Emily Suttnig – Der Weg der Erinnerung.
Emily Suttnig
Der Weg der Erinnerung
Als ich aus meinem Traum erwache, blicke ich die Berge an. Sie kommen mir so groß und nahe vor, als könnte ich meine Hand ausstrecken, um sie zu berühren, aber doch sind sie so weit weg. Um mich vor der kalten Bergluft zu schützen, kuschle ich mich nochmal unter meine Bettdecke. Ich gehe in meinen Gedanken durch, was ich heute alles zu erledigen habe und komme zu dem Entschluss, dass ich heute keine Pläne habe. Mit meinen Gedanken noch im Bett, stehe ich mühevoll auf und gehe ins Bad, um mich fertig zu machen und frisch in den Tag zu starten. Ich ziehe mein Gewandt an und mache mich auf den Weg in die Küche. Als ich in der Küche ankomme, sehe ich, wie alle meine sechs Kinder hin und her laufen. Der Tisch ist gedeckt und es riecht nach verbranntem Toast. Als sie mich entdecken, kommen sie hastig hergelaufen. Mein ältester Sohn Thomas mit einem Strauß voller Rosen in der Hand. Fast gleichzeitig wie im Chor wünschen sie mir alles Gute zum Muttertag. Meine Tochter Klara, die zweitälteste, gibt mir ein kleines Päckchen, in das vermutlich eine Kette reinpasste und Thomas drückt mir die Rosen in die Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Jedes Kind hat eine einzelne Rose in der Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Sie führen mich zum Tisch und wir beginnen zu Frühstücken. Es war ein schönes Gefühl, alle meine sechs wundervollen Kinder so beisammen zu sehen. Bevor wir unseren täglichen Spaziergang machen, gehen wir beim Garten vorbei, um noch ein schönes Bild von mir mit meinem schönen Blumenstrauß zu machen.
Klara:
Ich wachte schweißgebadet und mit einem rasenden Herzen auf. Ich war zu benommen, um zu realisieren, dass es ein Albtraum war. Auch ich als Erwachsene habe noch immer Albträume, aber so einen schlimmen hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Das letzte Mal zu Muttertag. Als ich wieder langsam zu mir kam, schreite es plötzlich durchs ganze Haus. Ich schluckte also meinen Albtraum hinunter und folgte dem Geschrei. Ich öffnete meine Zimmertüre und sah, dass alle meine Geschwister vor der geöffneten Tür unserer Mutter standen. Alle weinten fürchterlich und konnten nicht aufhören zu schluchzen. Ich kam immer näher und als ich das Bett meiner Mutter sah, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ein lebloser Körper lag auf dem Bett und mein Bruder kniete daneben. Ich war wie gelähmt und meine Augen füllten sich mit Tränen. Sie kann doch nicht einfach tot sein, oder doch? Ich weiß nichts mehr, ich konnte nicht mehr klar denken, mein Magen verkrampfte sich und ich spürte einen Schmerz, den ich noch nie fühlte. Ich könnte losschreien, aber ich musste stark bleiben, meine Geschwister hätten es nicht verkraftet, wäre ich vor ihnen zusammengebrochen. Also schnappte ich mir jeden einzelnen und schleppte sie ins Wohnzimmer. Ich ging nochmal zurück, um nach meinem Bruder zu sehen. Als ich bei ihm ankam, legte ich meine Hand auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen, obwohl ich selbst so aufgebracht war. Er stand auf und schaute mir tief in die Augen. Auch seine waren mit Tränen gefüllt. Ich fühlte mich schwer und versuchte meine Tränen zu unterdrücken, aber es ging nicht. Eine gewisse Leere breitete sich in mir aus und Kummer durchströmte meinen Körper. Ich stand auf und umarmte meinen großen Bruder.
Wochen vergingen als der stärkste Schmerz vorüber war. Wir begannen gerade uns mit dieser Situation zurecht zu finden, aber es änderte nichts daran, welches Loch es hinterlassen hatte. Es nahm schon langsam wieder Form eines täglichen Alltags an. Wir gingen wieder zu Arbeiten auf dem Feld und versuchten unseren Nachbarn mit verschiedenen Sachen zu helfen, um wenigstens ein paar Groschen zu verdienen. Natürlich brauchten wir noch Zeit, aber es war ein Anfang. Der Postbote gab mir am nächsten Tag einen Brief in die Hand. Ich machte ihn hastig auf und sah meine Mutter mit einem großen Blumenstrauß in der Hand. Es war das Bild, das wir zu Muttertag machten. Als ich sah, wie glücklich meinte Mutter auf dem Bild lachte, flossen nacheinander meine Tränen hinunter. Nicht nur aufgrund der Trauer, auch eine gewisse Freude brach aus, denn ich wusste, dass meine Mutter glücklich war. Eingerahmt hängt es auf der Wand mit dem ewigen Wissen, sie immer bei uns zu haben.
Ende!