06.-08.11.: Musil und die Bibel, Tagung

Robert Musil und die Bibel: „Laientheologie“ zwischen Dichtung und Religion?

 

Arbeitstagung

06. – 08. 11. 2023

Hybrid: Online und vor Ort am Musil-Institut

 

Wissenschaftliche Leitung: Artur R. Boelderl (RMI/KLA) und Andreas Telser (Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society der Universität Wien).

„Sektionschef Tuzzi“, so lesen wir in Musils Notizen zum Aufbau seines großen Romans, als dieser noch den Arbeitstitel Der Erlöser trug (1921/22), „liest nur Homer und die Bibel“ (KA/Lesetexte/MoE). Im Rahmen der Fortsetzung des 1930 und 1932 in zwei Teilbänden erschienenen Buches Der Mann ohne Eigenschaften gibt die „Zwillingsschwester“ Agathe ihrem Bruder Ulrich dann im Grundentwurf des Kapitels Wandel unter Menschen (1933/34) lächelnd den Rat „Lies die Bibel!“ (KA/Lesetexte/Band 3/MoE), nachdem sie ihn bei einem Falschzitat aus derselben erwischt hat.
Und im Nachlass-Kapitel Atemzüge eines Sommertags, an dem der Autor noch am 15. April 1942, dem Tag seines Todes, gearbeitet hat, denkt Agathe „daran, daß beide diese Namen [sc. das Tausend-jährige Reich und das Reich der Liebe] schon seit den Zeiten der Bibel überliefert werden und das Reich Gottes auf Erden bedeuten, dessen nahe bevorstehender Anbruch in völlig wirklicher Bedeutung gemeint ist“ (GA 4, S. 428), und auch Ulrich benützt „zuweilen diese Worte ebenso unbefangen wie seine Schwester“, „ohne deshalb an die Schrift zu glauben“ (ebd.).

Niemand Geringerer als der späte Northrop Frye hat zunehmend prononciert die für die Literaturwissenschaft (wenigstens die angelsächsische – von Harold Bloom und Margaret Atwood bis Frederic Jameson) immens wirkmächtige These vorgebracht, der zufolge „[j]ede menschliche Gesellschaft eine durch die Literatur vermittelte, verschiedenartige Mythologie (besitzt), die sie geerbt hat“ (Frye 2013a [1990], S. 8) und dass insbesondere die Bibel in ihrer Doppelstruktur einen „großen Code“ darstelle, ohne dessen Kenntnis in inhaltlich-thematischer ebenso wie formal-ästhetischer Hinsicht ein Großteil der westlichen Literatur schlicht unverständlich bleibe (vgl. Frye 2007 [1981] bzw. 2013b [1991]). Ist eine solche Betrachtungsweise auch für das Werk Musils aufschlussreich? Was hat es mit den angeführten, über nahezu die gesamte Entstehungszeit des Romans (und nicht nur für diesen Teil seines OEuvres) bemerkenswert konstanten Bezugnahmen auf die Bibel bei Musil auf sich – die für die erste Bearbeitergeneration desselben noch ganz präsent waren (vgl. Deibler 2003, S. 15), während sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Musilforschung doch deutlich in den Hintergrund der Aufmerksamkeit getreten sind –, was zumal mit Musils späten Notizen zur Laientheologie (vgl. GA 12, S. 539–545; s. auch Boelderl 2023)?

Die Zielsetzung der Tagung besteht darin, im Anschluss an diese und ähnliche Fragestellungen interdiskursive Vernetzungen zwischen Dichtung und Religion(swissenschaft) bzw. Literatur und Theologie in Musils Werk in historischer wie systematischer Perspektive zu untersuchen.

Die Tagung wird hybrid abgehalten, das heißt: Für auswärtige Interessent*innen ist die Teilnahme online vorgesehen.

Weitere Informationen:
Robert Musil und die Bibel: „Laientheologie“ zwischen Dichtung und Religion? – Universität Klagenfurt (aau.at)

02.11.: Sophia Lunra SCHNACK und Leopold FEDERMAIR

Sophia Lunra Schnack: feuchtes holz

Leopold Federmair: Hiroshima Capriccios

Lesungen

Moderation: Nadine Hötzendorfer-Fejzuli (Otto Müller Verlag)

 

Donnerstag, 02. 11. 2023

19.30 Uhr                    

 

 

Über feuchtes holz von Sophia Lunra Schnack:

Du bist zurück am Ort deiner Kindheit. Dein erstes Laufen um den See wird zum Einlaufen in frühere Gerüche, in Gefühle von Geborgenheit, abseits von Tempo. Du bist wieder hier, stehst auf der Brücke am Ende des Sees. Das feuchte Holz trägt seinen Geruch zu dir und mit ihm die Bilder deines nicht mehr existierenden Familienhauses. Es riecht nach morschen Brettern, der regennassen Veranda, den Badeanzügen der Großmutter, dem Wetterfleck des Großvaters …

Das Gehen zu früheren und gegenwärtigen Orten rund um das ehemalige Haus verschafft dir Zutritt zu vergangenen Stimmen, Silhouetten, Berührungen – aber auch zum Verstehen. Denn du begreifst, wie nie aufgearbeitete Kriegstraumata der Familie in deinem Körper, deinen Emotionen und Denkmustern weiterwirken.

Sophia Lunra Schnacks Debütroman bewegt sich in einem zeitlosen Raum, in dem die Grenzen zwischen Erinnerung und Zukunft, Vergangenheit und ihrer gefürchteten Wiederkehr durchlässig werden. Fast märchenhaft mutet die Landschaft an, vor der rückblickend Kriegsrealitäten von Großvater und Urgroßvater erzählt werden. Der Übergang geschieht unbemerkt, elegant, harmonisch, genauso wie literarische Schranken und Genre-Grenzen sich verschieben: Prosa verwandelt sich in leichtfüßige Strophen und Verse erzählen ihre Geschichten. In der Auflösung erst entsteht der Zusammenhalt.

 

Über Hiroshima Capriccios von Leopold Federmair:

„Das neue Jahr tagt

und die Spatzen erzählen

alte Geschichtchen.“

 

Das Neue und das Alte, das Zentrum und die Peripherie; das schrille, laute, das voll Urbane und die einsamen, weitläufigen Landschaften rund um Hiroshima: Leopold Federmair begibt sich als autobiografischer Erzähler seiner „Capriccios“ gehend, mit dem Fahrrad oder dem Boot auf „Regionalreisen“. Das meist unbestimmte Ziel ist seine Stadt mit ihren Bezirken, Rändern, ihrem Außerhalb. Als „Erforscher des Unscheinbaren“ interessiert ihn das Normale und Kuriose im Alltäglichen. Das Frühere und Vergangene zu bewahren, gelingt ihm in vielfältigen Er-Gehungen, Er-Fahrungen: „In Wort und Bild rette ich dies und jenes vor dem Verschwinden.“ Der Blick des Europäers, der seit über 15 Jahren in Japan lebt, ist noch immer neu und neugierig.

Er verzichtet auf Auto und Shinkansen, seine Welt ist langsam. Er lässt sich treiben, lässt den Zufall entscheiden, nimmt Abzweigungen und unbekannte Wege. Sein Schreiben tut es ihm gleich, es ufert aus, mäandert, kehrt zurück. Der literarische Ertrag dieser kleinen Unternehmungen sind die nunmehr vorliegenden „Capriccios“ – meist leichte, auch launische Stücke in Prosa und Lyrik.

 

 

Sophia Lunra Schnack, geboren 1990, lebt und schreibt überwiegend in Wien und veröffentlichte bislang Lyrik und (lyrische) Prosa auf Deutsch und Französisch. 2022 erhielt sie den rotahorn-Literaturförderpreis. Seit 2023 leitet sie einen Lyrikblog für „Das Gedicht“ (Hg. Anton Leitner).
Leopold Federmair, geboren 1957, ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig. 2012 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Leopold Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.

 

19.10.: Bernhard C. Bünker – Olle im Doaf

Olle im Doaf

Texte von Bernhard C. Bünker und Musik

Dietmar Pickl (Lesung)

Martin Sadounik (Harmonika)

 

Wonn du amol geast. Karntna Bluus
CD-Präsentation von Gottfried Gfrerer

 

Donnerstag, 19. 10. 2023

19.30 Uhr

 

Bernhard C. Bünker (1948–2010) hat als ältestes Kind des evangelischen Pfarrers und Dialektdichters Otto Bünker seine Jugend in Kärnten verbracht. Das Land hat ihn auch nach seinem Weggang nach Wien nicht losgelassen, zumal dessen Entwicklung und Veränderung durch Fremdenverkehr, Naturschändung und Minderheitenpolitik seinen Zorn und seine Traurigkeit gleichermaßen hervorriefen.

Seine im Oberkärntner Dialekt geschriebenen Gedichte und kurzen Geschichten ziehen den Schleier der heilen Welt vom Dorf, beklagen den Ausverkauf der Heimat infolge des Tourismus und prangern die, die im Land das Sagen haben, wütend an.

Die Musik vermittelt einerseits Atmosphäre, wird andererseits Teil des Textes und verstärkt damit die Lyrik Bünkers.

Insgesamt (k)ein Kärntner Heimatabend.

 

Bernhard C. Bünker, geboren 1948 in Leoben als ältestes Kind des Ehepaares Liesl und Otto Bünker (evangelischer Pfarrer und Dichter), kam 1954 nach Kärnten, wo die Familie seit Generationen lebte. Ab 1970 Studium der Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte, evangelische Religion in Wien; später Rückzug ins Waldviertel, wo er 2010 infolge einer Bluttransfusion starb.

 

 

Wonn du amol geast. Karntna Bluus:

Gottfried Gfrerer, der mit Bernhard C. Bünker zusammengearbeitet und dessen Texte vertont hatte, präsentiert außerdem einige dieser bereits in den 90er-Jahren fertig produzierten und bis heute unveröffentlichten Lieder, die nun als CD im Heyn Verlag erscheinen.

Gottfried Gfrerer ist mit Kärntnerliedern aufgewachsen: mit „Rootsmusik“, die er zusammen mit dem Dialektpoeten Bernhard C. Bünker zum „Karntna-Bluus“ weiterentwickelte. Um 1990 begann die Zusammenarbeit zwischen dem Musiker und dem 18 Jahre älteren Literaten, der schon seit den 1970ern mit seiner kritischen Dichtung im Kärntner Dialekt für Aufsehen sowie für die österreichweite und internationale Vernetzung der schreibenden wie singenden Kolleg*innen gesorgt hatte. Ergebnis war zunächst Gfrerers erster Tonträger, die Musikkassette Karntn is lei a Grobschtan (IDI Ton 22, 1992). Viele weitere Titel entstanden, sechs Jahre später wählten Gfrerer und Bünker 15 davon aus, nahmen sie auf, gestalteten CD, Hülle und Booklet, alles war fertig für Pressung und Druck ‒ erschienen ist das Album mit dem Untertitel Karntna-Bluus dennoch nie.

Die CD enthält die originalen Aufnahmen aus dem Jahr 1998, und das Layout von Booklet und Hülle zitiert die Druckvorlagen von damals.

“ ‚Heimatdichtung‘ … Das beinhaltet Melancholie und Traurigkeit ebenso wie Zorn und Wut über Ungerechtigkeit, menschliche Dummheit, soziale und ökologische Brutalitäten“ Bernhard C. Bünker

17.10.: Anita AUGUSTIN und Greta LAUER

 

Anita Augustin: Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier

Greta Lauer: Gedeih und Verderb

 

Dienstag, 17. 10. 2023

19.30 Uhr

 

Schräge Figuren, böse Komik und bissig bis zum letzten Tabu: Anita Augustin inszeniert mit ihrem Roman Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier ein aberwitziges Schauspiel um eine alleinerziehende Mutter, deren Durchschnittsleben jäh endet, als ihre zwölfjährige Tochter verschwindet und sie sich gezwungen sieht, sich im

Alleingang auf die Suche zu machen.

 

Greta Lauer hat mit Gedeih und Verderb einen Text über Schmerzen geschrieben. Schmerzen, die in der Familie und der Gemeinschaft über Generationen unter der Hand weitergereicht werden und die durch tägliche Riten, durch Sprache und durch Sexualität am Leben bleiben. Das Erinnern und Erzählen der Protagonistin ist der Versuch, diese Gewalt mit Sprache begreifen zu können.

 

Anita Augustin, geboren 1970 in Klagenfurt, studierte Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet seit 25 Jahren als Dramaturgin in der freien Szene, an Stadt- und Staatstheatern sowie bei Festivals, schreibt sowohl Prosa als auch Texte für die Bühne und lehrt als Dozentin an der Freien Universität Berlin.

Greta Lauer, geboren 1990 in Klagenfurt, lebt derzeit in Wien. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychoanalyse, Regiehospitanzen und -assistenzen an deutschsprachigen Theaterhäusern. Sie schreibt szenische Texte, lyrische Texte und Prosatexte, ist Mitglied der GAV und veröffentlichte bisher in verschiedenen Literaturzeitschriften.

 

Moderation: Edith Bernhofer und Franziska Mader