Bildung mit Größenunterschieden: Von niedriger Berufsbildung und hoher Gelehrtenbildung
Bildungswege haben Prestige, oder eben nicht. In Österreich klafft eine große Kluft zwischen der Berufs- und der Hochschulbildung. Wir haben mit dem Bildungswissenschaftler Peter Schlögl über die Gründe und mögliche gemeinsame Wege gesprochen.
Peter Schlögl kommt aus einem Elternhaushalt, in dem sowohl Vater als auch Mutter dem Arbeitermilieu angehörten. Als der jugendliche Schlögl, heute Professor für Erwachsenenbildung und Weiterbildung, in Wien sein Studium aufnahm, studierte er Landschaftsökologie. Später sattelte er auf Biologie um, daraus erwuchs sein Interesse an Wissenschaftstheorie, und schließlich schloss er in Philosophie ab. Dieser Weg vom Konkreten hin zum Abstrakten spiegelt für ihn wider, wie man als First Academic in die akademische Welt eindringen kann. „Für viele ist eine konkrete Berufsaussicht am Anfang sehr wichtig“, erklärt er und führt darüber hinaus aus: „Darin liegt auch der Erfolgsfaktor unserer berufsbildenden höheren Schulen wie der HTL und der HAK: Einerseits bieten sie eine hochwertige Berufsqualifikation, andererseits aber auch eine Reifeprüfung. Dieses Konzept macht den aufstiegsorientierten Mittelstandsfamilien ein gutes Angebot.“
Bildung in Größen-Stufen
Heute beschäftigt sich Peter Schlögl in seiner Forschungsarbeit unter anderem mit dem Widerstreit der so genannten gelehrten Bildung und der Berufsbildung in Österreich. Und stellt dabei fest, dass die Kluft nicht nur in Österreich groß ist: „Überall dort, wo es etablierte Berufsbildungssysteme wie unsere Lehre gibt, besteht sie. Bei uns wird mit der Anerkennung oder Anrechnung von beruflich erworbenen Kompetenzen für die so genannte ‚Hochschulreife‘ noch sehr sparsam umgegangen.“ Weniger formal ist es in den asiatischen oder angelsächsischen Ländern, wo es keine betriebsbasierte Lehre und auch keine berufsbildenden Schulen wie bei uns gibt. In Australien wäre es, so erzählt Schlögl, durchaus üblich, dass man im Anschluss an ein Hochschulstudium eine betriebsbasierte Arbeitsintegrationsmaßnahme macht, die unserer Lehre ähnlich ist, aber weniger lange dauert, um die Diskrepanz zwischen praktischer Erfahrung und erlerntem Wissen zu überbrücken. Mehr als die Hälfte aller BachelorabsolventInnen versucht sich zu Beginn ihres Berufslebens in solchen praktischen mit Lohnreduktion verbundenen Einarbeitungsphasen. Das wäre bei uns mit einem Statusverlust verbunden und undenkbar.
Historische Begründung
Die Trennung der Bildungsbereiche spiegelt sich hierzulande in der Verwaltungsstruktur wider: Für die betriebsbasierte Lehre fühlt sich das Wirtschafts-, für die Schulen früher das Bildungs- und für die Universitäten das Wissenschaftsministerium zuständig. Vor allem Lehre und Schule/Hochschule sind schon seit jeher getrennt: Das geht auf die zünftische Lehrausbildung zurück. Diese war bis Anfang des 20. Jahrhunderts Teil des Gewerberechts und ist erst langsam ausgegliedert worden. Erst seit 1969 gibt es ein eigenes Gesetz für die betriebliche Lehre; Universitäten und Schulen werden hingegen bereits seit Jahrhunderten staatlich gesteuert. Dabei könnten, so Schlögl, die Universitäten heute einiges von der beruflichen Bildung lernen: „Für die Schule und die Universität ringt man häufig darum, Kompetenzziele und Bildungsinhalte zu formulieren. Im Beruflichen hingegen ist es immer schon darum gegangen zu formulieren, was an Fähigkeiten man braucht, um Aufgaben zu bewältigen. Die Fertigkeiten sind klarer, deshalb ist auch leichter festzustellen, wann Bildung gelungen ist.“ An den Hochschulen hingegen stünde nach wie vor die Erschließung des Weltwissens im Raum.
Man kann nicht alles wissen und können
Schon zu Beginn der berufspägagogischen Diskussion im deutschsprachigen Raum stand die Frage: „Ist die Spezialisierung nicht das Humanere als der Anspruch auf Vollständigkeit?“ Schlögl berichtet, dass schon in den 1920ern klar war, dass der menschliche Geist nicht die Vollständigkeit der Welt erfassen könne und die Fokussierung dem Menschen angemessener wäre. „Mit der Spezialisierung muss aber nicht eine Kanalisierung oder eine unveränderbare Entscheidung einhergehen, sondern man kann sich zu einem späteren Zeitpunkt in der Lebensspanne noch einmal umorientieren“, sagt Schlögl und wirft das Schlagwort „Lebenslanges Lernen“ ein. Diese Umorientierung endet für viele an den Toren der Hochschulen, die sie mangels „Reife“-Prüfung nicht einlassen. Die Universitäten im deutschsprachigen Raum sind vielfach eher restriktiv: „Dem 18-jährigen Maturanten trauen wir die Studierfähigkeit zu, hingegen einem Menschen, der seit zehn Jahren erfolgreich im Beruf ist, verwehren wir den Zutritt. Für Fächer, für die wir es schwer haben, genügend Interessierte zu finden, wie in der Technik, wäre es denkbar, den Zugang mehr an Kompetenzen als an formalen Aspekten auszurichten. Bei einem geisteswissenschaftlichen Studium ist es schwieriger festzulegen, was jemand an Vorwissen mitzubringen hat“, erläutert Schlögl.
Den geraden Weg gibt es nicht (mehr)
In der Idee des geraden Bildungswegs, der zu einem Beruf bis zur Pensionierung führt, sieht Peter Schlögl ein „bourgoises Selbstbespiegelungsbild“. Schon in den 1960er-Jahren gab es diesen nicht. Vor 100 Jahren, so erzählt Peter Schlögl, schlossen nur 10 bis 15 Prozent der Menschen eine Berufsbildung ab, die anderen waren Lohnarbeiter ohne Ausbildung. Heute münden fast 80 Prozent der Menschen in eine Berufsausbildung, rund 20 Prozent landen in gymnasialen Oberstufenzweigen. Dass die später Berufstätigen dann häufiger ihr Jobprofil wechseln, läge auch an der längeren Lebenserwartung und den kürzeren Innovationszirkeln in der Wirtschaft. Gefragt danach, ob wir den Menschen reichlich gute Weichen zur Verfügung stellen, um in neue Tätigkeitsfelder einzusteigen, meint Schlögl: „Nur in Krisensituationen. Das Arbeitsmarktservice investiert im Rahmen seiner Arbeitsmarktpolitik überdurchschnittlich viel, wer aber nicht aus der Situation der Arbeitslosigkeit heraus umsatteln möchte, ist meist auf private Mittel angewiesen.“
Hoher Bildungsabschluss ≠ hoher Kontostand
Als der junge Peter Schlögl mit seinem ersten Gehaltsscheck nach Hause kam, zeigte er diesen seinem Vater, dem Drucker, der darauf antwortete: „Verdiene ich auch, in der Woche.“ Besonders in den technischen, häufig von Männern ausgeübten Berufen sei die finanzielle Bewertung der Arbeit wesentlich höher als in anderen Feldern. Dabei kann auch passieren, dass selbst der Hochschulabschluss nicht vor niedrigen Kontoständen schützt: So zeigen Lebensverdienststudien, dass beispielsweise Alumni von berufsbildenden höheren Schulen im Vergleich zu unselbstständigen Akademikern mehr verdienen können. So lässt sich bei manchen der spätere Berufseinstieg nicht mehr finanziell wettmachen, andererseits sei die gesellschaftliche Wertigkeit nicht immer fair verteilt, so Schlögl.
Der (arbeitende) Mensch im digitalen Zeitalter
Die angehenden gesellschaftlichen Transformationen in Richtung Digitalisierung würden die Erwachsenenbildung vor neue Herausforderungen stellen, kündigt Peter Schlögl an. Die Daten würden zeigen, dass der Bereich der Einfacharbeit nicht wegbrechen werde, der Anteil der hochqualifizierten Arbeit aber steigen werde. „Das mittlere Segment, das häufig durch Berufsbildung bedient wird, wird schmäler.“ Für die kommenden Jahre brauche es neue Konzepte, wie diese Menschen für digitalisierte Prozesse geschult werden und an deren Gestaltung teilhaben können. Neue Weichenstellungen auf Angebotsseite und der Finanzierung seien auch hierfür nötig.
für ad astra: Romy Müller
„Dem 18-jährigen Maturanten trauen wir die Studierfähigkeit zu, hingegen einem Menschen, der seit zehn Jahren erfolgreich im Beruf ist, verwehren wir den Zutritt.“ Peter Schlögl