Mladen Savić: Immer wieder Gartengesänge

Wieder und immer wieder, genauer gesagt, jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse oder eben in meine Residenz am Viktringer Ring zurückkehre nach schönen Ausflügen und ausgiebigem Feiern, bin ich überrascht und überwältigt von dem Farbenreichtum und der Üppigkeit des wilden Gartens, der nicht nur für mich einen Zufluchtsort im Stadtzentrum darstellt, eine wahre Oase für Ruhe und Rückzug, sondern auch ein wertvolles Habitat für eine ganze Reihe von Vögeln, Säugern, Amphibien und Insekten.

Über Monate hinweg, in denen ich hier hause, ist es mir möglich gewesen, diesen gleichsam antiautoritären Garten, natürlich wachsend und selbständig sich anordnend, wie er, abgesehen von kleineren Eingriffen, ist, nach und nach zu beobachten. Radial sind manche Stauden größer geworden, doch das horstig wachsende Dickicht bleibt überschaubar. Die Laubbäume mit ihren saftigen Kronen wiegen sich im Wind und säuseln eine Melodie, fast so alt wie das Wellenrauschen am Wasser seit Urzeiten. Vor mir erstreckt sich, versteckt hinter Villa, Radweg und Straße, eigentlich eine Nische für Flora, Fauna und Biodiversität.

Wo im Frühling noch dicht verstreut am Boden lauter Blütenblätter gelegen sind, als Notblüten wahrscheinlich, weil das Wetter spinnt, dort unter dem Magnolienbaum, wo ich gerne sitze und raste und entspannt in die Welt hinausschaue, grünt nun alles. Früher sind da flauschige Samen zu finden gewesen, von Kuhschellen, glaube ich, und Mutterkraut, das irgendwie an Gänseblümchen erinnert und den Schnecken angeblich verhasst ist, und Löwenzahn, der eine Leber schützende und Krebszellen hemmende Wirkung hat und bekanntlich für den Salat verwendet werden kann.

Man stelle sich bloß einmal vor: Ein Bienenvolk muss ungefähr 50.000 bis 100.000 Löwenzahnbesuche durchführen, um ein einziges Kilogramm Honig daraus zu gewinnen. Schon die Größenordnungen übersteigen meine Vorstellungskraft, von den weltweit jährlich produzierten 1,8 Tonnen süßer Köstlichkeit ganz zu schweigen … Und je diverser die pflanzlichen Arten vor Ort, von dem sich Bienen dann den Nektar holen, desto besser und schmackhafter der Honig! All das wäre ohne derlei Nischen, die ja Lebensräume für die Tiere sind, viel schwerer.

Andere krautige Blütenpflanzen scheinen einander im Garten der For-Forest-Villa an Präsenz und Farbenpracht überbieten zu wollen, und auch der angepflanzte Meerrettich, wie ich sehe, hat an Größe deutlich zugenommen. Überhaupt stellt dieser Ort eine Ausnahmeerscheinung dar mit all seinen pflanzlichen Gartenvagabunden, die ich seit meiner Ankunft im Frühling erspäht habe: dunkle Akeleien und helle Christrosen in engen Spalten, Krokusse in der Wiese, Dahlien mitten im Gebüsch, Lilien am Teich und duftender Lavendel, der in mir, solange er nicht im Kleiderschrank liegen muss, um die Motten zu vertreiben, aromatisch so etwas wie mediterrane Lebensgeister weckt.

Ich mag es sehr. Manchmal bedauere ich, kein Gärtner geworden zu sein, der sich mit Pflanzen praktisch auskennt – ein bisschen zumindest. Als Stadtkind hat so ein Wissen, eines über Hortikultur nämlich, auf mich meist wie ein Vorzug gewirkt gegenüber dem Kennen aller Automarken oder Fernsehserien, wie es für die Bewohner der Betonwüste üblich ist. Ansonsten neige ich nicht zur Romantisierung der sogenannten Bodenständigkeit und Naturnähe. Ein wilder Garten indes ist ein großes Glück!

Darüber hinaus, wie ich bei Gelegenheit anmerken möchte, fördert die wissenschaftliche Forschung von heute zutage, dass das berüchtigte Spielen im Dreck, was Kinder gemeinhin lieben, und das gärtnerische Wühlen in der Erde mit nackten Händen tatsächlich gesund seien, und zwar insofern, als sich im Boden ein gewisses Mycobacterium vaccae befindet, welches den besonderen Effekt aufweist, physische Schmerzen zu lindern und das emotionale Wohlbefinden zu unterstützen. In Testversuchen soll das interessante Bakterium aus dem Erdreich ähnliche Erfolge verzeichnet haben wie künstlich hergestellte Antidepressiva, in erster Linie wegen seiner Förderung der Balance im Immunsystem sowie der Serotoninproduktion im Gehirn. Unglaublich!

Tatsache und ebenso einleuchtend ist, dass heimische Pflanzen, die sich eigenständig ihren Standort suchen, entsprechend perfekt daran angepasst sind. Wörtlich haben sie weise gewählt, denn das Sinnvolle setzt sich durch. Stets setzt die lebendig-dynamische Pflanzenverwendung einen bestimmten Kreislauf voraus: passender Standort und Nachbarn – Blüten – Insekten – Bestäubung. Selbiger ist Voraussetzung für einen gelungenen Garten. Vom Sommer bis zum Herbst findet man an den verblühten Blüten und ausgetrockneten Beeren verschiedene Vögel wie Amseln und Finken, beispielsweise an Distelarten. Ab Herbst essen Käfer, Mäuse und Bilche die vorhandenen Samen oder sammeln sie als Futtervorrat für den Winter.

Es ist rechtens, auch hierorts von einem standortgerechten Wuchs zu reden, wenn Pflanzen sich ihr Plätzchen selbst aussuchen, auf natürliche Art und Weise, ohne allzu viel äußeren Zwang. Dieser Zugang offenbart zugleich ein mikrosoziales Bekenntnis zum ökologischen Gleichgewicht im gegenwärtigen Gezerre zwischen Natur und Kultur. Die menschlichen Störungen dieses Gleichgewichts durch die Einführung invasiver Arten haben anschaulich gezeigt, was für gefährliche Folgewirkungen dabei auftreten können: bei Tieren die geschichtlich berühmte australische Hasenplage aufgrund fehlender, natürlicher Feinde und bei Pflanzen in Europa nunmehr die ungebremste Ausbreitung der amerikanischen Lupine oder des japanischen Staudenknöterichs auf Kosten anderer Vegetation.

Die Gartenkunst als solche gibt es schon lange. Die mehr als 4000 Jahre alten Felsengräber im ägyptischen Benni Hassan belegen mit ihren Abbildungen ein kultisches Anlegen von Gärten, da im antiken Ägypten die Bäume allgemein als heilig gegolten und, neben dem zur Schau gestellten Wohlstand, auch das religiöse Versprechen der Wiedergeburt symbolisiert haben. Auch daheim am alten Kontinent haben sich nach der Verwüstung Roms über Jahrhunderte allmählich die Mönche zwecks landwirtschaftlicher Unabhängigkeit Nutzgärten und später Aristokraten Lustgärten zu kontemplativ-ästhetischen Zwecken angelegt, angefangen mit Charlemagne alias Karl dem Großen, einem persönlichen Freund des Kalifen Harun ar-Raschid, der ihm großzügige Geschenke gemacht hat – so allerlei, von einem weißen Elefanten bis hin zu feinsten Früchten und Zierpflanzensamen.

Der Garten hat einstmals den greifbaren Gegensatz zur ungezähmten Naturlandschaft verkörpert, wobei das Geometrische daran, von Versailles bis Schönbrunn, als ein Ausdruck des Kultivierten und Veredelten, des bewusst Künstlichen gelten soll. Die konzeptuelle Beschränkung allein auf Struktur, Gestalt und Geometrie reicht nicht aus, um den Begriff des künstlichen Objekts abseits seiner Funktion sinnvoll herauszuschälen. Doch fest steht, wie Jacques Monod einmal gesagt hat, dass „der Ordnungsgrad selbst des einfachsten Organismus unvergleichlich viel höher ist als der eines Kristalls“, welcher „makroskopischer Ausdruck einer mikroskopischen Struktur“ ist – auch wenn ein Außerirdischer zu Besuch auf unserem Planeten die regelmäßige, kristalline Form anfänglich wohl kaum für eine natürlichen Ursprungs halten würde. Auf ähnliche Weise ist der Ordnungsgrad eines Waldes um ein Vielfaches höher und komplexer als der eines von Menschenhand angelegten, begehbaren, botanischen Gartens.

Heutzutage, da überhaupt wenig Wildnis in der Landschaft und wenig Natürlichkeit im menschlichen Lebensraum anzutreffen ist, sondern hauptsächlich artifizielles Umfeld, steigt wieder der Wunsch nach dem Unberührten, das teils sich selbst überlassen wäre, nach dem Ausgleich von Natur und Kultur. Dieser Wunsch kündigt sich an als kollektiv unbewusste Gegenwehr zur übermäßig geometrischen Architektur und zur Strenge und begleitenden Lebensfeindlichkeit gängiger urbaner Planung.

Ohnehin strotzt der Alltag vor statischen, monotonen und berechenbaren Formen, in nahezu jeder Hinsicht. Doch das Bedürfnis im Menschen, sich Lebensbereiche zu schaffen und frei zu räumen, in denen dennoch eine natürliche Dynamik und eine naturverbundene Ästhetik herrschen, ist als Anlage vorhanden und bleibt uns, solange wir wahrlich Menschen sind, auch erhalten. Darum möchte ich die impliziten Wertigkeiten des Antiautoritären, obwohl es nur den Garten betreffen mag, in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen: Toleranz und Affinität für das Ungeplante als eine Art Ablehnung von kompletter Komposition und durch und durch reglementierter Totalität.

 

Alle TEXTE von Mladen Savić

 

FOR FOREST – Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 9

 

09.08.: Lesung von MLADEN SAVIĆ im Rahmen der Ausstellung „Birds flying into liberty“, CO-Festival Villach

Sonntag, 09. 08. 2020

Mladen Savić

 

19.00 Uhr Lesung von Mladen Savić im Rahmen der Ausstellung Birds flying into liberty

Ort: Kunst Raum Villach, Hauptplatz 10, 9500 Villach

 

Mladen Savić, ein Meister des Ungemütlichen als Essayist und Sozialkritiker, war im Frühjahr 2020 als erster „author@musil“ auf Einladung des Robert-Musil-Instituts in Klagenfurt zu Gast. Im Rahmen seines Aufenthaltes entstand eine Reihe an Blog-Texten, er hielt außerdem an der Universität die Klagenfurter Vorlesungen zur Poetik.

Für die Ausstellung „Birds flying into liberty“ verfasst Mladen Savić einen eigenen Text, den er an diesem Abend u.a. lesen wird. Dieser erscheint auch in der nächsten Ausgabe der kaz.

Mladen Savić, geb. 1979 in Zagreb, Jugoslawien, hat Philosophie in Lennoxville, Québec, studiert, lebt und arbeitet aber als Lektor, Übersetzer und Autor in Wien. 2016 erschienen sein Debüt Mücken und Elefanten. Essays, Reflexionen, Polemiken sowie die Kurzgeschichtensammlung Alltagserlebnisse. 2017 ist mit Feuer am Dach ein weiterer Band mit Essays, Reflexionen und Polemiken in Druck gegangen. Zuletzt erschien im Klagenfurter Drava Verlag der Band Narrenschiff auf großer Fahrt (2020).

Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv

 

Beitragsbild Text Malden Savic lesung Kunst Raum Villach

21.07.: Lesung von LYDIA MISCHKULNIG im Rahmen der Ausstellung „Birds flying into liberty“, CO-Festival Villach

Dienstag, 21. 07. 2020

Lydia Mischkulnig

 

19.00 Uhr – Empfang und Preview der Ausstellung „Birds flying into liberty“

20.00 Uhr – Lesung von Lydia Mischkulnig aus kulturpolitischen Texten und ihrem neuen Roman „Die Richterin“, Gespräch mit Edith Bernhofer über die (Un-)Sichtbarkeit von Frauen in der heutigen Gesellschaft, weibliche Perspektiven und

Machtverhältnisse.

Ort: Kunst Raum Villach, Hauptplatz 10, 9500 Villach

 

„Ich bin ein hochneugieriger Mensch. Ich glaube nichts. Ich muss überzeugt sein und suchend. Das geschriebene Wort brauchen wir, um zu wissen, wer wir sind. Die Sprache ist ein Spiegel, zugleich Abbild des Ichs und Abgrenzung von ihm.“

Lydia Mischkulnig ist eine der spannendsten und unkonventionellsten literarischen Stimmen Österreichs. Sie schreibt Erzählungen, Romane und Hörspiele. Als Prosaminiaturen sind ihre monatlichen Kolumnen in der FURCHE zu lesen. Dieser Tage erscheint ihr neuer Roman Die Richterin, ein sprachgewaltiges Psychogramm, in dem sie sich in die Welt einer Asylrichterin begibt.

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet hauptsächlich in Wien. Seit 1991 ist sie literarisch tätig, 1994 debütierte sie im Droschl Verlag mit dem Roman Halbes Leben. Zuletzt erschienen: Die Paradiesmaschine (Erzählungen, 2016), Die sieben Leben der Marie Schwarz (Anthologie, 2020).

 

Mladen Savić: Nur ein Nachtrag

Das Ende ist nie das Ende. Ereignisse haben die sture Angewohnheit, nicht zum Erliegen zu kommen. Auf etwas folgt immer wieder etwas. Dies lässt sich sagen ohne nähere Bestimmung oder schlechtes Gewissen. Bewegung und nicht Starre definiert die Welt, wie das geschichtliche Denken anhand seiner Belege beweist – wenngleich es im Leben vorschnell scheinen mag, als würden die Dinge sich kaum ändern. In meinem Fall hat es sich begeben, dass ich während des Sommers doch noch in Kärnten verbleibe, allem voran aus Freude über gewonnene Freunde, über die Menschen hier und die natürlichen Reize, über Stadt, See, Wald und die Berge rundum. Es gefällt mir in der Gegend, und dies ist sozusagen mein trunkenes Glück, als ein schriftstellerischer und persönlicher Segen.

Die Sinngebung meines verlängerten Aufenthalts ergibt sich dabei aus der urteilenden Betrachtung der Ereignisse und nicht aus dem Sammeln von Fakten und Beschreibungen. Auch in der Auseinandersetzung mit allgemeinen Entwicklungen überwiegt weiterhin die Vorstellung, Geschichte im weitesten Sinn, bis hin zur Biografie, befinde sich entweder in einem fortschrittlichen Prozess auf aufsteigender Linie wechselnder Zyklen des Erfolgs oder in einem rückschrittlichen Prozess auf absteigender Linie vom „goldenen“ Zeitalter zum Untergang. Das Ganze ist viel komplizierter, versteht sich. Die gefühlten Sicherheiten und gedanklichen Gewissheiten in der Menschheit, deren Teil ich bin, sind längst aufgebrochen und angeknackst, aber an deren Stelle ist nichts getreten als die postmoderne Lobhudelei gegenüber der Ambivalenz. Kurz, gesellschaftlich ist die Verwirrung groß. Das Leben hingegen, durch und durch konkret und von ambivalenten Haltungen unbeeindruckt, drückt seinen Wesen die wesenhafte Gegenständlichkeit auf, wie jeder greifbare Gegenstand einen Schatten wirft. Heute ist noch die Luft zu atmen, der Körper bewohnbar, das Wasser trinkbar, der Boden bebaubar, das Getier benutzbar und die Nahrung essbar – und morgen?! Wir befinden uns ökologisch und darum auch geschichtlich kopflos auf steinigen Wegen.

Ich versuche mich nun in keinem Rückgriff auf zyklische Geschichtstheorien, in denen göttliche Vorsehung wie in der Antike, ein Walten von Fortuna und Kontingenz wie in der Renaissance und die Allmacht von Relativität wie in der Postmoderne den Fluss des Lebens zum Glücksrad führt, welches alles Erreichte entweder zunichtemacht oder in ein Treppenhaus des stufenweisen Fortschritts verwandelt. Abfolgen und Entwicklungen sind schier eine Tatsache, und die Erinnerung an ihre Phasen, Höhen und Tiefen erfüllt allem voran die Aufgabe, den Höchststand der materiellen und geistigen Möglichkeiten erkennen zu lassen sowie im prüfenden Rückschluss die Bedingungen festzumachen, die diese Möglichkeiten entweder befördern oder behindern. Dass, was meines Erachtens wahr ist, der weltgeschichtliche Höhepunkt im Sinne einer Spitzenstellung der Gegenwart fortwährend vom erneuten Absturz in die Barbarei, Entmenschlichung oder gar Vernichtung bedroht ist, kann meinetwegen in Abrede gestellt, aber nicht auf ein Neues in einen zyklischen Weltbrand samt Wiedergeburt gepackt werden, welcher dem Bild des Blühens und Welkens der Natur und Kulturkreise entspräche. Diese Idee hat ausgedient und sich bestenfalls im gegenwärtig lebensweltlichen Zynismus wiedergefunden, wonach die Menschheit auf der Erde einem vorübergehenden, zerstörerischen Virus gleiche, an dem sie leide.

Die Überzeugung eines zeitlosen Schicksals oder einer überzeitlichen Gemeinsamkeit gewisser Entwicklungsepochen hat lange der geschichtlichen Selbsterkenntnis konzeptuell den Blick versperrt und täte es immer noch, wenn man sich narrativ darauf einließe. Das will ich nicht; dafür ist mir die Welt zu wichtig. Ein objektives Urteil und eine perspektivische Wertung vergangener Epochen im Umgang mit Mensch und Natur läge erst dann in Reichweite, nachdem das Übergewicht traditionalistischer Denkformen und systemisch etablierter Lebensgewohnheiten abgenommen hätte – was ja nicht der Fall ist. Wie gesagt, will ich auch morgen noch mit Frischluft in der Blumenwiese und ohne Hautkrebsbedenken in der Sonne liegen können. Dass ich mir überhaupt derlei Gedanken machen muss, provoziert mich in Wirklichkeit, aber soll ausführlicher ein andermal erzählt werden. Auch ist es mir kein Anliegen, eine Lanze zu brechen für die lineare Fortschrittstheorie, welche überholt ist und bereits von Bernard Fontanelle im 17. Jahrhundert aufgedröselt worden ist durch die Feststellung eines stetigen Wachsens von Erfahrungen und Erkenntnissen, ungeachtet aller Rückschläge und Irrwege. Fontanelle führt als Voraussetzung für ein kontinuierliches Anhäufen von Erfahrungswissen und nützlichen Techniken das Argument der gleichbleibenden physischen Konstitution des Menschen an und als Bedrohung und Grund für das Scheitern von Fortschritt, abgesehen von barbarischer Gewalt, den mächtigen Einfluss von Tradition, Unvernunft und die Neigung geschichtlich starr eingefasster Subjekte, trotz besseren Wissens in den Bahnen des Angestammten und Gewohnten zu verharren.

Sein Zeitgenosse Jacques Bossuet, ansonsten Bischof, hat diesbezüglich in seinem „Discours sur l’histoire universelle“ einst zu Recht klargestellt, dass kein besseres Mittel existiert aufzudecken, „was die Leidenschaften und Interessen, die Zeiten und Umstände, die guten und schlechten Ratschläge vermögen“, als das Studium der Vergangenheit selbst: „Die Geschichte besteht nur aus den Taten derer, die sie beherrschen, und alles scheint für deren Gebrauch gemacht. Wenn die Erfahrung für sie vonnöten ist, um jene Klugheit zu erwerben, die gut regieren lässt, so ist nichts nutzbringender für ihre Unterweisung, als mit den Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte die Erfahrungen zu verbinden, die sie Tag für Tag machen.“ Mit anderen Worten, die Aussage enthält, von ihrer Unbeholfenheit hinsichtlich der Herrschaftsverhältnisse einmal abgesehen, Keim und Kern eines notwendigen Geschichtsbewusstseins, das uns heute noch helfen kann, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Der sterbende Planet Erde wird eines brauchen, das wir ihm im Idealfall bereitstellen könnten. Sonst ist der Naturschützer, wie Richard Schuberth mokiert, in der Tat bloß: „Aktivist, den sich das zu schützende Objekt leider nicht aussuchen kann“.

Auf jeden Fall sind, wie sich mehr und mehr abzeichnet, der Zweifel und das Unverständnis gegenüber den zukunftsträchtigen Möglichkeiten moderner, materieller Kultur mitunter dem geschichtslosen Bewusstsein zu schulden, das mit der bestehenden, instrumentellen Lebensweise unmittelbar zusammenhängt – auch darum, weil das Gegebene nicht ansatzweise am Möglichen gemessen wird, sondern sich anderen verkündeten Relevanzen und Imperativen verschreibt, etwa den weltwirtschaftlichen, den unternehmerischen, den besitzorientierten und dergleichen. Es ist an der Zeit, uns ernsthaft zu fragen, was im Gegensatz zur altbekannten, administrativen Flickschusterei uns optimale geschichtliche Perspektiven eröffnen könnte, damit wir die in der unumkehrbaren Vorwärtsbewegung beschlossene, tragende Tendenz des Geschichtsprozesses von heute nicht völlig verfehlen und uns sinnvolles, kollektives Handeln erlauben. Das notwendige Kettenglied des Gesamtverlaufs der Weltgeschichte, an der wir alle wohl oder wehe teilnehmen, sind wir selber – ganz gleich, ob wir sie nun aktiv schreiben oder passiv erleiden. Die Umwelt stellt insoweit nur die Rahmenbedingungen dar, unter denen wir weiterleben können, und die gesellschaftlichen Widersprüche, infolge derer das Ökosystem keucht und in letzter Konsequenz auch wir ächzen, spitzen sich sichtlich zu. Sogar die heutigen Kids, die durchaus brave Konsumenten verkörpern, schaffen es nimmer, ihre Sorgen darüber zu verbergen, wie viel Wirtschaft denn die Natur in Summe verträgt und worauf der Welthandel geschichtlich hinausläuft. Eine Entscheidung naht, die uns alle betrifft, und wir sollten es endlich zur Kenntnis nehmen. Fragt sich freilich: Ist Überleben überhaupt noch die ultimative Ideologie?

Der Philosoph Immanuel Kant hat, passend zu dieser Frage, Rousseaus Problemlösung zu Natur und Kultur, zu Gesellschaft und Individuum, zu Lebenszeit und Geschichtlichkeit folgendermaßen bejahend zusammengefasst: „wie die Kultur fortgehen müsse, um die Anlage der Menschheit als einer sittlichen Gattung zur ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, sodass diese jener als Naturgang nicht mehr widerstreite.“ Es geht in irgendeiner Form um Einklang und eine Dynamisierung des Weltverständnisses. Andere aufklärerische Denker wie etwa Baron d’Holbach haben das Streben der Menschen nach Selbsterhaltung, nach Befriedigung ihrer Interessen und Bedürfnisse und nach Verbesserung ihrer Lebensbedingungen als Triebkraft des Fortschritts angesehen. Nicht dass man mich missversteht: Ich habe keineswegs die Absicht, wie eine Art philosophischen Nostalgikers piekfein in die Posaune der Aufklärung zu blasen und so den moralischen Zeigefinger zu erheben. Allein, sogar die geschichtlich abgelaufenen Gedanken und zuweilen unausgereiften Konzepte bieten Anhaltspunkte zur Besinnung auf Elementarfragen, die als solche in unserem schnelllebigen Zeitalter nicht mehr oder bestenfalls in verkürzter Form gestellt werden. Oder, wie der große Herder poltert: „Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung, aber in einem höheren Sinne geben, als man’s gewährt hat?“

 

 

K O M M E N T A R von Gernot Waldner

Der Text beginnt damit, dass der Erzähler offen lässt, ob es sich bei ihm um ein Ereignis handelt oder nicht. Dafür, dass er ein Ereignis ist, spricht der Umstand, das Ereignisse persistieren, ebenso wie der Erzähler in Klagenfurt. Dagegen, dass er ein Ereignis ist, spricht die Aussage, dass es „im Leben vorschnell scheinen mag, als würden die Dinge sich kaum ändern“. Mit dieser Ambivalenz lässt der Erzähler die Landeshauptstadt Kärntens in dankenswerter Ungewissheit.

In Abgrenzung von zyklischen Geschichtsmodellen und Narrativen des Fortschritts oder des Verfalls, positioniert sich der Erzähler historiographisch. Ihm liegt daran, die Bedingungen der Möglichkeit von Entwicklungen festzumachen. Diese Position ist Teil einer großen Tradition in der Geschichtswissenschaft. Der Erzähler geht aber darüber hinaus, indem er auch eine Art Ziel seiner Analysen andeutet, nämlich „den Höchststand der materiellen und geistigen Möglichkeiten erkennen zu lassen“, aus dem „sinnvolles, kollektives Handeln“ folgen könnte. Ich bin gespannt, was For Forest von diesem Vorschlag hält.

Eine Passage, die mir in ihrer Abstraktheit nicht ganz einleuchtete, ist die, in der behauptet wird, das „geschichtslose[ ] Bewusstsein“ hänge mit der bestehenden „instrumentellen Lebensweise“ unmittelbar zusammen. Wegen der Lebensweise werde das Bestehende nämlich nicht am „Möglichen gemessen“, sondern stehe unter „weltwirtschaftlichen, unternehmerischen, besitzorientierten“ „Imperativen“. Dem widerspricht die Diagnose des französischen Kulturpsychologen Alain Ehrenberg: er geht davon aus, dass das Mögliche noch nie so eine große Rolle gespielt hat wie im Neoliberalismus. Jeder Beruf, jede Weiterbildung, jedes Projekt hat den Anschein des Möglichen – für Ehrenberg die Ursache der stetig steigenden Zahl an Depressionen, da die Arbeitenden Subjekte nie bei sich selbst ankommen und dazu verdammt sind, dank des Möglichen, im Zustand des eigenen Ungenügens zu leben. Es könnte immer mehr gehen. Dem könnte der Erzähler entgegnen, dass sich dieses Mögliche eben an unternehmerischen Zielen orientiere. Die pointierte Rückfrage wäre hier: Wie nähert man sich dem Möglichen konkret, wenn man kein Erzähler ist?

 


 

FOR FOREST – Serie in Kooperation mit dem Musil-Institut, Teil 7