Dazwischen Liebe
Die Geschichte der Begegnung von Rudolf Haidutschek und der jungen Ingeborg Bachmann während des Zweiten Weltkrieges
Im Zimmer Nummer Sieben des Pflege- und Seniorenheimes fällt gelbes Herbstlicht durch das angelaufene Glas der Balkontüre auf den in der Mitte stehenden Tisch. Ein praktisches Modell. Gerade Formen, abwischbare Kunststoffplatte, zeitlos, beige. Rudolf, seit dem letzten Schlaganfall verwirrt, betrachtet im Sessel vornübergebeugt die vor ihm liegenden, ausgeschütteten Schwarzweißfotografien aus der Zeit des zweiten Weltkrieges. Kleine Bilder mit gewelltem Rand von einer erstaunlichen Schärfe und Qualität. Lange, sehr lange Zeit hat er sie in einer ehemaligen Rasiercremeschachtel, schwarz mit aufgedrucktem Blumenmotiv aufbewahrt. Diese ist mit ihm mehrmals umgezogen und zuletzt, wahrlich zuletzt hier an dieser Endstation seines intensiven Lebens angekommen. Bis zum heutigen Tag waren sie geordnet, teilweise auf der Rückseite beschriftet. Mit Bleistift in akkurat nach rechts gerichteten Buchstabenfolgen und mit Jahreszahlen versehen. Jetzt in blassen, kaum leserlichen Wortinseln verschwommen.
Seine Tochter ist auf Besuch. Sie fuhr mit dem Auto aus Klagenfurt nach Arnoldstein. Vierzig Minuten Fahrtzeit auf der Autobahn, gefühlsmäßig eine Ewigkeit. Sie sitzt ihrem Vater gegenüber wie in einem anderen Raum, getrennt durch die Glasfront der Erinnerungen.
Er greift Richtung eines einzelnen Fotos, trifft nicht, schüttelt den mit reinweißem Haar bedeckten Kopf, berührt mit seiner rechten Hand, die seit dem Krieg wie taub ist, sein Kinn und versucht es erneut. Obwohl Schweiß seine Stirn bedeckt und ihn diese Handlung offensichtlich anstrengt. Schwerstarbeit für Geist und Körper. Bilder fallen dabei zu Boden, sie fallen wie nasse Herbstblätter, wollen liegen bleiben. Er bemerkt es nicht. Wiederum ein Versuch. Der „Schwarzweißhügel“ in der Mitte des Tisches bildet einen Krater, wird umgerührt. Sie verharrt regungslos, um ihn nicht zu stören und beobachtet bei sich denkend was er wohl sucht.
Im Raum ist das laute Atmen seiner im Bett liegenden Frau zu hören. Zu Mittag muss sie ihren Körper ausruhen lassen, denn tagsüber verbringt sie ihre Zeit im Rollstuhl sitzend. Sie möchte schlafen, rasten.
„Was machst du denn schon wieder?“
Sie kennt ihren Mann schon zweiundsechzig Jahre und spürt seine Unruhe beinahe körperlich.
„Gib doch endlich einmal Ruhe!“
Das Fallen der Bilder ist lautlos. Rudolf ist versunken in seinem Fischen nach seinen Geschichten. Seine Sprechweise ist seit dem letzten Schlaganfall verändert. Anfangs schwer verständlich, doch mit längerem Reden besser.
Da, er hat ein Bild gefunden, in seiner Hand. Beim Betrachten richtet sich sein Körper unmerklich auf.
„Da bin ich mit der Inge!“
Sein linker Zeigefinger zeigt auf das kleine Papier in seiner rechten Hand.
„Hab ich dir schon von der Inge erzählt?“
Seine Frau reagiert unvermutet schnell: „Wer will das schon wissen? Deine alten Geschichten, immer dieselben!“
Vater blickt auf, schweigt dazu und macht mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, ohne jedoch das Bild von Inge aus den Augen zu verlieren.
Er sieht seine Tochter an und ist für einen kurzen Moment wieder da. Der Vater mit seinem Blick, dem klaren Blick aus seinen ausdrucksstarken hellen Augen.
Die Zeit scheint still zu stehen. Langsam zieht es die Tochter in ein vergangenes Geschehen. Bild verbindet sich mit Bild, wird zu fortlaufenden Szenen.
Er hat ihr schon von Inge erzählt. Geschichten verbinden sich mit dem Foto und aus diesem erwächst ein Stummfilm. Einst durchlaufend vertont, droht dieser Film an verschiedenen Stellen zu reißen, oder er wird durch die Hitze des Vorführapparates schmelzen, zu einem schwarzen, ausgefransten Etwas, einem Loch. Aus dem mittig wiederum ein weißer Fleck, ein freier Raum dahinter sichtbar werden könnte. Ihr scheint es so, als säße sie in einem alten Kino, wo sich langsam der Vorhang vor der Leinwand beiseiteschiebt. Sie wartet.
Ihr Vater räuspert sich und nimmt sie mit in das Jahr 1943.
Im Hohen Norden
Eine Landschaft zeigt sich. Ohne Berge, Flachland mit hin und wieder eingestreuten Hügeln, bedeckt von weißem Schnee bis an den Horizont. Von Schneeverwehungen versteckte Krüppelbirkenhaine, vereinzelte Felsbrocken, Weite, Kälte, diesiges Licht.
Das Land der Mitternachtssonne. Finnland.
Sie kennt die Bilder ihres Vaters, seine Motive von der Tundra gespeist. Wie ein Puzzleteil setzt sie ihn hinein. Da steht er auf Wache. Später wird er das Lied „Es steht ein Soldat am Wolgastrand – hält Wache für sein Vaterland“ lieben.
Jetzt im Jahre 1943 ist er in einen dicken Innenpelzmantel mit Fellhaube gekleidet. An seinen Füßen Lederschuhe, die steif und kalt bleiben. Nur die in der Heimat von seiner Mutter gestrickten Wollsocken wärmen einigermaßen. Unter den Fußsohlen Eis und Kälte. Zwei Zehen sind erfroren, totes empfindungsloses Gewebe. Hier herrschen Temperaturen von minus fünfunddreißig Grad und mehr.
Die „Eismeerfront“, ein passender Name.
Sie fragt sich: „Was machen diese jungen Männer hier?“ Und ihr fällt ein Spruch von Ludwig van Beethoven ein, den er anlässlich der Uraufführung seiner siebenten Symphonie schrieb:
„Uns alle erfüllt nichts, als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben!“
Damals nach der Völkerschlacht von Leipzig. Jetzt mitten im Zweiten Weltkrieg an der Front, gilt wieder dasselbe. Frieden scheint uns Menschen weniger zu liegen als der Krieg. Noch zwei Jahre wird er dauern, der totale Krieg – in diesem Jahr ausgerufen. Doch ihr Vater weiß nicht, wie der Krieg ausgehen wird, was aus ihm wird und ob er seine Heimat je wiedersehen wird. Er steht in der Kälte.
„Ich war so müde beim Wache stehen. Oft waren es zwei Tage und eine Nacht lang ohne Schlaf. Nichts war so schlimm, wie nicht schlafen zu dürfen.
Vor mir das Feindgebiet, die Russen. Bis auf hundertfünfzig Meter Nähe. Uns Wachen war es verboten, einzuschlafen. Darauf stand die Todesstrafe, denn ein unachtsamer Wachtposten konnte die ganze Kompanie gefährden. Meine Müdigkeit war zeitweise so groß, dass es mir egal war, ob ich dafür erschossen worden wäre.
Die Augen fielen mir zu und ich konnte sie im letzten Moment wieder öffnen. Manche von uns fielen einfach um, blieben schlafend im Schnee liegen, wo man sie dann am nächsten Morgen fand, erfroren. Ich wollte nur mehr schlafen, einsinken in warme weiße Wolkenfelder. In Wärme und Sonnenlicht liegen, geborgen, ohne Bedrohung von Feind oder den eigenen Leuten.“
Vater atmet schwer, reibt wie selbstvergessen seine Hände aneinander und erzählt weiter.
„Stell dir vor, hier herrschte im Winter ein halbes Jahr Dunkelheit mit einer zarten Dämmerung am Morgen. Damals war mir der eisige Wind ein guter Freund. Er schnitt in meine Wangen, drang durch die Fäustlinge, blies von unten in meinen Mantel den Körper aufwärts. Um nicht zu frieren, bewegte ich immer wieder die Beine von links nach rechts. Wir nannten das den „Tundratango“.
Wenn ich die Nordlichter in ihrer rasch bewegten, wechselhaften Schönheit sah, war ich getröstet.“ Das war endlich Licht, Farbe, unbeschreibliches Himmelsgeschehen.
Er dreht sich zu ihr, sein Blick ist weich, verschwommen, die Stimme bricht, wird rauer.
„Es war ein tägliches Warten auf Unvorhersehbares. Keinen Tag, keine Nacht war ich sicher, ob es meine letzte sein sollte.“
Sie fragt ihn: „Wie konntest du das auf die Dauer aushalten?“
„Ich habe immer im Augenblick gelebt. Dadurch hatte ich das Zeitgefühl ausgeschaltet. Vor dem Tod habe ich mich dann nach dem Krieg nicht mehr gefürchtet. Ich sah seine vielen Gesichter und habe später auch im Lazarett die Sterbenden betreut und sie bis zu ihrem Ende begleitet. Sie hatten letztendlich friedliche Züge und ihr letztes Wort war oft „Mama“. Man gewöhnt sich an Vieles.
Ich habe das Glück gehabt, unverletzt aus dem Krieg zurückzukommen. Seit dieser Zeit habe ich kein Problem mehr mich mit dem Tod auseinanderzusetzen.“
Mutter meldet sich wieder.
„Red‘ nicht schon wieder vom Krieg! Als ob es nichts anderes als Tod und Verderben gibt, ich kann es nicht mehr hören, deine ewigen Kriegsgeschichten!“
„Du hast ja recht, es gab auch heitere Momente.“
Wie schnell er eine Wendung vollzieht, wenn Mutter sie einfordert. Sie beobachtet wie Vater ein Lächeln auf sein Gesicht setzt und die Geschichte ins Positive lenkt.
Niemals will er Streit und Konfrontation. Harmonie ist sein Wunsch, auch wenn es Verzicht auf seine echte Gefühlswelt bedeutet. Also steckt er Gedanken, Worte über den Tod wieder weg und erzählt vom Holzstehlen, Schachspielen im Bunker.
Aber so leicht lässt sich die damalige Wirklichkeit nicht verstellen. Es drängt ihn zu reden. Da ist die Tochter, die heute zuhört. Das will er wahrnehmen.
„Die Briefe, das war immer ein Höhepunkt.
Die Post aus der Heimat. Manchmal kam sie wöchentlich, dann dauerte es wieder vierzehn Tage oder länger. Mit der Feldpost Nr. 24880. Briefe von Mama und Vater, meinen Schwestern, von Sophie, Astrid und von der Inge. Mama wollte mich nach dem Krieg mit Sophie verkuppeln, Gerüchte kursierten schon in Klagenfurt, bis ich sie mühsam widerlegen konnte. Ich und heiraten, damals undenkbar.
Aus den Briefen erfuhr ich, was daheim so los war. Ich schrieb nur Belangloses und beruhigende Worte. Viele Lügen, um sie nicht zu beunruhigen. Hätte nichts gebracht, nur Kummer. Sie aber schrieben sich alles von der Seele.
Besonders die Inge.
Sie beschäftigte mich, sie war anders. Schüchtern und dennoch irgendwie stark.
Ihre unschuldige Nähe gefiel mir. Doch ihre Briefe, die waren nicht unschuldig, schüchtern. Sie waren schwer, dunkel, gefüllt mit schwarzem Inhalt und Ideen vom Widerstand.“ Er stockt.
Bewegung des Herzens. Nach grauen Tagen. Ingeborg Bachmann
Eine einzige Stunde frei sein!
Frei, fern!
Wie Nachtlieder in den Sphären.
Und hoch fliegen über den Tagen
möchte ich
und das Vergessen suchen—
über das dunkle Wasser gehen
nach weißen Rosen,
meiner Seele Flügel geben
und, oh Gott, nichts wissen mehr
von der Bitterkeit langer Nächte,
in denen die Augen groß werden
vor namenloser Not.
Tränen liegen auf meinen Wangen
aus den Nächten des Irrsinns,
des Wahnes schöner Hoffnung,
dem Wunsch, Ketten zu brechen
und Licht zu trinken—
Eine einzige Stunde Licht schauen!
Eine einzige Stunde frei sein!
Inge, Inge sprach sein Innerstes an. Sie vermutet, dass es ihn geschmerzt hat, wenn er ihre Worte las, die klar von der Wahrheit im Krieg erzählten. Die Propaganda entlarvte und inneres Elend zur Sprache brachte. Der damalige Rudolf verbarg seine Emotionen geschickt und färbte sein blasses Gesicht mit einem tapferen rosa Schein, um auf seine Art zu überleben.
Später verstand er ihre Gedichte, doch er las wenig von ihr, der berühmten Frau aus Klagenfurt.
„Gib mir bitte ein wenig Wasser, mein Mund ist ganz trocken!“
Sie steht auf, reicht ihm den Becher an die Lippen.
„Danke“, er lächelt sie an.
„Ruh‘ dich etwas aus, ich bin ja da, du kannst auch später fortfahren zu erzählen.“
„Wer weiß, vielleicht vergesse ich bald meine Geschichten.“
Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. Sie muss sich kurz abwenden, um nicht ihre aufsteigenden Tränen zu zeigen. Wie lange noch, wer weiß wie lange noch?
Vater legt sich auf sein Bett. An den Wänden hinter und neben ihm hängen gerahmte Bilder aus seinem Leben. Ein Gruppenbild seines Männerbundes. Er vorne sitzend, das leuchtend weiße Haar und sein Lächeln hebt sich vom würdigen Ernst der übrigen Männerblicke ab. Einige Kinder und Jugendfotografien. Darunter eine Aufnahme im Wiener Prater, als so er um die fünf Jahre alt war. Angetan mit kurzen Hosen, einem Jopperl, im Hintergrund eine gemalte Szene mit See und Säule. Der ernste Blick, vom Fotografen angeordnet. Seine Haare kurz geschoren. Sie kennt die Geschichte dazu. Rudolf hatte einen Onkel und eine Tante in Wien. Diese durfte er manchmal besuchen. So wie in diesem Sommer, als das Foto entstand. Nach dem Stillhalten im Studio darf er mit dem Onkel in den Prater gehen. Rudi ist traurig, denn der Haarschnitt hat ihn tief traurig gemacht. So gehen sie an dem am Eingang stehenden großen Chinesenstandbild – dem Kalafati – vorbei zum Wurstelprater.
Rudi sitzt bald unter vielen anderen Kindern und freut sich auf das Puppenspiel. Der Vorhang öffnet sich und Hanswurst begrüßt die Kinder. Nach dem „Seid ihr alle da?“, ruft er in die Menge: „Jö, schau, da sitzt a Glatzata!“ Alle Kinder blicken auf ihn und lachen. Rudi springt auf und rennt davon. Später gehen sie nach Hause zu Tante Erna, die ihn mit einem warmen Kakao zu trösten versucht.
Dieser ehemals kleine Bub liegt nun als neunzig Jahre alter Mann schwer atmend auf seinem Bett im Pflegeheim. Die Jahre scheinen dahinzufliegen wie weiße Vögel auf ihrem Flug in den Süden. Aus der Kälte in die Wärme und wieder zurück, wenn es Zeit ist.
Ihr Vater zieht sich wieder aus dem Heute ins Jahr 1943 zurück.
Mit einem Ruck setzt er sich auf und blickt seine Tochter an.
„Dann hab ich sie getroffen. Ich war auf Heimaturlaub in Klagenfurt. Stell dir vor, was für eine lange Reise. Sechstausend Kilometer mit Schiff und dem Zug bis zum Hauptbahnhof und zu unserer Wohnung vis-à-vis, der Bahnhofstraße fünfzig.“
Zeit für Begegnungen, die Eltern sehen, im eigenen Bett schlafen, Gemeinsamkeit und Ausgehen, um Mädchen und Freunde zu treffen. Weg von Kälte und Krieg, wenigstens kurzfristig.
„Hab‘ ich dir schon gesagt, dass ich ein guter Küsser war?“
„Rudi, hör auf, das ist nichts für deine Tochter!“, macht sich Mutter bemerkbar. Erst jetzt. Früher hat sie mitgehört, zwangsläufig. Sie kann nicht ausweichen, mit sich alleine sein. Außer er malt in seinem Atelier. Sonst sind sie aneinander gebunden. Beide in einem Zimmer, Tag und Nacht.
„Das war doch vor dir, du weißt doch „immer dein Rudi“, ab unserer Verlobung bis heute. Und geküsst hab ich dich ja auch!“
Keine Antwort erfolgt. Sie möchte sich auflösen in diesem Hin und Her, dem noch immer traurigen Spiel entkommen. Dazwischen scheint mein Platz zu sein. Geparktes Ausgleichen, vermitteln, harmonisieren aus tiefer Liebe zu den Eltern, sich selbst vergessend. Sie ist dergleichen müde. Die Tochter als Zünglein an der Waage der Beziehung.
„Die warmen Lippen eines Mädels spüren wollte ich und schöne Worte hören. Inge aber hatte so eine dramatische Ader, so wie du meine Tochter!“
Das brauchte sie gerade noch, eine Verbindung zwischen der Schriftstellerin und ihr. Vergleiche, Verwechslungen, Familienaufstellungen. Bitte nicht heute.
Ihre Lippen schließen sich, der Vater bemerkt es nicht. Er spricht mit und für sich.
Im Innen und im Außen. Das Unerhörte mischt sich mit dem Verlauteten.
Er erinnert einen Abend, holt ihn aus der Versenkung und erlebt aufs Neue.
Das Foto mit ihm und Inge zeigt Wirkung. Wieder einmal.
Rudolf zieht seine Ausgehhose und sein kariertes Sakko an. Er steht in der großen ebenerdigen Küche in der Bahnhofstraße fünfzig.
Am Küchentisch sitzt sein Vater auf der Eckbank und liest in einem Buch. Seine Mutter heizt den Kohleherd ein. Trotz Sommerabend ist es hier kühl und der Zichoriekaffee will noch mit heißem Wasser aus dem Wasserkessel aufgegossen werden. Das Feuer knistert und knackt im Ofenloch. Es riecht nach Holz und Rauch, klammen Mauern und Sparsamkeit. Ein Glas der Küchenfenster ist zerbrochen und notdürftig mit Zeitungspapier verdeckt. Glas ist nicht verfügbar. Aus dem Radio erklingt Liszt. Reichsnachrichten und Siegermeldungen. Ein Aufruf der Winterhilfe, jetzt schon Socken für die Soldaten im Norden zu stricken.
„Die halten leider zu wenig warm“, meint Rudolf, „aber besser wie keine Socken.“
„Ja, damals war ich immer froh Zivilkleidung zu tragen!“
Ich war sehr penibel, was meine Kleidung anbelangte. Das Hemd musste sauber und gebügelt sein, das Sakko ausgebürstet und die Schuhe auf Hochglanz poliert.
Die Bügelfalte meiner Hose war besonders wichtig. Ich legte meine Hose immer unter die Matratze und meine Körperwärme mit meinem Gewicht waren das beste Bügeleisen. Im Innenhof der Wohnung putzte ich meine Schuhe. Dank meiner Schwester, die einen Farbenhändler geheiratet hatte, war auch im Krieg Schuhpasta vorhanden. Draufgespukt-glanzpoliert mussten sie sein.
Später habe ich Inge aus der Henselgasse abgeholt. Zum Feiern mit Freunden bei Ribiselsaft und Ribiselwein. Ich weiß nicht mehr, ob wir damals auch was gegessen hatten, aber unser Lachen und die Gemeinsamkeit beim Tisch sind mir in guter Erinnerung. Auch der Duft der Mädchen und ihre Anwesenheit, so Seite an Seite, vergesse ich nicht. Damals wollte ich Inge bitten den Inhalt ihrer Briefe zu ändern. Keine solchen Gedichte mehr von schwarzen Vögeln und wogenden Leichenbergen.
Mein Lebensmotto war immer „nur der feige stirbt vor seinem Tode“, doch damals war ich feige. Ich war zu feige ihr zu sagen, dass ich ihre Briefe alle verbrannt hatte. So gaben sie wenigstens im Feuer des kleinen Metallofens im Bunker Wärme ab. Wärme, die ich damals so ersehnte.
„Wenn du damals gewusst hättest, wie berühmt sie einmal werden würde…“, meint seine Frau leise, „hättest du sie nur aufgehoben!“
„Bis auf ein paar Mal miteinander ausgehen ist aus uns beiden kein Paar geworden. So hab‘ ich dich getroffen und jetzt sind wir miteinander hier.“
Ruhe erfasst den Raum. Der Krieg verzieht sich wie dieser Abend in die Grauzonen des alten Mannes zurück. Es ist Zeit, die Eltern sich selbst zu überlassen.
Sie drückt ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn, dreht sich um und will sich noch von der Mutter verabschieden. Doch diese ist wieder in sich gekehrt und sagt noch: „Danke für deinen Besuch!“ Und sieht wieder verloren vor sich hin.
Sie legt der Mutter behutsam die Hand auf die Schulter und geht aus dem Zimmer. Hinaus auf den Gang. Hinaus aus dem Speisesaal. Hinaus auf den Parkplatz zu ihrem Auto.
Noch kann sie nicht fahren, sich von dem Ort verabschieden. Morgen komme ich wieder, kein Entkommen. Stellungskrieg.