Ausbildungspflicht: „In der Diskussion geht es sehr wenig um die Jugendlichen und sehr viel um andere Interessen.“
In Österreich gibt es nicht nur eine Ausbildungsgarantie, sondern auch eine Ausbildungspflicht: Demnach müssen alle Jugendlichen nach der Erfüllung der Schulpflicht eine Ausbildung oder eine ähnliche Maßnahme absolvieren, wenn sie nicht weiterführende Schulen besuchen. Alban Knecht fragt sich in seiner kürzlich in Buchform erschienen Habilitationsschrift: Wie unterstützt die Arbeitsmarktpolitik Jugendliche beim Berufseinstieg? Und wo wirkt sie eher hinderlich? Er hat dafür politische Diskurse und institutionelle Veränderungen der Beschäftigungsförderung benachteiligter Jugendlicher in Österreich analysiert.
Wer sind denn die benachteiligten Jugendlichen, mit denen Sie sich beschäftigen?
Benachteiligte Jugendliche sind solche, die besonderen Herausforderungen gegenüberstehen. Sie kommen häufig aus Familien, die man als arm bezeichnen würde – oder sie haben Probleme in der Schule, bedingt zum Beispiel durch Migration. Wenn sie dann aus dem Kindheitsalter, in dem sie eher als Opfer der Umstände gesehen werden, herauswachsen und in die gesellschaftlich zugeschriebene Verantwortung hineinwachsen, wird offensichtlich, dass sie in vielen Lebensbereichen Nachteile haben bzw. haben werden.
Warum finden diese Jugendlichen häufig keine Lehrstelle?
Das kann mit im Vergleich schlechteren schulischen Leistungen zu tun haben, die aber nicht unbedingt etwas über die eigentlichen Fähigkeiten aussagen müssen. Und es hat mit Diskriminierung zu tun. So wurde zum Beispiel die Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Lehrstellenmarkt immer wieder nachgewiesen. Diese jungen Menschen müssen sich wesentlich häufiger bewerben und haben dennoch wesentlich geringere Chancen, eine Lehrstelle zu bekommen.
Was fällt der Politik dazu ein, um dem Problem zu begegnen?
In Österreich gibt es ein ausgebautes System zur Unterstützung von Jugendlichen, die Probleme beim Übergang von der Schule in den Beruf haben, das aber auch permanent von verschiedenen Seiten in der Kritik steht. Deshalb gilt es immer danach zu fragen, welche Bedeutung die politischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Systems haben. Damit beschäftige ich mich in meinen Forschungsarbeiten.
Was zeichnet dieses System aus?
Seit 2007 gibt es die Ausbildungsgarantie in Österreich, die 2017 um eine Ausbildungspflicht erweitert wurde. Neben der regulären Lehre gibt es die so genannte überbetriebliche Lehrausbildung. Wenn Jugendliche keine Lehrstelle finden, haben sie die Möglichkeit, eine Ausbildung in einem Programm in Lehrwerkstätten und mit Betriebspraktika zu machen. Die überbetriebliche Ausbildung leistet im Prinzip gute Dienste: Sie verringert die Lücke zwischen dem Angebot an Lehrstellen und der Nachfrage nach Lehrstellen – langfristig werden nämlich immer weniger Lehrstellen angeboten. Und tatsächlich ist die Jugendarbeitslosigkeit in Österreich im europäischen Vergleich gering.
Was machen jene, für die die überbetriebliche Ausbildung (noch) nicht das Richtige ist?
Dafür gibt es weitere Angebote. Jugendcoaching ist ein Angebot für Probleme bei der Suche nach einer Lehrstelle oder nach der richtigen Ausbildung. Dort wird individuell beraten. Und mit „Ausbildungsfit“ gibt es eine Maßnahme, die greift, wenn am Ende der Schulpflicht noch Basisbildung fehlt.
Das klingt eigentlich nach einer wunderbar funktionierenden Sozialpolitik, oder?
In manchen Bereichen ist dennoch Kritik angebracht. Wenn wir auf die Situation von asylsuchenden Jugendlichen blicken, dann sehen wir, dass sie sowohl von der Ausbildungsgarantie als auch der Ausbildungspflicht ausgeschlossen wurden. Solange sie im Asylverfahren sind – und manchmal dauern die Verfahren sehr lange –, dürfen sie nach der Erfüllung der Schulpflicht keine Lehre machen oder arbeiten. Das steht sogar im Widerspruch zu internationalen Regelungen. Eine Ausnahmeregelung, die ihnen ab 2012 den Zugang zur Ausbildung für Mangelberufe ermöglicht hat, wurde 2018 wieder abgeschafft. Man sieht, wie hier die Politik ganz andere Interessen verfolgt und die Jugendlichen selbst dabei völlig aus den Augen verliert. Zur Abschaffung der Möglichkeit, dass Jugendliche im Asylverfahren eine Lehre machen können, haben sich auch Vertreter:innen der Wirtschaft sehr kritisch geäußert, denn im Grunde schadet es nicht nur den Jugendlichen, sondern auch dem Standort Österreich.
Wie nehmen sie den politischen Diskurs zu benachteiligten Jugendlichen wahr?
Oft wird auf die Defizite und die psychischen Probleme fokussiert, und Jugendliche werden schnell selbst dafür verantwortlich gemacht, dass sie keine Lehrstelle finden – allerdings bieten eben die Dienstgeber:innen immer weniger Stellen an. Diese Probleme werden dann als Grund dafür angeführt, dass wir diese Ausbildungspflicht bräuchten. Paradoxerweise bleibt aber das massive Unterangebot in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie bestehen. Auch wenn seit der Pandemie viel darüber diskutiert wird, kam es kaum zu realen Verbesserungen. Das erinnert an das alte Sprichwort „Zwei Lebensstützen brechen nie, Gebet und Arbeit heißen sie“. Oft ist es aber so, dass erst die Bearbeitung psychischer Probleme den Weg zu guten Berufsentscheidungen und erfüllter Arbeit ebnen.
Welche Interessen spielen denn bei der Entwicklung der Maßnahmen eine Rolle?
Zur Einführung der Ausbildungspflicht haben uns wiederum andere Politiker:innen wie auch Mitarbeiter:innen aus der Verwaltung erzählt, dass sie in Wirklichkeit den Sinn verfolgt, langfristig die Existenz von Angeboten zu sichern – denn an einer einmal eingeführten Pflicht könne niemand mehr rütteln. Wir sehen daran erneut, dass es in dem Bereich der Arbeitsmarktförderung von Jugendlichen sehr wenig um die Jugendlichen selbst geht. Der Titel meiner Habilitationsschrift lautet „Mit Sozialpolitik regieren“, weil es bei der Bearbeitung sozialer Probleme eben oft um ganz andere Interessen und Zielsetzungen geht, als die Probleme nahelegen.
Auch der Konflikt zur Überbetrieblichen Ausbildung ist typisch und aussagekräftig: Eine an vordergründigen Interessen der Wirtschaft orientierte Politik versucht durchzusetzen, dass die überbetriebliche Lehrausbildung nur als Notnagel benutzt wird – und nicht der Besetzung auch wenig attraktiver Lehrstellen im Wege steht. Deshalb wurde 2018 verlangt, dass sich Lehrlinge in der überbetrieblichen Lehrausbildung permanent auf reguläre Ausbildungsplätze bewerben müssen. In der Folge wurde auch die Anzahl an Stellen in der überbetrieblichen Lehre reduziert. Wiederum wird das Interesse der Jugendlichen selbst völlig negiert.
Wie geht es den Jugendlichen mit der Ausbildungspflicht?
Ein Jugendlicher, den wir interviewen, erzählte uns: „Ich finde die Ausbildungspflicht super. Ich bin ja engagiert, aber die anderen wollen nicht arbeiten.“ Das zeigt, wie entsolidarisierend das diskriminierende Moment dieser Systeme wirkt. Betroffene Menschen, die auch Hilfe benötigen, übernehmen die Vorurteile gegen eine Gruppe, der sie angehören – um sich dann von ihresgleichen abzugrenzen. Die Angebote wie Jugendcoaching, Ausbildungsfit und Überbetriebliche Ausbildung werden von den Jugendlichen auch meistens geschätzt, ohne dass sie sich viele Fragen stellen, wie Alternativen aussehen könnten. Wenn man mit ihnen Verbesserungen diskutieren wollte, dann reicht es nicht, sie Fragebögen ausfüllen zu lassen; stattdessen sollten sie das System vorher verstehen und Alternativen kennengelernt haben.
Und was bedeutet die Verpflichtung für die Motivation?
Manche Jugendliche haben in der Schule negative Lernerfahrungen gemacht. Wenn sie in der Schule dauerhaft Leistungsanforderungen nicht erfüllen können, verschließen sie sich innerlich, sie „machen zu“. Wenn es dann darum geht eine Lehrstelle zu suchen, diagnostizieren Fachkräfte, die mit den Jugendlichen zusammenarbeiten eher „fehlende Selbstwirksamkeit“, in den Verwaltungen und von manchen Politiker:innen wird eher „fehlende Motivation“ konstatiert. Wenn nach der Schule dann eine weitere Pflicht auf sie wartet, wenn die Motivation „extrinsisch“, also von außen oktroyiert wird, dann hemmt das die „intrinsische Motivation“, also die Motivation, sich für seine Ausbildung aus eigenem Antrieb zu engagieren. Im Beruf kann man kaum dauerhaft erfolgreich sein, wenn man sich fremdgesteuert fühlt. Ich sehe darin ein Problem der Ausbildungspflicht.
Der Arbeitsmarkt ist aktuell leergefegt. Ist das am Lehrstellenmarkt nicht auch so?
Dar Lehrstellenmarkt ist komplexer. Wer will welchen Beruf erlernen? Und wo kann man arbeiten? Wir sehen in Wien, dass bis zu 20% aller Ausbildungen in der überbetrieblichen Lehre stattfinden. Den Jugendlichen in Wien hilft es aber auch nicht, wenn es in Vorarlberg tolle Ausbildungsplätze gibt. In Summe sehen wir, dass die Anzahl der Lehrstellen, die besetzt werden, mit einem kleinen Ausreißer im letzten Jahr, seit Jahren kontinuierlich abnimmt.
Unternehmen beschweren sich auch häufig, dass die Jugendlichen heute weniger mitbringen würden und weniger arbeitsam wären als früher.
Vorweg lässt sich sagen: Die Kritik an der Jugend gibt es schon seit Platon. Man muss aber auch man berücksichtigen, dass sich die Bedeutung der Lehre ändert, wenn mehr Jugendliche höhere, akademische Ausbildungen machen wollen. Darüber hinaus haben sich die Anforderungen an Arbeitskräfte geändert – und wohl auch an Lehrlinge. Nicht zuletzt ist die Position der Dienstnehmer:innen heute am Arbeitsmarkt eine andere. Durch den Fachkräftemangel sind Unternehmen stärker gefordert, attraktive Stellen anzubieten. Und dass Dienstnehmer:innen in dieser Situation vielleicht anspruchsvoller und wählerischer sind, ist nicht unbedingt zu kritisieren.
Zur Person
Alban Knecht ist Postdoc-Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung im Arbeitsbereich für Sozialpädagogik und Inklusionsforschung. Er beschäftigt sich insbesondere mit sozialer Ungleichheit, Armutsforschung und Sozialpolitik.
Seine Habilitationsschrift ist im Jänner 2024 im Verlag Barbara Budrich erschienen unter dem Titel „Mit Sozialpolitik regieren. Eine ressourcentheoretische Policy-Analyse der Beschäftigungsförderung benachteiligter Jugendlicher in Österreich“ (open access).