Ein Selfie als Lebensbeweis
Für Menschen auf der Flucht sind Smartphones das wichtigste Überlebenshilfsmittel. Katja Kaufmann erforschte die konkreten Gründe.
Was macht Smartphones so erfolgreich und im Gegensatz zu früheren Medientechnologien so vielfältig einsetzbar? In ihrem groß angelegten Forschungsprojekt befasste sich Katja Kaufmann unter anderem mit deren Einsatz auf langen Fluchtwegen, explizit bei syrischen Flüchtlingen 2015 auf dem Weg nach Österreich.
Die 13 InterviewpartnerInnen fand die Mobile-Media-Forscherin in Wien nach folgenden Kriterien: syrische Nationalität, Flucht über Land- und Seeweg („Balkanroute“), ein unterwegs aktiv genutztes Smartphone, Fluchthintergrund Krieg, Fluchtjahr 2015 sowie englische Sprachkenntnisse. Alle Befragten waren StudentInnen oder AbsolventInnen und 20 bis 32 Jahre alt. Die meisten trugen auf der Flucht zusätzliche Verantwortung für mitflüchtende Angehörige: Eltern, jüngere Geschwister, Kranke. Mithilfe des Smartphones trafen sie laufend Entscheidungen, um sich und die Angehörigen bestmöglich durchzubringen. Die meisten dafür notwendigen Informationen fanden sie in sozialen Netzwerken: „In Facebookgruppen werden im Sinne einer Schwarmintelligenz
Informationen und Erfahrungen zusammengetragen, die nützlich für die Flucht sind: gute Schlepper, freundliche Hotels, Orte und Menschen, Stromtankstellen etc.“, zählt Kaufmann auf.
Die GPS-Funktion ist von immenser Bedeutung, etwa wenn Angehörige sich im Gedränge aus den Augen verlieren. Der Standort wird dann im Messenger Whats-App weitergegeben, wie überhaupt der Großteil der Kommunikation über diese kostengünstige und leistungsfähige Anwendung erfolgt.
Doch nur ein funktionsfähiges Smartphone gibt das Gefühl der Sicherheit. Die Nervosität steigt, wenn die Akkuladung dem Ende zugeht. Da Gerät und GPS auch offline zu gebrauchen sind, ist Strom noch wichtiger als Internet. Dementsprechend gering wird der Verbrauch gehalten, mit Ersatzakkus und Powerbanks wird vorgesorgt. Strom sei das Wichtigste, auf Essen könne man ein oder zwei Tage verzichten, beschrieben die Flüchtlinge den Umgang mit der knappen Ressource. Ein Gerät wird nur für die kurze Zeit der Nutzung ein- und ansonsten vollständig ausgeschaltet.
Problematisch ist auch eine funktionierende Internetverbindung. SIM-Karten sind teuer, und stabiles WLAN ist selten. Eine Lösung ist, dass sich ein Gruppenmitglied eine SIM-Karte kauft und damit einen Hotspot eröff net, in den sich auch andere einloggen können. Kaufmann findet diese kreativen Praktiken besonders interessant: „Ich hatte den Eindruck, dass gerade in solchen Ausnahmesituationen die Wirksamkeit zutage kommt, die man hier nicht kennt. Hier würde auch nie jemand sagen, ich habe überlebt, weil ich ein Smartphone hatte.“
Ein wesentlicher Aspekt bei einer Flucht ist das psychische Durchhaltevermögen. In der Angst um die zurückgelassene Familie und umgekehrt deren Sorge um die Flüchtenden ist der soziale Austausch wichtig. Da tut es gut, die Stimme des anderen zu hören, Nachrichten zu schicken – oder Selfi es als Lebensbeweis. Fotos dienen auch zum Dokumentieren der Reise. „Sie haben eine große emotionale Bedeutung“, konnte Kaufmann feststellen, „nicht nur die Bilder von der Heimat und der Familie, sondern auch die Fotos von der Flucht selbst werden wie ein Fotoalbum
angeschaut. Daraus schöpfen die Geflüchteten Kraft und machen diese schwierige Zeit zum Teil der eigenen Biografie.“
Wenn die Flucht gelungen ist, verschieben sich die Ansprüche an den digitalen Alleskönner. Aus diesem Grund setzt Katja Kaufmann die Interviewreihe im Herbst fort: Wie nutzen Flüchtlinge das Smartphone in der Zeit nach ihrem Ankommen am Zielort?
für ad astra: Barbara Maier
Katja Kaufmann ist Mobile-Media-Forscherin am Institut für Vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung in Wien, das gemeinsam von der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität betrieben und von Matthias Karmasin geleitet wird.