Mladen Savić: Regenwetter vor dem Abschied

Der Mai ist vorbei und heuer eher kühl gewesen, zum Ausgleich sozusagen für den warm-trockenen, sehr sommerlichen April. Mir scheint, das Wetter spinnt wieder. Die Radiatoren bei mir zu Hause heizen zum Beispiel. Bis auf ein paar Badewettertage bislang ist auch die erste Junihälfte recht kalt ausgefallen – auf jeden Fall unter der erwarteten Durchschnittstemperatur. Das Klima, denke ich mir immer öfter, ändert sich sichtlich. Wohl muss es allen auffallen, auch wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt sein mögen. Die Jahreszeiten weichen auf und bilden keine festen Einheiten mehr. Die Temperaturschwankungen von Woche zu Woche, von einem Tag auf den nächsten sind vergleichsweise größer geworden – als neue Natürlichkeit im Ausschlagen der Kurve. Das Extrem nistet sich ökologisch in die Normalität ein und verkürzt so die Zeit zur natürlichen Anpassung.

Es regnet wieder, doch diesmal ausgiebig. Bis zur Berieselung prasseln die Tropfen abwechselnd auf den blechernen Fenstersims. Und obwohl ich Regen nicht sonderlich mag oder zu genießen weiß, muss ich zugeben, dass mich seine Klänge und sein Geruch auf eigentümliche Weise beruhigen. Der Natur tut es gewiss gut. Pflanzen brauchen eben Wasser. Überhaupt riecht die Luft dann frischer. Dafür ist der Himmel deutlich dunkler. Ich selbst freue mich mäßig, aber mein inneres Ringen mit den Witterungen belustigt mich auch irgendwie. In Voltaires philosophischem Wörterbuch findet sich die wendige Frage des skythischen Bauern Dundendak, gerichtet an den griechischen Theologen Logomachos, wozu ein Gebet zu dessen Gott schon tauge und mit welchem Recht man sich Sonne für die Laune wünschen könne, wenn der Nachbar sich Regen für Feld und Saat wünsche. Ähnliches spielt sich in mir ab, wenn der Verstand meiner trüben Stimmung spottet.

In zwei Wochen etwa sollte ich Celovec bzw. Klagenfurt wieder verlassen. Da kommt die persönliche Prise Trübsal wahrscheinlich her. Mein Mandat, wenn man so will, läuft hier aus. Im Gebäude des Musil-Instituts werden vor dem Herbst keine Veranstaltungen mehr stattfinden. Terminlich hat sich einiges verschoben. Die For-Forest-Villa, wo während der Corona-Krise Musikerinnen und Musiker ohne Einnahmen sich getummelt und für etwas Taschengeld ihre Lieder aufgenommen haben, wird mich vermissen. Unter ihnen hat es auch andere Künstlerinnen und Künstler mit würzig-interessanten Geschichten gegeben: professionelle Tontechniker mit absolutem Gehör auch für Zwischentöne, körpernahe Kunstprojektanten mit kaputten Brillen, schlitzohrige Theaterleute mit Eheproblemen, begabte Schauspieler mit einmaligen Sprechblockaden, Poeten des großen Blabla, Tänzer mit manischen Anfällen und ihre Verteidiger, Maler mit bäriger Stimme und großem Herzen.

Gefühlter Maßen habe ich kaum Zeit gehabt, Stadt und Leute genügend kennenzulernen. Die ersten Eindrücke formen sich bereits zu letzten. Doch das Glück, die Bekanntschaft besonderer Personen zu machen, die mir meinen hiesigen Aufenthalt mit wahrlich menschlichen Begegnungen versüßt haben, ist nicht von meiner Seite gewichen. In einem Atelier namens „Favela“ habe ich so etwas wie emotionale Familie getroffen, woran ich eigentlich gar nicht mehr glaube, und unabhängig von all den unmöglichen bis unheimlichen Zufällen, die dort zusammenlaufen, das gesellige Trinken als gesundes Ventil wiederentdeckt. Im Gasthaus „Pumpe“ habe ich in einem überdachten Innenhof unter einem Baum unlängst mit einem lieben Kollegen zu Mittag gegessen. Im berühmten Theatercafé, und dies wird womöglich eigenartig klingen, habe ich den gesamten Trupp der Kärntner Mondlandung miterlebt, samt Kamerateam, und auf Einladung eine dosierte Portion Gulasch gegessen. Das ist dort so.

Mein literarisches Engagement zu Umweltthemen, wie ursprünglich beabsichtigt, wirkt auf mich selbst im Nachhinein zum Teil unbeholfen und verworren: zu wenig von der Umwelt und zu viel von mir als Literat. Andererseits lässt sich das biologische Leben vom individuellen und sozialen niemals völlig trennen. Davon erhoffe ich mir Absolution. Die gemeinsamen Parameter von Mensch und Welt, welche die Biozönose als eine Gemeinschaft von Organismen bestimmen, könnten, sofern erkannt und anerkannt, auch zur Versöhnung von Kultur und Natur dienen. Wenn ich nur daran denke, dass da draußen in Form von Managementvorgaben, genannt ISO 14.000, internationale Normen zum Schutz der Umwelt vorhanden sind und über 50.000 verschiedene Organisationen in 120 Ländern, von UNEP bis WWF, die allesamt keinen praktischen Schritt weiter kommen unter den weiterhin unantastbaren Imperativen der Wirtschaft und des Handels – wird mir zuweilen regelrecht übel.

Fast fürchte ich mich davor, zu langweilen und mich zu wiederholen. Indes kann die Wahrheit, ob unbequem, beschwerlich oder verschüttet, nicht oft genug gesagt, ausgesprochen und nachgereicht werden. Mächtige Worte zur Verteidigung eines sinnvollen Zusammenlebens mit der lebenden Natur stoßen beim schlussendlichen Machtwort des Kapitals auf ihr eigenes, gestopftes Maul. In Krisenzeiten spürt man es mehr als sonst. Dafür bürgt der bürgerliche Staat, der das materielle Gefälle, die Warenproduktion und die Umweltzerstörung so verwaltet, dass das Toxische daran einstweilen massenhaft verträglich bleibt. Das Ganze läuft ungeachtet seines definitiven Ablaufdatums dennoch wie geschmiert. Zu schnellen Schlüssen lasse ich mich dadurch aber nicht verleiten.

Das ungeheure Anwachsen der postfaktischen Dummheit bedeutet keineswegs eine endgültige Zusage der Massen für ihr Programm, sondern lediglich eine unbewusste Absage an das bestehende, nationalstaatliche System und dessen Untauglichkeit für die gemeinschaftlichen Wege der Zukunft, und zwar auf allen Ebenen. Auch ist sie Ausdruck der Hilflosigkeit und Verwirrung von unzähligen Kleinbürgern, deren Aluminiumhüte auch in Demonstrationen vor der Kärntner Landesregierung aufblitzen und deren lächerliche Parolen gegen Impfpflicht und 5G-Hochfrequenzelektronik mehr von sagenhafter Unwissenheit und unverarbeiteter Bevormundung künden als vom reinen Wahnsinn. Allerdings ist es anderswo um das Bildungswesen und Bewusstsein noch schlimmer bestellt. In den Vereinigten Staaten von Amerika existiert sogar eine „Flat Earth Society“ mit Millionen Anhängern, wohlgemerkt: „all around the gobe“ …

Vielerlei müsste derweil bedacht werden, um in einer bewohnbaren, besseren Welt zu landen statt in einer mehr und mehr unbewohnbaren, verdummten, untergehenden: sozio-ökonomischer Hintergrund, Trinkwasserversorgung, Landflächennutzung, Waldzustand, Artenreichtum, Küstenlandschaften, Atmosphäre, urbane Gebiete, Mikroklima, industrielle Verschmutzung, Ressourcenabbau, Naturkatastrophen usw. Wenn ich mir auch nur flüchtig vor Augen führe, was denn alles zu bedenken und zu begreifen wäre, um adäquat zu handeln, welche Mengen an Wissen und aufrechtem Interesse vonnöten wären, um strategischer vorzugehen, wie sehr doch die Zeit drängt, um die Menschheit von Kapital und Idiotie zu befreien, wird mir stets ein bisschen schwindelig. Natürlich ist es machbar – nur eben nicht im Kapitalismus! Entweder siegt die Intelligenz, von der die meisten gerne behaupten, sie entbehre einer eindeutigen Definition, so als wäre sie dadurch hinfällig, oder wir verschwinden als Spezies allesamt. Dies ist meiner Meinung nach der springende Punkt in diesem Millennium. Dabei wissen wir das Wichtigste ohnehin, nämlich, dass niemand von dieser Erde entfliehen kann.

Die geografisch, klimatisch und historisch bedingte ungleichmäßige Entwicklung der Regionen, bekannt auch als Kolonialismus und Imperialismus, hat zuerst zu einem Ungleichgewicht zwischen Güterproduktion und Leistungsverteilung geführt und im Anschluss zu einem Missverhältnis zwischen sozialer Entwicklung und rationalem Umgang mit natürlichen Ressourcen. Abholzung und Brandrodung hängen auf diese Weise miteinander zusammen, die großflächige Ausbeutung von Bodenschätzen mit dem Verschwinden selbstversorgter Lebensweisen, die Bewässerung mit der Versalzung, die Umwandlung in Agrarflächen mit Landzerstörung usw.

Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen schlicht keine Vorstellung von den destruktiven Dimensionen haben, zumindest keine anschauliche in Zahlen. Sonst wäre Ernährungssicherheit als globales Zukunftsproblem für sie auch in der Provinz ein reges Thema. Land wird als Anbaufläche unbrauchbar infolge von Korrosion nach Bewässerungsmaßnahmen (56%), Erosion durch Wind und Wetter nach Abholzung (28%), Vergiftung nach Pestizidanwendung (12%) und anderen Formen (4%) nach Auslaugen des Bodens, Brandrodung usw. Faktisch handelt es sich um zwei Milliarden Hektar Agrarland, welche das kapitalistische System in den letzten vier Jahrzehnten zerstört hat (15% der agrarisch nutzbaren Erdoberfläche), wobei die Gesamtfläche der Erde, wo Boden unter den Füßen liegt, insgesamt 13,4 Milliarden Hektar beträgt. Weltweit sind nicht mehr als 1,45 Milliarden Hektar Ackerland übrig. Davon entfallen nur noch 260 Millionen Hektar auf menschliche Nahrungsmittel, bereits 55 Millionen Hektar auf Biotreibstoffe und üppige 1030 Millionen Hektar auf tierische Futtermittel. Ich selbst frage mich, wenn ich derlei Zahlen zusammenklaube, was das für mich hier und jetzt im Klagenfurter Umfeld bedeuten könnte, und fühle mich überfordert, sowohl informativ als auch emotional.

Vom dramatischen Waldrückgang ganz zu schweigen. Um 1900 herum sind 12% des Planeten mit Wald bedeckt gewesen, nunmehr sind es nur noch ungefähr 7,8%. Jährlich verringert sich der Regenwaldbestand um 12 Millionen Hektar mit steigender Tendenz. Aus einem mir nicht ganz einsichtigen Grund werden diese schwindenden Flächen in den Massenmedien meist in Fußballfeldern angegeben. Im Jahrestakt wird die Menge des in Wäldern gebundenen Kohlenstoffs um jährlich eine Gigatonne netto reduziert, was klimaaktiven Kohlensäure-Emissionen von vier Gigatonnen entspricht. Das sind für wissenschaftlich geschulte Ohren horrende Zahlen.

Die sogenannte Informationsgesellschaft ist, Hand aufs Herz, schlecht informiert in jeder Hinsicht und von notwendiger Allgemeinbildung und wissenschaftlichem Weltbild meilenweit entfernt. Zwar haben alle von saurem Regen schon gehört und wissen vage Bescheid um den Schaden am globalen Baumbestand. Die Säureskala mit dem ph-Wert von 1 bis 14 sagt ihnen höchstens vom Hörensagen etwas: 1 heißt sauer, 7 neutral und 14 alkalisch. Saurer Regen zwischen ph-Wert 5 und darunter vergrößert die Konzentration von Schwermetallen, verhindert das Aufgehen von Keimen, greift Rinde und Blattwerk an, wäscht aus der Erde zum Wachstum unverzichtbare Mineralien heraus und tötet mit einer Säurekonzentration unter 3 allerlei Bakterien, Pilze, Amphibien und Fische. Unter einem ph-Wert von 5 sterben Frösche, unter einem von 4 Forellen, unter einem von 3 jedweder Fisch und Meeresgetier, sodass selbst die Möglichkeit zur Bildung von Schalen und Krusten völlig versagt. So steht es also um unsere Nahrungskette. Bei diesen Gedanken blicke ich in den Himmel hinauf und hoffe auf eine prometheische Wendung, ganz gleich aus welcher Richtung. Was ich jedoch sehe, ist kein rettender Prometheus, kein leuchtender Perun oder polternder Thor, sondern allein dichte Wolken und graue Fäden voller saurer Regentropfen.

 

 

Kommentar von Gernot Waldner

Für mich war der stärkste Satz des ganzen Textes dieser: „Die ersten Eindrücke formen sich bereits zu letzten.“ Er fasst für mich den Duktus des Textes gut zusammen: Abschied von einem Ort zu nehmen, schärft die Wahrnehmung und lässt, wenn man fit genug im Kopf ist, auch unterschiedliche emotionale Perspektiven zu. Schade, dass Du den Umkehrschluss nicht diskutiert hast: wer immer am gleichen Ort lebt, sieht vieles nicht mehr. Sehr gelungen fand ich auch die Passagen, in denen Du die Leute aus der Villa beschreibst. Du schaffst es, mit wenigen Worten eine Person klar zu kennzeichnen, ohne ihren Namen zu nennen (Datenschutz), aber wahrscheinlich verrätst Du den Personen auch etwas Neues über sie selbst. Wärst du Pfarrer in Niederösterreich geworden, Bürgermeister und Bezirkshauptmann hätten große Angst vor Dir.

 

Was die Ursachen für die fehlenden Aktionen gegen die drohende Klimakatastrophe betrifft, werden drei Faktoren genannt. Erstens die Perpetuierung des kapitalistischen Systems, anschaulich dargelegt anhand von Zahlen, die die Vernichtung von Ressourcen und Lebensraum belegen. Zweitens, auf der Ebene der Menschen, das Anwachsen einer „postfaktischen Dummheit“, das von „unverarbeiteter Bevormundung“ und „sagenhafter Unwissenheit“ zeugt. Auch deshalb hätten, drittens, viele „schlicht keine Vorstellung“ von den Dimensionen der Zerstörung. Mir leuchtet das ein und ich stimme Dir zu, dass Wahrheiten wiederholt werden müssen.

 

In den 1970er Jahren soll es noch üblich gewesen sein, alte Kühlschränke direkt im Wörthersee zu entsorgen. Ich schreibe das, weil ich einmal evangelisch war, Du an einer Stelle „Absolution“ erhoffst und, wenn ich mich richtig erinnere, die Taufe die Voraussetzung für die Absolution war. Lieber Mladen, hoff Du kannst den Wörthersee noch genießen, Du wirst an seinen Ufern unvergessener bleiben als die Kühlschränke und es bleibt allen hier zu wünschen, dass auch Du wieder einmal auftauchst, um in Deiner umgänglichen Art auf falsche Prämissen und akkute Probleme hinzuweisen.

 


FOR FOREST – Serie mit dem Musil-Institut, Teil 6

 

25.06.: OPEN AIR Lesung & Musik mit Mladen Savić

OPEN AIR

LESUNG & MUSIK

mit
author@musil: Mladen Savić

Musik von Richard Klammer, Manfred Plessl und Martin Sadounik

 

Donnerstag, 25.06. 2020

18.00 Uhr

Villa FOR FOREST

Viktringer Ring 21

Eintritt frei – Spenden erlaubt*

 

Nach einer kurzen Buchpräsentation des im März 2020 erschienen Essay-Bands „Narrenschiff auf großer Fahrt“, moderiert von Walter Fanta, und anschließender Podiumsdiskussion findet eine öffentliche Lesung statt, in der unter der Moderation von Gernot Waldner Mladen Savićs Klagenfurter For-Forest-Texte vorgestellt werden,
gefolgt von einem ansprechenden Live-Konzert der Musiker Richard Klammer, Manfred Plessl und Martin Sadounik.

Begrüßungsworte: Anke Bosse, Leiterin Robert-Musil-Institut / Kärntner Literaturarchiv

 

 

Eine gemeinsame Veranstaltung von:

  • Robert-Musil-Institut / Kärntner Literaturarchiv
  • For Forest GmbH
  • Verein Innenhofkultur
  • Drava-Verlag

 

 

Wir freuen uns über Ihr und euer Interesse!

 

*Das Geld für die Spendebox wird an Wildnis Dürrenstein für ihr Projekt „Haus der Wildnis“ gehen. Das Wildnisgebiet Dürrenstein ist das einzige Wildnisgebiet Österreichs und wurde 2017 von der UNESCO zur ersten Weltnaturerbe Österreichs erklärt. Sie fokussieren auf die Sensibilisierung zum Thema Wald und sein Ökosystem.

Walter Fanta – Das Haus.

Walter Fanta

Das Haus

auf diesem Schwarz-Weiß-Bild bildet die Fassade für einen Moment aus der Mitte der 1960er. Etwas ist sichtbar, sehr vieles unsichtbar, was zu diesem Bild gehört und erzählbar wäre. Viele und lange Geschichten erregt das Bild, die mit dem Haus Münzgrabenstraße Nr. 114 zusammenhängen und den Menschen, die es bewohnt haben und bewohnen. Zwei von ihnen sind auf dem Bild sichtbar.
Das hübsche Mädchen in der Mitte mit den Zöpfen, mit dem Teddybären und der Trachtenjacke in den Händen, das ist meine Schwester Maria. Sie lächelt sehr freundlich in die Kamera, das tut sie heute noch gern. Ihr gehört jetzt das ganze Haus. Als Dank dafür, dass sie auf die Großtante schaute.
Die immer schwarz gekleidete und immer schlohweiße Tante Steffi wohnte damals in dem Haus, ihr Vater hatte es 1903 gekauft. Im Dachboden gibt es Kisten mit Dokumenten von diesem Urahnen, zusammen mit Marias Erinnerungen, daraunter auch denen aus ursprünglich Tante Steffis Mund, erzählen sie über das Haus die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Von Ausbeutung, Krieg, Überleben.
Die Tante Steffi auf dem Bild ist schon alt, sie ist in unseren Erinnerungen immer schon alt gewesen. Doch starb sie erst dreißig Jahre später in dem Haus. Die Großtante schaut nicht her, ihr Gesicht mit den wulstigen Lippen und den Brillen ist ganz dem Mädchen zugewandt, mit ihrem krummen Finger kratzt sie seinen Arm oder den Bauch des Teddys. Der war vielleicht ihr Geschenk.
Der Bub am Bild bin ich. Er schaut eher trotzig in die Kamera. Die Mundstellung deute ich heute als abweisend. Die Wolljacke – welche Farbe? ich erinnere mich nicht – ist gut zugeknöpft, auch der Hemdkragen bis obenhin. Auch die Schachtel unter dem Arm erzeugt einen Abstand. Wahrscheinlich war da mein Geschenk drin. Tante Steffi wurde dann später meine Firmpatin. Aufgezwungen, ich mochte diese Tante nicht, sie war mir unangenehm, unheimlich. Ich wollte mit ihr, mit dem Haus nichts zu tun haben. Hatte dann später auch nichts damit zu tun.
Als Volksschulkinder damals waren Maria und ich ein Pärchen. Nur vierzehn Monate treffen uns im Alter. Meine ersten Freundinnen bekam ich später von ihr. Als sie mit zwanzig zu Tante Steffi in das Haus in Graz zog, war das einer der Schritte der Trennung.
Mir fällt auf, dass die Tür des Hauses offen ist. Wir werden in den VW Käfer steigen (ganz links am Bildrand) und nach Villach fahren. Tante Steffi wird winken und dann gleich durch die offene Tür hineingehen und sich die steile, schmale Stiege hinaufschleppen.
Der unsichtbare Fotograf ist unser Vater. Er ist in dem Haus geboren. Eine dramatische Sturzgeburt auf der steilen, schmalen Stiege am 5. Februar 1931. Tante Steffi war dabei. Warum erzählt sie, dass Onkel Julius sein kleines Brüderchen, als er es in Blut und Schleim erblickte, gleich entsorgen wollte? Das ist eine der finsteren Geschichten, zu denen es keine Bilder gibt.

Mladen Savić: Destination Bios

Überschattet von der Corona-Krise, ihren medialen Schwerpunkten, sozialen Umstellungen und existenziellen Fallen, ist nahezu nebenher der Frühling ins Land gezogen und hat seine flauschigen Fühler nach allen Seiten hin ausgestreckt. Im großen Garten hinter der For-Forest-Villa hat sich über Boden und Flächen überall dichter Blütenstaub gelegt. Sattes Grün in allen Nuancen hat sich in die Äste und Baumkronen gehängt. Flügelförmige Baumsamen trudeln, um ihre Achse tänzelnd, von oben herab und bedecken Gras und Liegen. Die Goldfische im Teich, ein paar Dutzend an der Zahl, lassen sich davon nicht stören. Die Vogelkonzerte schon früh morgens scheinen hier, mitten in der Stadt, lauter und lebendiger zu sein als auf den Waldwegen von Kreuzbergl. Das wohltuende Wetter lässt die Laune nie kippen. Sonne und Wärme, blauer Himmel mit weißen Wölkchen und die Buntheit der Blüten stimmen die Tage auf einen gelassenen Gang und eine heitere Note ein. Es tut gut, jedes Mal aufs Neue zu erleben, wie das frühlingshafte Erwachen der Natur sich selbst besingt und feiert, wie zügig der Sommer immer einzieht, jahrein, jahraus, so als wäre der Vergänglichkeit vorübergehend eins ausgewischt und sie selbst vorerst wieder besiegt worden. Mit fortschreitendem Alter und welkender Lebenskraft geht meist einher, dass der Kreislauf der Natur sich für uns Menschen melancholisch einfärbt. Deshalb, wie ich annehme, kümmern die Alten sich so liebevoll und geschäftig um ihre angelegten Zierbeete.

 

Alle Blumen könne man abschneiden und doch den Frühling nicht verhindern, habe ich vor einigen Jahren auf einer Hauswand von Barcelona zu lesen bekommen, unweit des Strands in einer kleinen Seitengasse. Bestimmt würde es Pablo Neruda, den Poeten der Lebensbejahung und Verständigkeit, nicht stören, dass ihm das Zitat zugeschrieben wird, wenn auch fälschlicherweise. Sein Name ist nämlich unter das Graffiti gesprüht gewesen. Die Natur sei gewissermaßen eine mächtige Größe, mit der wir erstens rechnen müssen – und zweitens mit ganz anderen Maßstäben als den gegenwärtigen. So deute ich die Aussage. Weltbezogenheit dieser Art stellt ein hohes Gut dar in Zeiten, in denen Konsum, Industrie, Transport und Ökosystem in einen zweifelsfreien Zusammenhang gesetzt worden sind, geradezu als gruseliger Gemeinplatz des Jahrhunderts. Wie sehr ich mich also zur Außenwelt in Bezug setze, so sehr nehme ich an ihr auch teil, nicht mehr und nicht minder, und der Bezug sollte möglichst sinnvoll sein. Ohne diese Anteilnahme aber begegnen wir der Wirklichkeit mit der Zärtlichkeit eines Stemmeisens und unweigerlich auch dem Subjekt als bloßem Objekt. Eine Situation zu unserem Nachteil ist dann teilweise vorprogrammiert. Zu sagen, wenngleich in bester Absicht, wir könnten gegen die Natur niemals siegen, impliziert indes, dass wir gegen sie längst Krieg führen, gegen ihr empfindliches, bewegtes Gleichgewicht, gegen ihr Überleben und das unsrige. Ein umsichtiger Umgang mit Mensch und Umwelt täte jedenfalls not, und Umsicht als ein Baustein der Intelligenz hat freilich viele Formen und Facetten.

 

Doch das falsche Wirkliche hat immer auch dessen innewohnende Wendung gebracht und hervorgebracht: das an sich Mögliche, das nur noch nicht Wirkliche, den richtigeren Gedanken, den besseren Entwurf – infolge innerer Entwicklung und in Form von kritischer Fantasie und realer Kritik. Kein Ort existiert zwar, an dem nicht das falsche Wirkliche triumphieren würde, sondern allein das richtige Mögliche. Ich zumindest kenne keinen, aber ich glaube auch nicht an die bestehende als die beste aller Welten. Jedoch, keine Zeit hat jemals existiert, da der utopische Nicht-Ort als etwas Notwendiges und Wünschenswertes nicht auch Druck gemacht und Zugeständnisse an die Verbesserung erzwungen hätte. Diese Dynamik ist ebenfalls nichts Neues. Die Forderung nach einem Ausgleich mit der Welt, der natürlichen wie der menschlichen, nach einem dem Logos naturgemäßen Leben, nach einer Verbindung von tätigem Dasein mit geistigen Dingen, diese Forderung ist in der Philosophie recht alt und reicht, in der Begriffsgeschichte bekannt als Bios, bis in die Antike zurück. Die Sozialphilosophen der Moderne haben auf ihre Weise nach einem höheren Gleichgewicht gesucht durch den Grundgedanken einer harmonisierten Befriedigung der Bedürfnisse und einer Befreiung von Arbeit. Die Ökologen, bemüht um eine gesamtheitliche Perspektive und nachhaltige Harmonie, verkörpern, aus einem geschichtlichen Winkel heraus, die weitere Ausweitung der Fragestellung und insoweit die nächste Stufe auf dem Weg ins Reich der Freiheit, denn sie fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Leben und nach dessen Gesetzen. Und gut so! Die Anerkennung allgemeiner Größenordnungen und Abhängigkeiten erweitert als geistige Grenzziehung schlussendlich unseren Handlungsspielrahmen.

 

Kurz, Koexistenz kann keine Herrschaftstechnik sein – nicht mehr in diesem Jahrhundert, und sicherlich nicht in Bezug auf die Naturgewalten. Die Industrie hat sich als ökologische Massenvernichtungswaffe herausgestellt. Da werden, um die obige Metapher abermals aufzugreifen, nicht bloß Blumen geschnitten, sondern Wälder gerodet, Flüsse verödet und Berge leergepumpt. Die Motorisierung fährt wörtlich Land und See zugrunde. Vielleicht ließe sich der Frühling am Ende doch noch verhindern, indem wir durch Extremklima die Jahreszeiten auslöschen? Der Mensch, mehr als nur eine Tierart und weit weniger als ein Gott, hat sich sozusagen selbst vom Thron der Welt gestoßen. Wie irreparabel die angerichteten Schäden an seinem Lebensraum und mitunter am eigenen Wesen sind, am menschlichen Körper, an der Psyche, am Massencharakter, wird sich schon noch zeigen … Bios und Logos müssten umso umgehender zueinanderfinden wie auch die Kultur zur Natur und der Massenmensch zur Umwelt als seiner wichtigsten Existenzbedingung. Ein umfassender Umbau der gesamten Lebensweise steht bevor, entgegen herrschenden Interessen und samt allem, das an Maßnahmen dazugehört. Nur an diesem noch nicht geschaffenen Ort erkannter Notwendigkeit, rationaler Grenzen und nützlicher Fantasie wird kommenden Generationen genuin gelingen, was wir gemeinhin als Frieden, Glück und Sinn bezeichnen. Mit alledem könnten die Kids von morgen ziemlich ins Schwitzen kommen, etwa, wenn die Feuchtkugeltemperatur über 30 Grad Celsius ansteigt, was nicht nur der Grenzwert dafür ist, wie kühl unser Schweiß den Körper halten kann, sondern auch das, was bestimmte Erdregionen für unsere Spezies atmosphärisch unbewohnbar macht. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ich hier keinerlei Zukunftsprognose zeichne – solche Zonen und Regionen gibt es auf dem Planeten bereits. Ausgleich mit der Welt sieht anders aus, würde ich meinen.

 

Nun ist aber das meiste, was uns als modernen Menschen normal und vertraut vorkommt, streng genommen, ein durch und durch künstliches Umfeld, von Menschenhand gebaut. In freier Natur finden sich weder Treppen noch Gehsteige, weder Maschinen noch Glühbirnen. Fragt sich: Was ist schon „natürlich“, was soll das letztlich sein? Wir lernen, während wir aufwachsen, wofür das sprachliche Zeichen, der Begriff ungefähr steht, und wissen ausgewachsen immer noch nicht, was es wirklich bedeutet, konzeptuell, emotional, weil uns der entsprechende Erfahrungswert fehlt und weil die Natürlichkeit als solche zu einem reinen Konzept geworden ist, welches sich nirgends unmittelbar beobachten lässt. Einerseits hilft uns im Urteil der Komparativ: die Kategorie des nächst Natürlicheren oder eben des weniger Natürlichen. Andererseits müsste vorher genauer geklärt werden, wie die Bestimmung der Natürlichkeit an und für sich zustande kommt, nach welchen Kriterien, ob aus hinreichenden Gründen, und so in einem fort. Vieles verkompliziert sich in der kollektiven Entscheidungsfindung sehr schnell. Was uns unbenommen bleibt und mich als Zeitzeugen bizarrer Weise tröstet, ist die Einsicht, ihrerseits immer manifester in der Weltgemeinschaft, dass die Künstlichkeit auf uns zurückwirkt und alle allmählich davon erfahren – sodass wir uns ein bisschen bewusster aussuchen sollten, was uns da, als gesellschaftlich Ersonnenes und Hingestelltes, im Gegenzug beeinflusst. Immerhin eröffnet sich durch Information ein menschliches Betätigungsfeld.

 

Wenn man zu lange oder ausschließlich im künstlichen Umfeld weilt und verweilt, verliert sich der würdige Bezug zu äußeren Determinanten, und man merkt manchmal, in welchem Maße man verlernt hat, den kulturellen Tunnelblick abzulegen und das Natürliche und seine Macht in und außer uns wahrzunehmen. Am besten offenbart sich dieser Umstand in der nervösen, urbanen Unfähigkeit, in einer Naturlandschaft entspannt Zeit zu verbringen, zur Ruhe zu kommen und sie vollends zu genießen sowie Pflanzen und Tiere überhaupt noch als Lebewesen zu empfinden, außer dem Wissen nach, im klassifizierenden Sinne, aber nicht dem Verhalten nach. So oder so interagieren wir mit Flora und Fauna. Vor allem persönliche Erlebnisse mit Lebendigem prägen dahingehend meinen Zugang. In Wien füttere ich unter meinem Fenster im ersten Stock regelmäßig die schreckhaft-vorsichtigen Krähen, unter die sich hin und wieder Täubchen mischen, und sehe verwundert zu, wie ein wenig Rasen sich im Nu schwarz färbt und in ein gefräßiges Getümmel verwandelt. Dabei kann ich nicht behaupten, durch ein Schnabelklopfen auf die Fensterscheibe noch nie geweckt worden zu sein, im Gegenteil. Lebewesen reagieren immer auf uns. In Klagenfurt habe ich bislang keine solche Angewohnheit entwickelt, wundere mich nach jedem Fensteröffnen wiederum über die unaufdringliche Anwesenheit oder eben Abwesenheit eines Holzameisenvolks, das drinnen im Rahmen und wohl in der Mauer wohnt und sich zum Glück nicht in mein Hoheitsgebiet ausbreitet, vermutlich weil es draußen genügend Nahrung zu finden weiß. Wir haben wenig miteinander zu tun. Dafür sind die hiesigen Amseln viele und äußerst zutraulich. Was ich damit sagen will: So oder so reagieren Flora und Fauna auch auf uns.

 

An erstaunlichen Erfahrungen mangelt es mir dahingehend nicht, weder mit irgendwelchen mir am Arbeitsplatz geschenkten Topfblumen, die ich so sehr gehasst habe, dass sie – ohne Übertreibung – unerklärlicherweise über Nacht eingegangen sind, noch mit einer legendären Sandbiene am Wienerbergsee, die so lange und so lästig um meinen Kopf gekreist ist, bis ich nachgebend mein Handtuch um einen Meter verschoben habe und sie, aha, zu ihrem Hauseingang hat gelangen können – von faszinierend persönlichen Beziehungen mit eigenen und fremden Haustieren ganz zu schweigen. Manche Geschichten sind rührend. Ein argentinischer Fischer, habe ich in einem Dokumentarfilm einst gesehen, hat alljährlich Besuch von einem Pinguin, den er früher gerettet und gesundgepflegt hat, wobei dieser tausende von Kilometern zurücklegt, nur um seinen menschlichen Freund zu besuchen. Und Koko aus Kalifornien, ein unlänst gestorbener Gorilla, der den Spiegeltest bestanden und die Gebärdensprache mit einigen hundert Worten beherrscht hat, soll recht reflektiert gewesen sein und sich selbst nach einem Tobanfall als „störrischer Teufel“ beschrieben haben. Diese Wunder der Natürlichkeit sind in Wirklichkeit keine, sondern vielmehr der sichtbar gewordene Kommunikationsraum alles Lebendigen unter sich.

 

Die Natur ist insgesamt mehr als ein biologisches Faktum. Sie bedeutet Leben in der ganzen Breite des Begriffs. Wenn wir heutzutage lapidar von Umweltschutz und Klimaveränderungen reden, darf nicht vergessen werden, dass es auch ein neues gesellschaftliches Klima braucht, um den Herausforderungen der Zukunft entsprechend sensibel entgegenzutreten, eine angepasste Haltung, eine andere Form von Bewusstsein, völlig veränderte Modelle für das Arbeiten, Ernähren, Wohnen und Mobilsein in Massen. Nicht nur unser irrationales Verhältnis zu den natürlichen Ressourcen, beispielsweise zu den Bodenschätzen, dem fruchtbaren Land und dem trinkbaren Wasser, müsste strukturell überwunden, sondern individuell auch der Blick für die äußeren und inneren Gefährdungen des Ökosystems geschärft werden: von den kosmischen, klimatischen, tektonischen, vulkanischen und viralen Phänomenen über Rodungen, Schädlinge, Kriege, Urbanisierung, unkontrollierte Demografie und industrielle Verschmutzung bis hin zur madig modernen Mentalität, alles Leben – Pflanzen, Tiere, Menschen! – für Objekte zu halten, die man sich untertan machen kann, sprich, bis hin zur gesellschaftlich funktionellen Desensibilisierung des Einzelnen, was wiederum zu global instabilen Systemen führt. Wie könnte das keine Konsequenzen haben? Das Eintreten verschiedener Gefährdungen in engeren Intervallen erfordert, wie mir scheint, eine Vielzahl verschiedener Strategien zur Eindämmung der Folgeschäden. Anfangen kann man mit der persönlichen Sicht, und die meinige hat sich durch die Beschäftigung mit diesen Themen gewiss gewandelt. Ich kann Lebewesen längst nicht mehr nur als Nutznießer betrachten. Das Leben lebt und bejaht sich selbst, und zu leben heißt insofern, mit Lebendigem in Berührung zu kommen.

 

Kommentar von Gernot Waldner

Einer Deiner Gedanken, die mich am meisten überzeugt haben, findet sich auf Seite 3: „Immerhin eröffnet sich durch Information ein menschliches Betätigungsfeld.“ Mir ist dieser Gedanke beim Grammatikunterricht das erste Mal klar geworden. Die meisten Studierenden landen mit einer normativen Vorstellung von Grammatik an der Universität: Grammatik bestimmt, wie man richtig schreibt. Als erstes muss man ihnen leider beibringen: das ist falsch. Grammatik bestimmt nicht, wie man richtig schreibt, sondern versucht mit Regeln zu beschreiben, wie Sprache funktionieren kann.

Dennoch sitzt das Ressentiment tief: Warum muss ich denn lernen, welche sieben Arten des Genitiv sich bestimmen lassen? Die einfachste Antwort ist die: weil man mit dem Wissen über die sieben Arten des Genitiv mehr mit seiner Sprache anfangen kann als ohne sie. Übertragen auf die Ökologie fällt mir dazu ein Format von BBC4 ein: Gardener’s Question Time. In dieser Radiosendung rufen Leute mit Gartenproblemen an: perverser Nachbar, tote Hecke, Hund mit Verdauungsproblemen, schottische Winter ohne Blüten. Alle Probleme haben mit einer ökologischen Situation zu tun und die vier ExpertInnen, die auf die Anrufenden reagieren, haben fast immer vier unterschiedliche Antworten auf das Problem. Auch für die Ökologie gilt also, dass mehr Information zu einem größeren Betätigungsfeld führen. Gerade für eine Kulturstiftung scheint mir dieser Gedanke unbezahlbar wertvoll.

Bei Deinem Absatz zum „kulturellen Tunnelblick“, in dem Du meinst, es gebe eine „nervöse, urbane Unfähigkeit, in einer Naturlandschaft entspannte Zeit zu verbringen“, war ich mir nicht sicher, ob ich Dir zustimme. Zunächst wegen dem Argument, das Georg Simmel in „Die Großstädte und das Geistesleben“ gemacht hat, dass gerade in Städten intellektuell anregendere Gespräche stattfinden können. Meine Erfahrung bestätigt das und was von Dir „Unfähigkeit“ genannt wird, würde als Fähigkeit sozusagen mein Wiener Biotop bedrohen. Die grundlegendere Frage ist aber, ob der Zugang zur „Natur“ nicht immer auch ein entfremdeter sein muss, sofern man darüber wissenschaftlich etwas lernen will. Natürlich ist „Entspannung“ und „Ökologie“ kein Widerspruch, aber dass ersteres eine Bedingung für letzteres sein soll, leuchtet mir nicht ein.

Schließlich thematisiert der Text einen „Ausgleich mit der Welt, der natürlichen wie der menschlichen“ und bietet einen kurzen Überblick über die Geschichte dieses Gedankens, von den antiken Philosophie über die „Sozialphilosophen der Moderne“ bis zur Ökologie. Was mir hier etwas zu kurz kam, war, dass „Information“ über Natur auch immer schon politisch genutzt wurde und es nicht leicht ist, ein Kriterium zu finden, wie man ideologische Beschreibungen von „anderen Modellen für Arbeit…“ unterscheiden könnte.

Ein Autor, der den letzten Teil seines Lebens in der niederösterreichischen Natur verbracht hat, hat gegenüber dem Vorbild der Natur seine schönsten Bedenken angemeldet:

 

W.H. Auden: Bestiaries are out (July 1964)

A sweet tooth tought us to admire

The bees before we’d made a fire:

Nemorivagrant tribes at least

Could serve wild honey at a feast

 

Accustomed in hard times to clem

We started soon to envy them

An industry that stocks their shelves

With more food than they need themselves

 

By estimation, too, inclined

Towards a social stead of kind

We sought from study of their hives

To draw some moral for our lives,

 

And when conspiracy, revolt,

Gave Princes of this world a jolt,

Philosophers and Christian Preachers

Upheld the Bee as Civics Teacher

 

Now bestiaries are out, for now

Research has demonstrated how

They actually behave, they strike us

As being horridly unlike us:

 

Though some believe (some even plan

To do it) that from Urban Man,

By advertising plus the aid

Of drugs, an insect might be made.

 

No. Who can learn to love his neighbor

From neuters whose one love is labor,

To rid his Government of knaves

From commonwealths controlled by slaves?

 

How, for us children of the word,

Anthropomorphic and absurd

To ask what code they satisfy

When they swoop out to sting and die,

 

Or what catharsis undergo

When they put on their biggest show,

A duel to the death between

A tooting and a quacking Queen.

 


FOR FOREST – Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 5