals habe erleben wollen, gehört mittlerweile zur neuen Normalität wie das Bienensterben samt Dürren, Bränden, Plagen und weißen, touristischen Kunstschneestreifen auf grünen, schneelosen Alpengipfeln.

Mein Verständnis von Katastrophe, muss ich anmerken, ist alles andere als altgriechisch gewesen – das katastrophale Ereignis: nicht als entscheidender Wendepunkt in einem Drama, sondern als Schauder vor der Sinnlosigkeit so einer einseitigen Endlichkeit, vor dem unnötigen Verlust von gemeinsamem Lebensraum, vor der fehlenden Lebensbejahung als solcher. Schließlich kann es auch anders sein, habe ich mir als Kind gedacht. Zu meiner Verteidigung muss ich dazusagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt meiner Entwicklung wenig geahnt habe von der Allmacht selbstverstärkender Idiotie in Politik und Ökonomie. Das Richtige würde sich schon durchsetzen, hat meine naive Hoffnung mir nahegelegt: Man müsste es den Politikern nur verraten und erzählen, es ihnen sagen. Ist das nicht süß? Das ökologische Bewusstsein ist seither gewachsen.

Die Menschen müssten „aufhören, nach den Maximen der Vergangenheit zu leben“, sagt Isaac Asimov 1971 in einem Essay über unseren sterbenden Planeten: „Sie haben im Verlaufe ihrer Geschichte einen Verhaltensstil entwickelt, der einer leeren Erde und einer kurzen Lebenserwartung angemessen ist. In einer solchen Welt war es geboten, viele Kinder zu haben, einen Zuwachs an Menschen und Macht anzustreben, in den endlosen Raum vorzudringen und sich für einen begrenzten Teil der Menschheit einzusetzen. All das kann heute nicht mehr gelten.“

Wenn ich jetzt die Plakate und Aussagen der jugendlichen Demonstranten betrachte, bemerke ich, dass der nächste Reifegrad längst erreicht ist und die Naivität meiner Tage sich in der Jugend verflüchtigt hat unter dem zynischen Gegenwind der Profiteure und Umweltsünder. Einerseits freut es mich, andererseits nicht, denn der fordernde Ton der Klima-Bewegung stellt nur insofern einen Fortschritt dar, als er der Verschärfung der Verhältnisse auch angepasst ist, wobei die Botschaft einer Severn Cullis-Suzuki vor dem Umweltgipfel in Rio 1992 der Ansprache einer Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen 2019 im Grundtenor ähnelt. An der industriellen Nekrophilie des Kapitalismus hat sich nichts geändert. Der Umweltschutz ist insgesamt zu spießig, um die gesamte Produktionsweise, auf der unsere zukunftslose Existenz beruht, so infrage zu stellen, dass diese Idee auch zur materiellen Gewalt wird, die die notwendigen Veränderungen gegen den Willen der Mächtigen und schneller als nach institutioneller Fasson erzwingt.

Das Sinnvolle wird wohl scheitern, denke ich mir ruckartig, und der Massenselbstmord der Gattung siegen. Sobald es um Interessen geht, wird jede Lüge wahr. So sind wir leider: halb aufgeklärt in halbierter Aufklärung. Ich hebe meinen Kopf vom Blatt Papier vor mir und lege den Stift weg. Draußen ist es still und dunkel. Alle schlafen tief und fest. Auch ich werde mich niederlegen und hoffentlich in dieser Nacht nichts träumen.

 

K O M M E N T A R E

 

Kommentar von Maelle Robertson (For Forest)

Ein persönlicher Text in einem zeitlichen Loch

Mladen lässt uns hier wieder in seine tiefsten Gedanken blicken. In Erinnerungen seiner Kindheit, aber auch in Träume, also in Gedanken, die man selbst nicht so gut verstehen kann. Wir begleiten ihn auf dem Weg, ihre Bedeutung besser zu verstehen. Mladen nimmt eine eher pessimistische Position gegenüber der Klimawandel-Problematik ein. Er ist allein zu Hause, er schreibt in der Stille und „alle schlafen tief und fest“. Er scheint hier als einziger in der Lage zu sein, uns eine Aufklärung zu geben. Die Menschheit schläft und niemand sieht die Gefahren, die vor ihr stehen.
Es scheint zu spät zu sein, um gegen diese Gefahr zu handeln. Mladen sieht, dass es zwar Bewegungen zur Sensibilisierung zum Klimawandel gibt, aber das ist anscheinend noch nicht genug, um Politiker zu beeinflussen. Der Titel „Erinnerung an morgen“ spiegelt auch die Idee wider, dass der Menschheit wenig Hoffnung gelassen wird. Morgen liegt schon in der Vergangenheit, und was in der Vergangenheit liegt, kann man nicht mehr beeinflussen. Man kann aber seine Wahrnehmung sowie die Bedeutung der Vergangenheit noch ändern. Man kann seine Augen schließen und schlafen, als ob nichts gewesen wäre. Morgen sei vielleicht ein verlorener Kampf, aber man kann daraus lernen, um vielleicht übermorgen weniger fatal zu machen.
Diese Vermischung von den Zeiten weist auch auf unsere Unmöglichkeit hin, effizient in der Gegenwart zu handeln. Mladen lässt wenig Platz für das „Jetzt“ im Text, wir befinden uns in einem zeitlichen Loch. Dieses Loch (der Verlust der Zeit) materialisiert sich gewissermaßen in der Realität in der Form eines Ozonlochs. Je mehr es wächst, desto weniger Zeit haben wir übrig, um zu handeln.

Mit anderen Worten wird im Text der Menschheit die Möglichkeit zum Handeln genommen. Oder müssen wir uns nur bemühen, um sie zu ergreifen?


Die Blindheit der Vernunft

Das Loch im Ozon hat einen weiteren interessanten Aspekt. Wir verlieren immer schneller etwas Natürliches, das es lang vor uns gegeben hat. Mit der Zeit ist dieses Loch zwar etwas Messbares geworden, aber es bleibt etwas, das man nicht sehen kann, wenn man nur mit den Augen in den Himmel schaut. Genauso wie wir alle Tiere nicht sehen, die jetzt aussterben. Sie verschwinden aber trotzdem, und das Loch wird trotzdem größer.
Statistik und Wissenschaften beweisen stetig den schlechten Zustand unseres Planeten. Diese Zahlen, auch wenn sie danach streben, uns etwas Konkretes zu geben, bleiben aber für viele gewissermaßen abstrakt. Sie sind „nur“ Zahlen, also auch etwas, das man nicht konkret sieht und spürt. Man verliert den Bezug zu den Zahlen. Welchen Unterschied macht es für mich, ob 10 oder 20 Fußballfelder Wald pro Minute abgeholzt werden? Oder waren es doch 30?
Dahinter steht die Frage, ob Menschen die Fähigkeit haben, sich für Sachen einzusetzen, die sie nicht immer gut wahrnehmen können. Da unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten der Welt limitiert sind (Bakterien, Wellen…), sind wir darauf angewiesen, anderen Werkzeugen sowie Zahlen und Fakten (mit anderen Worten Wissenschaft) zu vertrauen. Sie zu ignorieren ist nur eine bewusste Blindheit der Vernunft. Oder wie Mladen schreibt: „Macht steht über Logik“.

Wissenschaft und Religion

Es ist aber auch ironisch zu denken, dass es jetzt unzählige Beweise braucht, um uns zu überzeugen, dass die Erde sich schlecht entwickelt. Mladen macht regelmäßig religiöse Referenzen in seinem Text, und ich muss da an den Unterschied zwischen der Glaubwürdigkeit der Religion gegenüber der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft denken.
Es ist bekannt, dass Menschen ungern eine Lektion über ihr Handeln bekommen. Sie wollen nicht von der Wissenschaft hören, dass ihr eigenes Verhalten nicht umweltfreundlich ist und dadurch Konsequenzen für die ganze Menschheit haben könnte. Wir leben aber in einer Zeit, wo solche Sachen objektiv nachgewiesen werden können.

Gehen wir ein paar Jahrhunderte zurück. Damals wurde jede Naturkatastrophe, jede Dürre als die Rache Gottes wegen einer schlechten Handlung interpretiert. Diese Dinge haben zwar keinen direkt nachweisbaren Zusammenhang (mein alltägliches Handeln beeinflusst nicht, ob der Vulkan ausbrechen wird oder nicht), aber Leute haben daran geglaubt und dementsprechend ihr Verhalten adaptiert.
Wenn so etwas funktioniert hat, wieso kann man jetzt nicht sein Verhalten adaptieren für etwas, das deutlich nachweisbar ist? Wieso haben wir früher einer Jeanne d’Arc und ihren (subjektiven) Erscheinungen glauben können, aber nehmen jetzt eine Jane Goodall und ihre (objektiven) Fakten zur Abholzung des Regenwaldes nicht ernst?
Heute werden nachweisbare Fakten nicht ernst genommen oder nicht geglaubt, weil man denken möchte, dass es eine andere Möglichkeit gibt. Die Menschheit hat zum Glück immer wieder Dinge infrage gestellt, aber Klimawandel sollte nicht eine davon sein. Die Verbreitung von Fake News oder die Annahme, dass es verschiedene Wahrheiten geben kann, werden als Meinungsfreiheit missverstanden.

Man sagt, dass wir in einer Epoche der wissenschaftlichen Revolution leben. Wissenschaft bestimmt unser Leben und das, was wir Menschen werden (Bioengineering, Streben nach Unsterblichkeit) …
Wissenschaft ist wie zu einer Religion (zu einem Schöpfer?) geworden, die gewissermaßen mehr objektive Wahrheit mit sich bringt. Es wäre aber gefährlich, sich nur auf den möglichen Fortschritt der Wissenschaften zu verlassen, um Probleme zu lösen, die wir verursacht haben. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, den die Menschen sehr schwer gewinnen können.
Ein Überleben des Menschen ist untrennbar von dem Überleben unzähliger andere Spezies (wie Mladen mit der Erwähnung von dem Baum des Lebens gemeint hat). Aber auch ein paar Menschen, die reine Liebe für Biodiversität zeigen und dementsprechend ihr Handeln anpassen, sind nicht genug. Wenn diese natürliche Liebe der Schönheit, die die Erde zu bieten hat, uns nicht retten kann, dann vielleicht Egoismus. Der Mensch kann nur überleben, wenn andere Tierarten auch überleben. Ich muss also andere retten, um mich selbst retten zu können.
Diese etwas andere Art von Egoismus (oder opportunistisch Altruismus?) passt zu unserer menschlichen Natur und könnte Leute dazu animieren, die Umwelt zu schützen. In diesem Sinne, was früher eine Sünde in der Religion war, könnte jetzt zu einem Credo werden: Thou shalt be selfish.

 


Kommentar von Stefan Meisterle (For Forest)

Gedanken zum Text „Erinnerungen an morgen“ von Mladen Savic

Mladen Savic beschreibt in seinem Text, dass ihm seit der Kindheit die Zerstörung der Lebensräume, Lebewesen und letztlich der Menschheit bewusst ist. Mladen ist heute über 40 Jahre alt.
Wir alles kennen das Lied „5 Minuten vor 12“ von Udo Jürgens, welches nun schon vor 38 Jahren geschrieben wurde. In knapp fünf Minuten schildert der Kärntner Liedermacher die dramatische Situation, in der sich die Welt befindet. Seit 1982 hat das Lied nichts an seiner Aktualität eingebüßt.

Das Jahr des Waldes 1985
1985 veröffentlichen die Österreichische Post und die Deutsche Bundespost je eine Briefmarke zum Waldsterben. Diese Marken wurden also schon vor 35 Jahren geklebt, um auf das Sterben eines unmittelbaren Ökosystems hinzuweisen. Als begeisterter Philatelist, der ich in meiner Kindheit war, war dies mein erster Berührungspunkt zum Thema „Umweltzerstörung“.

         

1961 wurde der WWF gegründet. 59 Jahre wird unermüdlich darauf hingewiesen, dass die Lebensräume der Welt zerstört werden.

1949 wird in der Deutschen Verfassung das Grundgesetz, im Artikel 20 a, der Umweltschutz verankert und im Artikel 74 „der Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt“ gesetzlich eingefordert.

Was ich mit dieser unvollständigen, zufälligen Aufzählung zeigen möchte, ist der Umstand wie lange die Menschheit sich schon bewusst ist, dass wir unaufhörlich unseren Lebensraum zerstören. Wir wissen schon so lange, dass es höchste Zeit ist, etwas zu tun. Etwas verunsichert, ängstlich, aber auch voll Wut, stellt sich mir folgende Frage: Was wurde in den letzten 70 Jahren eigentlich getan? Welche zählbaren Ergebnisse in Sachen Umwelt- und Artenschutz haben wir vorzuweisen? Was sind die positiven Resultate? Und gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie enorm und unwiederbringlich war die Zerstörung der Erde in den 70 Jahren?
Auch Mladen Savic ist diese Zerstörung bewusst und stellt fest, dass es viel zu spät ist, etwas gegen die Vernichtung unserer Umwelt und damit unserer Lebensräume zu tun.

Das Bewusstsein alleine, dass etwas getan werden muss, reicht augenscheinlich nicht aus, um etwas zu bewegen. Wir sehen im vollen Wissen zu, dass unsere Zeit auf diesem Planten immer schneller abläuft. Ja, der phylogenetische Stammbaum schlägt in der Menschheit vollkommen durch und anscheinend haben wir eine sehr nahe Verwandtschaft zu den Lemmingen. Mit Juhe und Sing und Sang steuern wir fröhlich dem Abgrund zu.
Wir sind nicht die Krönung der Schöpfung! Letztlich werden wir der Sargnagel der Schöpfung sein.

Passend zum Titel „Erinnerungen an morgen“ fällt auch mein Fazit aus:
4,5 Milliarden Jahre brennt die Sonne und sorgt dafür, dass auf unserem Planeten Leben entsteht. 5 Milliarden Jahre wird diese noch weiter leuchten. Man kann nur hoffen, dass nach der Menschheit, ein intelligenteres Lebewesen die Vorherrschaft der Erde übernehmen wird und letztlich das schwarze Kapitel der „Homo erectus“ überwinden wird. Für viele ein Horrorszenario, für mich ein gewisser, schmerzlicher Trost.

 


Kommentar von Gernot Waldner

Der Titel des Textes, „Erinnerungen an morgen“, verrät seinen Aufbau. Aus der eigenen Biographie schöpfend erinnert sich der Erzähler an mehrere Umweltinitiativen der Vergangenheit, denen es allen darum ging, eine ökologisch bessere Zukunft zu gestalten. Diese einzelnen Momente verdeutlichen auch heute noch unliebsame Aspekte des Umweltschutzes. Erstens operiert er mit einer, wie auch immer explizierten, Dystopie, die den Charakter eines Albtraums hat und die man als solchen auch nicht wahrhaben will – „Hysterie“ wird dafür entstaubt.
Zweitens thematisiert er das Problem der Proportion: das eigene Handeln wirkt angesichts des globalen Ausmaßes der Katastrophe wie das eines Kindes, das sich die Badewanne als Ozean imaginiert. „Warum sollte ich, sollten wir einen Unterschied machen?“
Drittens gelingt es dem Text, indem er aktuelle Forderungen historisch einbettet, die Frage nach Lektionen aufzuwerfen, die gegenwärtige Umweltorganisationen aus der Geschichte ihrer Vorgänger ziehen könnten.
Alle drei Aspekte sind für mich gute Hinweise darauf, wie aktuelle Bewegungen von vergangenen lernen könnten.

An manchen Stellen finde ich den Text nicht drastisch genug, etwa wenn gesagt wird: „Häuser, Straßen, Parks und Plätze – unter Wasser“. Gerade in die konkrete Ausdeutung dieser Szenarien ist in den letzten Jahren einiges an akademischer Energie geflossen.
Steigt die durchschnittliche Temperatur um drei Grad an, so würde das in Asien den Lebensraum von mehr als 100 Millionen Menschen zerstören, in Südamerika von fast 20 Millionen, in Nordamerika von rund 15 Millionen und in Europa von fast 10 Millionen. Welche politischen und gesellschaftlichen Folgen das hätte, kann man sich angesichts der Krise 2015, in denen „nur“ Hunderttausende von Menschen ihren Wohnort unverschuldet verloren haben, nicht vorstellen.
https://www.theguardian.com/cities/ng-interactive/2017/nov/03/three-degree-world-cities-drowned-global-warming

Der Ökonom und Philosoph Otto Neurath hat einmal dazu aufgerufen, die Wissenschaft der Utopistik zu gründen. Er erkannte das rigide, totalitäre oder auch „spießige“ Potential einzelner Utopien und forderte daher auf, immer mehrere Lösungen für bestehende Problem abzuwägen.
Anknüpfend an diese Wissenschaft der Utopistik könnte man einer Stelle der Diagnose des Textes widersprechen: „Der Umweltschutz ist insgesamt zu spießig, um die gesamte Produktionsweise, auf der unsere zukunftslose Existenz beruht, so infrage zu stellen, dass diese Idee auch zur materiellen Gewalt wird […]“ Wenn hier mit „spießig“ die Rückkehr zu einer einfallslosen Ordnung gemeint ist, so fallen mir hier mehrere Gegenbeispiele ein: Aus Pilzen werden inzwischen Möbel produziert, die eine höhere Festigkeit als Holz haben und als Fischfutter entsorgt werden könnten, in der Nahrungsmittelindustrie hätten Pilze und Insekten das Potential uns zu ernähren, „Leder“ kann man wachsen lassen, YouTube lädt hier ein, sich in das Potential ökologisch-kreativer Zerstörung einzusehen: https://www.youtube.com/watch?v=jBXGFOk5_Rs&t=12s

 


FOR FOREST-Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 3