Mit literarischen Figuren mit-fühlen – und daraus für die eigene Gefühlswelt lernen

Der Literaturwissenschaftler und Autor Anes Osmić hat einen pragmatischen Zugang zum Nutzen von Literatur: Wir sollten durch das Lesen etwas Konkretes und Praktisches lernen. In seiner Dissertation, die der Senior Scientist an der Universität Sarajevo am Institut für Slawistik an der Universität Klagenfurt schreibt, widmet er sich der emotional literacy, deren Entwicklung durch Literatur unterstützt werden könnte. Dafür wird er aktuell mit dem Lejla Hairlahović-Hušić-Stipendium des War Childhood Museum und der Lejla Hairlahović-Hušić Foundation unterstützt.

Anes Osmić hat, wie er uns im Online-Interview von Sarajevo aus erzählt, eine Mission: „Ich möchte zur Verbesserung des Bildungssystems beitragen, indem ich auf einen konkreten und praktischen Nutzen der Literatur aufmerksam mache, von dem die Kinder profitieren können. Emotional literacy zu stärken, ist meines Erachtens ein lohnenswertes Unterfangen, weil wir daraus wichtige Kompetenzen für unseren Alltag mitnehmen können.“

Mit dem Konzept der emotional literacy gemeint sind Kompetenzen, die es einem erlauben, Emotionen zu verstehen, auszudrücken, seine eigenen Emotionen zu regulieren und mit den Emotionen anderer umzugehen. Marc Brackett, der Gründer des Yale Center for Emotional Intelligence, hat fünf Fähigkeiten beschrieben, die im Fokus der Arbeit von Anes Osmić stehen: Emotionen wahrnehmen, Emotionen verstehen, Emotionen benennen, Emotionen ausdrücken und Emotionen regulieren.

Anes Osmić hat nun in den vergangenen zwei Jahren seines PhD-Studiums in Workshops mit Kindern der 5., 7. und 9. Schulstufe zu literarischen Beispielen und deren Auswirkungen auf die emotional literacy gearbeitet. Die Kinder haben dafür ein „Tagebuch der Gefühle“ geführt, das ihnen dabei geholfen hat, Hemmschwellen beim Ausdruck von Emotionen abzubauen, denn, so Anes Osmić: „Emotionen sind nicht nur ein psychologisches Phänomen, sondern in kulturelle Kontexte eingebaut. Wir sind es oft nicht gewöhnt, unsere Gefühle auszudrücken. Manchmal fühlen wir uns sogar gezwungen, sie zu unterdrücken.“ Die Ergebnisse sind, wie er beschreibt, durchaus erstaunlich: „Wir haben gesehen, dass die Kinder Gefühle besser wahrnehmen und verstehen konnten. Erstaunlich ist, dass es ihnen auch leichter fiel, Gefühle zu regulieren. In den anderen beiden Feldern konnten wir keine Veränderung feststellen.“

Seine Erkenntnisse hat er nun bereits in über 400 Seiten Dissertationsschrift zusammengefasst. Jetzt gilt es, die Ergebnisse zu komprimieren. Unterstützt wird er bei seiner Arbeit unter anderem von Cristina Beretta (Institut für Slawistik), die den Doktoranden an der Universität Klagenfurt betreut. Mit seiner wissenschaftlichen Arbeit konnte Anes Osmić direkt an sein Bachelor- und Masterstudium an der Universität Sarajevo anschließen, wo er am Department of the Literatures of the Peoples of Bosnia and Herzegovina studiert hat. Bevor er dann dort als Senior Teaching Assistant zu arbeiten begann, war er als Lehrer an Grundschulen und Höheren Schulen in Bosnien tätig. Schon in dieser Zeit wurde ihm klar, dass für ihn die funktionale Rolle der Literatur genutzt werden solle, denn, so Anes Osmić: „Die Literatur soll für uns Inspirierendes bereithalten, von dem wir in unserem Alltagsleben profitieren können.“

Auf ein paar Worte mit … Anes Osmić



Verstehen Ihre Eltern, woran Sie arbeiten?
Ja, einiges davon schon. Zum Beispiel, dass das Lesen sehr unterhaltsam und hilfreich sein kann.

Was machen Sie im Büro morgens als Erstes?
Noch ein Kaffee und eine Zigarette. Typisch Balkan. (lacht) Dann checke ich meine E-Mails und meine Termine für den Tag.

Wer ist für Sie die größte Wissenschaftler:in der Geschichte und warum?
Jede wissenschaftliche Arbeit, die zur Lebensqualität der Menschen beiträgt, ist unermesslich wichtig und gleichwertig, daher würde ich niemanden herausheben.

Was bringt Sie in Rage?
Hassreden im Internet, insbesondere wenn sie sich gegen Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund ihrer Identität richten, und wenn Menschen selbstbewusst über Dinge sprechen, von denen sie keine Ahnung haben.

Machen Sie richtig Urlaub? Ohne an Ihre Arbeit zu denken?
Ich gebe mir Mühe, wenn überhaupt. Es ist einfacher, wenn mein Bruder, Freunde oder liebe Menschen um mich herum sind.

Wovor fürchten Sie sich?
Ein unerfülltes Leben zu führen.

Worauf freuen Sie sich?
Im Rahmen der Dissertation möchte ich diese frustrierende Phase beenden, in der ich zum dritten Mal über alle meine bisherigen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen nachdenke. Diese Phase, die oft von Selbstzweifeln und dem Bedürfnis nach Perfektion geprägt ist, kann sowohl herausfordernd als auch lohnend sein. Ich freue mich darauf, die gewonnenen Erkenntnisse mit anderen zu teilen, was auch für sie hilfreich sein kann.