„Eine gigantische Kompromissbildung“. Religion in der ideologiekritischen Perspektive von Cornelius Castoriadis
Lässt sich das Phänomen religiösen Bewusstseins in irgendeiner plausiblen Form mit den Selbstbildern demokratischer Gesellschaften und selbstbestimmter Individuen verbinden? Diese Frage an der Schnittstelle zwischen Religions- und Sozialphilosophie ist allein durch die täglich sichtbare Verbindung religiöser Einstellungen mit Fundamentalismus und Machtmissbrauch noch nicht abschließend beantwortet. Im Gegenteil: Die Bearbeitung dieser Frage verlangt gerade angesichts dieser massiven Realitäten nach einem Begriffsrepertoire, das über holzschnittartige Dichotomien wie ‚naiv vs. aufgeklärt‘ oder ‚mittelalterlich vs. modern‘ hinausweist.Ein derartiger Vorrat an Begriffen findet sich in Cornelius Castoriadis‘ Konzeption der Gesellschaft als imaginärer Institution. Die Leitperspektive bildet hier nicht die historische Schwelle zwischen Vormoderne und Moderne als solche, sondern das machtanalytische Spannungsfeld zwischen Heteronomie und Autonomie. Die Denkfigur der imaginären Schöpfung lässt zunächst ein gemeinsames Moment zwischen Demokratie und Religion erkennen, insofern beide als gesellschaftliche Institutionen in den Blick genommen werden. Castoriadis Beschreibung der Gesellschaft als zugleich instituierend und instituiert bietet dabei eine erhellende Heuristik, um den Bedingungen der Verknüpfung von Religion und Heteronomie auf die Spur zu kommen. Annette Langner-Pitschmann promovierte im Fach Religionsphilosophie mit einer Arbeit über die Religionstheorie des amerikanischen Pragmatisten John Dewey und ist seit 2020 Professorin (Tenure Track) für Theologie in globalisierter Gegenwart an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.