Anna Miklautz – Blumen im Jahr 1943.

Anna Miklautz

Blumen im Jahr 1943

 

Die Hand blättert durch die bereits vergilbten Seiten des Familienalbums. Jede Seite brachte bis jetzt, aus Momentaufnahmen liebgewonnen, Erinnerungen hervor.

Erinnerungen in Form eines kurzen Filmfetzens und den damit verbundenen Emotionen.

Die Hand zögert nun beim Umblättern. Auf der aufgeschlagenen Seite ist nur ein Bild. Es ist alt wie die restlichen, doch unterscheidet es sich dahingehend, dass es das einzige seiner Art ist, aus einer Welt, in der der Mensch als Objekt betrachtet wurde und die oftmals auch die gleichen Rechte besaß.

Es zeigt eine Familie, einen Teil meiner Familie, den ich nie kennenlernen durfte. Meine Großmutter Barbara, die zu dieser Zeit sicherlich nicht daran dachte, dass sie dereinst Kinder, geschweige denn Enkelkinder haben wird. Sie steht neben ihrem Bruder und blickt direkt in die Kamera. Zu ihrer Rechten sitzt ihre Mutter. Eine hagere Frau, die ihren Lebtag auf Familie und Arbeit fokussierte. Ihr direkt gegenüber ist mein Urgroßvater. In Arbeitsmoral und Pflichtgefühl in keinster Weise seiner Frau nachstehend, konnte er dennoch seiner Familie lediglich ein karges Leben ermöglichen, welches durch Augenblicke wie diese Fotographie versüßt wurde. Der kleine Bruder Valentin -liebevoll Volti genannt- war schon in seinen jungen Jahren ein kleiner Freiheitskämpfer, der seinen Willen stets durchsetzen wollte, und er schaut auch jetzt schelmisch am Fotographen und somit dem Betrachter vorbei.

Die Mitte des Familienkreises schmückt ein Kornblumenstrauß. Kurz vor der Aufnahme von dem Mädchen gepflückt, dekoriert er derzeit das Bildzentrum und später die triste Einzimmerwohnung der Familie.

Als kleiner Farbklecks am Küchentisch stehend haucht er dem spärlich eingeräumten Zimmer Leben ein, sodass die Illusion eines Domizils erweckt wird. Der eigentliche Ort, der als „Zuhause“ bezeichnet werden darf, liegt stattdessen hunderte Kilometer von dem Entstehungsort des Bildes entfernt. Dort steht das rustikale Bauernhaus mit seinen zugigen Fluren und quietschenden Türen, welches nur noch die liebgewonnenen Erinnerungen an eine bessere Zeit beherbergt.

Seit über einem Jahr lebt dort niemand mehr, freiwillig ist niemand gegangen.

Seit über einem Jahr besteht das Leben dieser vier Personen aus Zwangsarbeit bis zur physischen Erschöpfung.

Leid, Schmerz und Hass verloren durch ihre stete Präsenz den Schrecken, welchen sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit ausgelöst hätte.

Aus ihrem alten Leben ist allein die Hoffnung geblieben.

Jenes vage Gefühl, welches Halt zu geben scheint in einer scheinbar nicht enden wollenden Farce, die zur Realität wurde.

Für diese Familie sollte diese Ungewissheit erst nach drei Jahren, acht Monaten und sieben Tagen enden.

Am 14. November des Jahres 1945 betrat meine Großmutter jenes Haus wieder, in dem sie geboren wurde.

 

Sechs Jahre sollten vergehen, bis meine Großmutter ihren Familiennamen und das Haus zurückließ, dreizehn bis mein Urgroßvater an Tuberkulose verstarb und siebenunddreißig als meine Urgroßmutter friedlich auf ewig einschlief. Das Haus existiert schon lange nicht mehr.

Vor nicht einmal einem Jahr tat auch Volti seinen letzten Atemzug.

Einzig meine Großmutter lebt noch.

 

Es ist spät.

Das Fotoalbum wird zugeschlagen.

Im Flur steht eine Vase mit blauen Blumen.

Ein Lächeln, das die Augen nicht erreicht.

Jonas Knoll – Eine neue Welt.

Jonas Knoll

Eine neue Welt

 

Ich hörte einmal eine Geschichte meines Opas aus der späten Nachkriegszeit, die war für ihn so einprägsam, dass er sie sogar seinen Kindern und dann auch seinen Enkelkindern (also mir) erzählt hatte. Die ging so:

Eines Morgens wachte ich auf, es war eisig kalt, sogar mit der dicken Decke. Ich gab mir einen Ruck und stand auf, kramte mein Leibchen, die Hose und Unterhose und meine Lieblingssocken aus dem Schrank. Als ich mich angezogen hatte, ging ich ins Badezimmer und wusch mich, putzte mir die Zähne und rannte die Treppe hinunter. Das machte immer einen Höllenlärm, weil die Treppe schon ganz alt war und aus Holz bestand.

Ich setze mich zum Küchentisch. Heute gab es Semmeln zum Frühstück –  eine echte Besonderheit. Ich strich mir eine Semmel mit Marmelade und eine mit Honig, ich finde ja, dass frische Semmeln mit Honig etwas besser schmecken als mit Marmelade.

Mein Vater las das Neueste in der Zeitung und trank dazu eine Tasse schwarzen Kaffee. Meine Mutter fragte, ob ich alles für die Schule eingepackt habe. Ich schüttelte den Kopf und rannte die knarrende Treppe hinauf, packte meine Schulsachen und starrte auf das Fenster. Ich sah, wie die Eiskristalle anfingen zu schmelzen. Es faszinierte mich, die Sonne wärmte mich und es war mir auch nicht mehr kalt. Es machte irgendetwas mit mir. Es erfüllte mich mit Energie, die ich so oder so nötig hatte.

Nach ein paar Minuten hörte ich meine Mutter, die mich in leicht genervtem Ton fragte, wo ich denn bliebe, und dass meine Schulkollegen schon draußen auf mich warteten. Also polterte ich die Stiege wieder runter, um mich noch von meinen Eltern zu verabschieden. Sie wünschten mir einen schönen Tag. Ich erwiderte ihre Glückwünsche und zog mir den warmen Filzmantel und meine Lederschuhe an.

Dann ging ich nach draußen. Die eisige Luft schlug mir ins Gesicht, mein Atem verwandelte sich in Rauch. „Da bist du ja endlich!“, sagte Mark. Peter fügte noch hinzu: „Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig zu Unterrichtsbeginn in der Schule sein wollen!“ – „Dann laufen wir, oder?“, fragte ich. Beide nickten und wir rannten los. Wir huschten noch rechtzeitig in die Klasse. Ich war schon am Nachhauseweg, als Mark plötzlich ganz aufgeregt auf mich zu rannte. Er sagte: „Guck mal, was ich habe!“ Er hatte eine Dose aus Aluminium in der Hand, sie sah aus wie eine Bonbondose. „Das sind Kaugummis“, erklärte er mir, „probier mal!“

Ich steckte den Kaugummi ganz vorsichtig in den Mund. Während er eine große Blase machte und sie zerplatzen ließ. „Ja, es schmeckt wirklich wie ein Minzbonbon! Herrlich! So etwas brauch ich auch!! Wo hast du das her?“

Mark flüsterte: „Du darfst es niemandem verraten!! Versprich mir das! Ich habe es von einem englischen Soldaten geschenkt bekommen!“ Ich war fasziniert und ein bisschen erschrocken darüber, weil mir meine Eltern den Kontakt mit Soldaten streng verboten hatten. Er versprach mir, noch solche Kaugummis zu besorgen, da ich sein bester Freund war.

Jedes Mal, wenn ich einen Kaugummi esse, muss ich an diese Geschichte denken.

 

 

Florian Klösch – Herbstfreuden.

Florian Klösch

Herbstfreuden

 

 

Im Herbst des Jahres 1972 kam es zur Entstehung eines Bildes, das meiner Familie noch lange in Erinnerung bleiben sollte. Wie gewöhnlich pflegte es meine Mutter an spätsommerlichen Tagen in ihrem schwarzen Lieblingskleid, darunter trug sie eine weiße Bluse und eine weiße Strumpfhose, im Freien zu spielen. Sie dürfte sehr glücklich gewesen sein, als mein Großvater sie spontan auf den Kofferraum seines neuen Autos, ein Opel, setzte. Vermutlich befanden meine Großeltern diese Szene einfach als herzig, bevor sie sich entschlossen, ein Bild von meiner Mutter zu machen. Man sieht der Sechsjährigen an, dass es ihr eine große Freude bereitet, die Hauptfigur dieses Fotos zu sein. So widme auch ich ihr ein kleines Gedicht:

 

Vor langer Zeit es gab einmal.

Es ereignete sich nach dem Mittagsmahl.

Im Freien tollte ein junges Kind

mit großen Schritten eilte es geschwind.

Ein weißes Fahrzeug war sein Ziel,

welches ihm sehr gefiel.

Die Freude sah man dem Kinde an,

als der Vater um die Ecke kam.

Des Weiteren seine Tochter in den Arm nahm,

er hatte schon einen Plan

und setzte seine Erstgeborene flott auf den Wag‘n.

Die Mutter bemerkte die Möglichkeit,

nutzte des Tochters Besonnenheit,

machte mit der Kamera ein paar Schnappschüsse

und zog daraus sehr herzige Schlüsse.

Schon war es auserkoren,

das Bild, das wir noch lange bewahren.

Wer es wieder einmal sieht,

erinnert sich so gut, wie an

ein altes Lied.

 

Nach dem Knipsen des Fotos nahm mein Großvater meine Mutter wieder vom Kofferraum runter. Sie war sehr glücklich und rannte in die Stube des Bauernhofes, wo ihre zwei Schwestern zu Mittag aßen, und berichtete ihnen von ihrem positiven Erlebnis.

 

David Jamnig – Zuckerland.

David Jamnig

Zuckerland

Die Riesenspinnen bewegen sich schon wieder. Gerade eben dachte ich noch, sie wären nun endlich ruhig. Nun gut, ich lass die Spinnen, Spinnen sein und zähle weiter mein Geld. Mittlerweile habe ich mehrere Milliarden Euro gesammelt und bald werde ich mir mein Haus kaufen. Natürlich mit großem Pool und Garten. Ja sogar einen eigenen Streichelzoo mit Wellensittichen werde ich mir erbauen. In der Garage wird der rote Ferrari stehen, mit dem ich dann über die Landstraße brettern werde.Was will denn meine Schwester schon wieder von mir? Ich verzaubere sie einfach zu Eis und dann habe ich meine Ruhe. Gesagt, getan. Ich kann sie schon nicht mehr hören. Kaum hat man Ruhe von seiner Schwester, geht einem schon wieder die Mutter auf den Wecker. Sie verlangt allen Ernstes, dass ich das Geschirr in das Maul des Monsters stecke. Mit Sicherheit werde ich dir diesen Wunsch nicht erfüllen, denn sonst wird es mich verschlingen. Langsam macht sich bei mir auch der Hunger bemerkbar, deshalb werde ich jetzt den Riesenapfel verschlingen. Somit muss ich nun für ein ganzes Jahr nichts mehr essen.

Heute werde ich mich auch noch auf die mit „Zucker“ bedeckte Wiese stürzen und daraufhin mit meinem Motorfahrzeug Runden im Garten ziehen. Natürlich habe ich auch vor, einen „Zuckermann“ mit einer Karottennase zu bauen. Gleich daneben wird meine „Zuckerburg“ stehen, welche ich vor meiner Schwester, also einem Eindringling, verteidigen werde. Ach, die Welt ist so schön!