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Empfehlung aus der Leseecke der Universitätsbibliothek
Intersektionale Solidaritäten: Beiträge zur gesellschaftskritischen Geschlechterforschung. Hrsg. von Kirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch und Pauline Roeseling. Verlag Barbara Budrich: 2024.
Verbündet-Sein, Vernetzung und Vergemeinschaftung: Diese Konzepte sind in jüngster Zeit wieder in den Mittelpunkt (queer-)feministischer, genderspezifischer und intersektionaler Theorien und Praktiken gerückt. Die Beiträge des Buchs thematisieren Erfolge und Herausforderungen queer-feministischer, antirassistischer und intersektionaler Bündnisse in ihren lokalen, regionalen und globalen Verbundenheiten.
„Wie Solidarisierungen trotz verschiedener Standpunkte möglich sind, ohne dass Intersektionalität zu einer leeren Formel wird“ – Interview mit den Herausgeber*innen zu „Intersektionale Solidaritäten“
Liebe Herausgeber*innen, worum geht es in Intersektionale Solidaritäten?
Unser Buch ist ein Sammelband, das heißt, dass mehrere Autor:innen aus verschiedenen Perspektiven diskutieren, welchen Beitrag gesellschaftskritische Geschlechterforschung zur Entwicklung von Allianzen und Bündnissen und damit auch für die Zukunft leisten kann. Die vielfältigen Texte aus Feldern der Kulturwissenschaft, Ökonomie, Soziologie, Philosophie, Sozialen Arbeit, Kunst, Disability Studies, Politikwissenschaft, Gender und Queer Studies, Migrationsforschung, Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung verweisen auf die theoretischen und praktischen Herausforderungen sowie die Potenziale, die sich aus einem intersektionalen Zugang zu Fragen des Verbündet-Seins ergeben.
Gegliedert ist der Band in sechs Teile: Im ersten Teil zu Theoretischen Perspektiven wird thematisiert, wie unter Einbezug von Hegemonieselbstkritik und Hegemoniekritik Bündnisse geschlossen werden können. Dabei geht es nicht nur darum, androzentrische und anthropozentrische Paradigmen zu überwinden, sondern vermehrt auch queere, indigene, aber auch posthumanistische Ansätze miteinzubeziehen. Die Beiträge im zweiten Teil zu Intersektionalen Bündnissen debattieren, wie intersektionale Allianzen entstehen können, wo die Grenzen von Bündnispolitiken liegen und welche Rolle dabei Identitätspolitiken spielen. Anhand konkreter Beispiele aus der Praxis der Bildungspolitik, der Palliative Care, der feministischen Mädchenarbeit und von queer-feministischen Communities und Diskursen wird im dritten Teil Feministische Interventionen gezeigt, wo und wie intersektionale Bündnisse gelingen oder aber auch scheitern können. Der vierte Teil, Prekäre Allianzen, fokussiert darauf, welche Rolle Emotionen, Gefühle und Affekte, aber auch Körper und Leiblichkeit für Bündnisse haben können. Im fünften Teil, (Un)Mögliche Solidaritäten, werden Herausforderungen und Kritiken an Solidaritäten besprochen. Dabei geht es vor allem um die Debatte des Konzepts der Intersektionalität und wie mit diesem gegenwärtig in der Praxis und Theorie umgegangen wird bzw. wie dieses Konzept vereinnahmt wird. Im sechsten und letzten Teil, Solidaritäten in der Praxis, werden verschiedene Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Aktivismus und Kunst sowie auch Entwicklungspolitik näher betrachtet und Beispiele für gelungene Intersektionale Solidaritäten dargelegt.
Zusammengefasst setzen sich die Autor:innen mit historischen Erfolgsmodellen, Solidaritäten und Bündnispolitiken und ihren Wirkungen in gegenwärtigen sozialen Bewegungen auseinander und diskutieren Zukunftskonzepte, Utopien und Heterotopien des Mit-Seins und Mit-Werdens im Widerstreit und in Verwobenheit. Die Publikation bündelt Texte, die verschiedene Diversitätsdimensionen wie etwa Klasse, sexuelle Orientierung, soziale und nationale Herkunft, Geschlecht, Alter, Befähigung, De-Kolonialismus und Posthumanismus ansprechen und damit unterschiedliche Elemente Intersektionaler Solidaritäten thematisieren.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
Im Jahr 2021 feierte das Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien der Universität Klagenfurt sein 20-jähriges Bestehen mit einer mehrtägigen Arbeitstagung. Als Organisationsteam standen wir am Beginn unserer Planungen unter den Eindrücken erfolgreicher globaler Bewegungen wie MeToo, Black Lives Matter und Fridays for Future und befassten uns auch mit vermeintlich gescheiterten, weil brutal niedergeschlagenen Protesten des Arabischen Frühlings und anderen politischen Kollektivierungen wie z. B. Precarias a la deriva in Spanien, #NiUnaMenos in Argentinien, dem Aurat-Marsch in Pakistan oder Pinjra Tod (Break the Cage) in Indien.
In unserem Call for papers unter dem Titel „A p a r t – Together – Becoming With! Gesellschaftskritische Geschlechterforschung als Beitrag zu einer Allianz für die Zukunft“ stellten wir Fragen nach trans- und internationalen Feminismen bzw. geschlechterpolitischen Allianzen im Kontext antikolonialer Kämpfe, postkolonialer Auseinandersetzungen und dekolonialer Bewegungen in den Mittelpunkt. Bedingt durch die Covid-19-Pandemie musste unsere Tagung im Dezember 2021 zwar online stattfinden, wir konnten jedoch an insgesamt 4 Tagen mit zahlreichen Kolleg:innen interdisziplinär zu Solidaritätsprozessen theoriegeleitet, praxisorientiert, historisch kontextualisiert und zugleich zukunftsorientiert diskutieren.
Aufgrund des großen Interesses aus der Community haben wir schon während der Organisation über die Publikation eines Tagungs- oder Sammelbandes nachgedacht und uns sehr gefreut, als der Verlag Barbara Budrich dann noch während unserer Tagung auf uns zukam.
Welchen Herausforderungen stehen intersektionale Solidaritäten in der gesellschaftskritischen Geschlechterforschung Ihrer Einschätzung nach derzeit und zukünftig gegenüber?
In den letzten Jahrzehnten wurden die theoretischen Zugänge zu Solidaritäten, Gemeinschaften und Bündnissen aus queerfeministischen und genderspezifischen Blickwinkeln in Hinblick auf Identitäts- und Intersektionalitätsfragen ausdifferenziert. Intersektionale Zugänge haben den Anspruch, das Zusammenwirken verschiedener Formen von Ungleichheit und Diskriminierung sichtbar zu machen. Die zentrale Frage ist, wie Solidarisierungen trotz verschiedener Standpunkte möglich sind, ohne dass Intersektionalität zu einer leeren Formel wird. Solidaritätsfragen finden sich in einem Spannungsverhältnis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden oder Identitätspolitiken und der Dekonstruktion eines (essentialistischen) Identitätsverständnisses. Die Herausforderungen für intersektionale Solidaritäten in einer gesellschaftskritischen Geschlechterforschung sehen wir derzeit in den unterschiedlichen emanzipativen Identitätspolitiken ohne dass diese ausschließend, nivellierend oder essentialisierend werden, aber auch in den Angriffen auf eine sogenannte „Woke-Kultur“ (Stichwort Trans*Debatten) oder etwa in aktuellen Krisen und Kriegen (Stichwort Gaza-Krieg), die auch innerhalb der feministischen und geschlechtertheoretischen Diskussionen für große Spannungen und Konflikte sorgen. Gleichzeitig ist die Geschlechterforschung mit zunehmenden patriarchalen Strukturen und Maskulinisierungstendenzen sowie mit dem Abbau von Demokratien und damit einhergehend mit dem Abbau von Frauen*- und Menschenrechten konfrontiert, die umso stärker intersektionale und internationale Solidaritäten erforderlich machen.
Die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen für intersektionale Solidaritäten sehen wir in den aktuellen Krisen und Kriegen, die mit Existenzbedrohung und Migration, einem Ringen um Sprache und Diskurshoheiten zwischen der Vermittlung von Faktenwissen und dem Erkennen von Fake News in sozialen und traditionellen Medien einhergehen. Dabei sehen wir eine der größten Herausforderungen in der Vermittlung und dem Transfer von gesichertem Wissen, in der Anerkennung verschiedener (geschlechter-demokratischer) Perspektiven, im Dialog und im solidarischen Denken und Handeln.
Der zunehmende weltweite Demokratieabbau, der rasante technologische Fortschritt rund um künstliche Intelligenz, die Emotionalisierung in den sozialen Medien und das ökonomische Auseinanderdriften von sozialen Gruppen und Bevölkerungen verunsichern in einer scheinbar immer fragiler werdenden, politischen Weltlage und geht mit der Entwicklung exkludierender und sich abschottender Communities einher. Zudem macht der Klimawandel auf drastische Weise deutlich, wie wir Menschen miteinander, mit unserer Umwelt und mit der Natur verbunden und auf sie angewiesen sind.
Mit den Konzepten des Mit-Seins und Mit-Werdens queerfeministischer Theoretiker*innen steht auch eine feministische Educare und Care-Ethik des Rücksichtnehmens und der Empathie zur Diskussion.
Die Herausgeber*innen
Mag.a Dr.in Kirstin Mertlitsch ist Senior Scientist und Leiterin des Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien, Universität Klagenfurt. Sie lehrt und forscht im Bereich Gender- und Queer Studies, Intersektionalitäts- und Diversitätsforschung, New Materialism und Kritischer Posthumanismus
Dr.in Brigitte Hipfl ist ao.Prof.in i.R. am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Klagenfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Gender Media Studies und den affektiven Dynamiken von Medien, insbesondere im Hinblick auf Migration, Konvivialität. Solidarität und Erinnerungsarbeit.
Pauline Roeseling, B.Sc. ist Studienassistentin am Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien, Universität Klagenfurt. Aktuell arbeitet sie an ihrer Masterarbeit im Fach Psychologie und forscht zu Bisexualität, Exklusion und Verbundenheit.
Verena Kumpusch ist Sozialpädagogin und wissenschaftliche Schreibtrainerin. Im Rahmen ihrer Dissertation lehrt und forscht sie u. a. zu Wissensverhältnissen hinsichtlich Gender, Queer, Intersektionalität und Diversität in Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen und ist an verschiedenen Hochschulen in Österreich tätig.
Quelle: Budrich Verlag online „Wie Solidarisierungen trotz verschiedener Standpunkte möglich sind, ohne dass Intersektionalität zu einer leeren Formel wird“ – Interview mit den Herausgeber*innen zu „Intersektionale Solidaritäten“ – Verlag Barbara Budrich | abgerufen am 21. November 2024