Wenn der demokratische Frieden ins Wanken gerät: Bürgerkrieg von der Antike bis in die Gegenwart
Im Juni 2024, vor den Parlamentswahlen in Frankreich, sprach Präsident Emmanuel Macron von einem „risque de guerre civile“, dem Risiko für einen Bürgerkrieg in seinem Land. Damit thematisierte er, was über Jahrzehnte hinweg in Europa undenkbar schien: die Bedrohung durch einen Krieg, der auf der massiven Spaltung der Gesellschaft fußt. In diesem Jahr stehen weitere Wahlen bevor, die ebenfalls unter angespannten Vorzeichen über die Bühne gehen. Die Historikerin Katarina Nebelin spricht im Interview über die inneren Erschütterungen, die Demokratien von der Antike bis heute erfahren.
Frau Nebelin, wie ist ein Bürgerkrieg definiert?
Damit meinen wir üblicherweise, dass ein Krieg innerhalb eines Landes passiert. Die Akteur:innen sind die Bürger:innen. Oft, aber nicht zwingend immer ist es so, dass eine Seite den Staat mit seinen Institutionen auf ihrer Seite hat. In der Antike wurde der Bürgerkrieg immer als schlimmste Form des Krieges betrachtet. Es gibt nicht einen Feind von außen, sondern der Unfrieden herrscht innerhalb des Volkes. Die politische Gemeinschaft gerät durch Effekte der Spaltungen ins Wanken. Das gefährdet vor allem Demokratien, die auf einem gewissen inneren Grundkonsens beruhen.
War der Zerfall Ex-Jugoslawiens der letzte Bürgerkrieg in Europa?
Das hängt von der konkreten Definition ab. In Jugoslawien hatten wir innerhalb eines Staates verschiedene Ethnien, die einander bekriegten und dann auch für den Zerfall in einzelne Länder sorgten. Das entspricht nicht ganz der radikalen Interpretation eines Bürgerkriegs.
Worin hat sich die Demokratie in der Antike von der Gegenwart unterschieden?
Der wesentlichste Unterschied ist, dass es in der Antike direkte Demokratien gab, von denen die bekannteste die des klassischen Athens war. Nicht ein Parlament oder Parteienvertreter:innen versammelten sich, sondern die Bürger selbst kamen in der Volksversammlung zusammen und beschlossen Gesetze. Spaltungen funktionieren in diesem Kontext anders. In einer parlamentarischen Demokratie stehen die Parteien für Positionen, die mitunter auch konträr sein können, wo die Auseinandersetzung im Normalfall aber friedlich abläuft. In der direkten Demokratie der Antike konnte ein einzelner Bürger einen Antrag einbringen. Wenn er die Mehrheit auf seiner Seite wusste, musste der Antrag auch umgesetzt werden. Weil es viele Arme und wenige Reiche gab, fürchteten die Reichen immer, dass es zu riesigen Umverteilungen von Geld kommen könnte, gegen die sie sich nicht zur Wehr hätten setzen können.
Wie groß, oder vielmehr wie klein waren die Einheiten in der Antike?
Sehr viel kleiner als der Staat Österreich. Attika/Athen war eine der größten Polis in Griechenland mit einer Fläche, die in etwa dem heutigen Vorarlberg gleicht. Die meisten Polis waren tatsächlich ähnlich groß wie eine österreichische Stadt.
Die größte Herausforderung der Demokratie war damals aber ähnlich wie heute: Nur weil viele etwas möchten, muss das nicht auch klug sein.
Ja, das ist etwas, das im politischen Denken stark thematisiert wurde. Philosophen wie Platon oder Aristoteles haben tendenziell propagiert, diejenigen entscheiden zu lassen, die wissen, was richtig ist. Aristoteles allerdings betont, dass die Ratschläge, Ideen und Konzepte von Experten kommen müssten. Fundamental für die Demokratie sei aber, dass die Bewertung darüber, ob die Ratschläge gut seien, bei den Bürgern liegen müsse. Im antiken Denken finden wir diese Idee immer wieder: Es muss eine grundlegende Bürgertugend geben, die es allen ermöglicht, beurteilen zu können, was gute und richtige Entscheidungen sind, auch wenn sie selbst nicht den perfekten Vorschlag machen könnten. Gibt man jedoch diesen Anspruch an die Bürgertugend auf, kommt man schnell zur Schlussfolgerung, dass eine Expertenregierung oder eine Diktatur notwendig ist. Dadurch gerät die Demokratie ins Wanken.
Wie haben sich die antiken Bürger diese Tugend erworben?
Nicht in der Schule, es gab auch keine Schulpflicht. Es war ein learning by doing. Jeder männliche Bürger hat seinen ‚Grundwehrdienst‘ geleistet und dort auch eine starke Gemeinschaftserfahrung gemacht. Danach konnte man sich an der Volksversammlung beteiligen und in Ämter hineinkommen. Die meisten Ämter wurden verlost. Es gab nicht wie in der Gegenwart erfahrenere Parlamentarier:innen, die den anderen die Abläufe zeigen konnten, sondern die Bürger kamen immer vollkommen neu zusammen und mussten sich zu Beginn erst orientieren. Es gibt sehr viel interessante politikwissenschaftliche Forschung dazu, dass das tatsächlich dazu geführt hat, dass die Bürger einen großen Gemeinsinn entwickelt haben. Man stellte nicht Eigeninteressen in den Mittelpunkt, sondern bezog sich in der Argumentation auch rhetorisch immer auf das Ganze.
Schon in der Antike gab es viele Bürgerkriege. Was waren typischerweise die Auslöser dafür?
Ähnlich wie heute machten die Menschen Enttäuschungserfahrungen mit der Demokratie. Viele sagten, so könne das nicht weitergehen und das System sei offensichtlich nicht in der Lage, ein gutes Leben zu ermöglichen. Wenn dann noch eine Lücke aufkam, wie das Fehlen von allgemein akzeptierten politischen Führern, konnte es kritisch werden. Athen hatte im fünften Jahrhundert v. Chr. einmal unter einer solchen Phase zu leiden, in der es auch weitreichende militärische Niederlagen einstecken musste. Die Schlussfolgerung war für viele, dass man mit der Demokratie nicht siegen könne und eigentlich eine andere politische Ordnung brauche. Diese scheiterte aber so katastrophal, dass die Demokratie schnell wieder hergestellt wurde.
Nach der Antike gab es über viele Jahrhunderte hinweg keine demokratischen Staatsformen. Wie kam man im 18., 19. bzw. 20. Jahrhundert wieder auf die Idee, auf dieses relativ alte Konstrukt zurückzugreifen?
Wir hatten lange Perioden der Monarchie. Die Monarchen haben die unterschiedlichen Stände, also Adel, Klerus und Bürgertum, natürlich eingebunden, es gab aber massive Unzufriedenheiten. Die beiden großen Revolutionen fanden dann in Amerika und in Frankreich statt, wo man den Adel als Teil des Problems sah und auf das aufstrebende, selbstbewusst gewordene Bürgertum in der beginnenden Industrialisierung setzte. In dieser Zeit wurde das moderne republikanisch-demokratische Denken entwickelt.
Stellte man damals auch Vergleiche zur Antike her?
Ja, besonders interessant ist, dass man sowohl in Amerika als auch in Frankreich betonte, dass man eigentlich keine richtige Demokratie nach dem Vorbild der Antike wollte. Diese Demokratie sei zu radikal, stattdessen wollte man eine Republik, in der alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt sind. Gerade die Form, in der wirklich alle armen und einfachen Leute selbst herrschen, das wollte man vermeiden.
Wie wurde das konkret gestaltet?
In den USA hat man beispielsweise die Wahlmänner dazwischen geschaltet, um zu verhindern, dass zu viel Macht von den einfachen Leuten ausgeht. Mit den Parlamenten gibt es in den heutigen Demokratien eine Ebene oberhalb des so genannten ‚Pöbels‘.
Als klassisches Beispiel für eine möglichst direkte Demokratie wird immer wieder die Schweiz genannt. Ist sie den Prinzipien der Antike am nächsten?
Ja, das glaube ich schon. Es gibt in der Schweiz auch noch Kantonsversammlungen. In Graubünden beispielsweise gibt es noch Orte, wo sich alle Stimmberechtigten auf einem Platz versammeln und dann über kantonale Angelegenheiten abstimmen. Für die Gesamtschweiz gesehen gibt es allerdings auch ein Parlament, eine Regierung und einen Bundespräsidenten; das sind alles Instanzen, die es in der Antike nicht gegeben hat.
War man in der Antike eigentlich stolz auf die Demokratie?
Ja, aber der Begriff war immer schon polarisierend. Es gab vor allem von Intellektuellen – und von jenen haben wir die meisten Texte zur Verfügung – viel Kritik. Uns liegen aber auch noch eine Reihe von Texten vor, in denen eher die Volkskultur eine Rolle spielt, beispielsweise die Komödie, die ein Massenevent war. Dort wurde immer wieder betont, dass die Demokratie eine wichtige Errungenschaft für Athen ist. Die berühmte Gefallenen-Rede von Perikles im Werk des Historikers Thukydides ist ein weiteres Beispiel dafür: Dort betont er, dass die Beziehung des Bürgers zu seiner Demokratie und zur Polis eigentlich eine Liebesbeziehung sein müsse. Man solle sie aktiv lieben, weil nur die Demokratie die volle Entfaltung für alle ermöglicht, egal, ob arm oder reich. Es gibt auch einen großen Stolz auf die Autonomie: Nicht irgendein Herrscher diktiert, sondern wir selber entscheiden, wie wir leben wollen.
Eine Schwachstelle der Demokratie ist ja, dass das Volk sie selbst abwählen kann. Ist das auch in Athen passiert?
Ja, das ist in Athen zweimal vorgekommen. Einmal gab es eine organisierte Gegnerschaft, die Terror mit gezielten politischen Morden ausgeübt hat. In diesen Situationen hat die so unter Druck gesetzte Volksversammlung gemeinschaftlich entschieden, das demokratische System zu beschränken. Wenn man die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts in Österreich, Italien und Deutschland ansieht, stellt man fest, dass diese faschistischen, illiberalen, autoritären Regime aus parlamentarischen Demokratien hervorgegangen sind. Diese Achillesferse haben Demokratien bis heute. Was macht man, wenn eine signifikante Menge an Menschen eine illiberale Demokratie bzw. ein autoritäres System möchte? Dagegen kann man Demokratien nur unzureichend absichern. Gerade weil das immer schlecht endet, ist es so wichtig, im Vorfeld klarzumachen, welche fatalen Konsequenzen der Verzicht auf die eigene Freiheit hat.
Zur Person
Katarina Nebelin ist Senior Lecturer am Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt. Sie studierte Alte Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Greifswald und an der TU Dresden. An letzterer promovierte sie 2011 mit einer Dissertation zum Thema „Philosophie und Aristokratie. Entstehung und Entwicklung von Philosophie und Elitentheorie im vorhellenistischen Griechenland“. Von 2011 bis 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heinrich Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften der Universität Rostock. Ihr Forschungsschwerpunkte sind politische Kultur der athenischen Demokratie und der römischen Republik, antike Philosophiegeschichte, antike politische Theorie und Ideengeschichte sowie Rezeptionsgeschichte der Antike.
Zur Tagung
Von 28. bis 29. Juni 2024 fand die internationale Fachtagung „Bürgerkrieg, στάσις“ im Stiftungssaal der Universität Klagenfurt statt. „Im Zentrum steht die Frage, wie Demokratien von innen heraus erschüttert werden, beispielsweise, indem sich eine Spaltung in einer Demokratie auftut oder verschiedene Gruppen das Vertrauen in die Funktionsweisen der Demokratie verloren haben“, erklärt Katarina Nebelin (Senior Lecturer am Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt). Sie organisierte gemeinsam mit Alice Pechriggl (Professorin am Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt) die Tagung.