Vom „Hier“ und „Anderswo“ in der Literatur im Senegal und in Österreich

Der senegalesische Literaturwissenschaftler Mbagnick Sene hat in seiner Heimat Franz Innerhofer, Thomas Mann, Peter Handke, Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Josef Winkler und Thomas Bernhard für sich entdeckt. Heute beschäftigen ihn Identität, Politik und die Beziehungen zwischen Afrika und Europa in seiner transkulturellen, literaturwissenschaftlichen Arbeit. 

Wie kam es, dass Sie sich in einem Land, das rund 5.000 Kilometer von Österreich entfernt ist, für die Literatur österreichischer Schriftsteller: innen zu interessieren begannen?

Die deutsche Sprache habe ich bereits im Gymnasium erlernt. An unserer Universität werden Vorlesungen und Seminaren über die Literaturen der deutschsprachigen Länder angeboten. Am Institut für Germanistik der Universität Cheikh Anta Diop Dakar hat mir dann mein Professor Mamadou Diop (Spezialist für österreichische Literatur) das Buch „Schöne Tage“ von Franz Innerhofer gegeben. Als ich das gelesen hatte, war mein Interesse für die österreichische Literatur entfacht. Mich hat vor allem die gesellschaftliche Kritik, die in diesen Texten innewohnend ist, interessiert. Später kamen dann auch Thomas Bernhard, Franz Kafka und Josef Winkler, in der Zukunft vielleicht auch Ingeborg Bachmann, hinzu. Franz Innerhofer stand auch gemeinsam mit der senegalesischen Schriftstellerin Fatou Diome im Zentrum meiner Dissertation.

Wo knüpfen Sie bei Ihrem Vergleich an?

Im Zentrum meiner Forschung steht derzeit die Identitätsfrage. Diese ist in der Heimat- und in der Anti-Heimat-Literatur von besonderer Bedeutung. Mit Innerhofer gibt es in Österreich ein außergewöhnliches Beispiel für die Anti-Heimatliteratur, die viel, mitunter auch harte gesellschaftliche Kritik aufbietet.

Gibt es Anti-Heimatliteratur in dieser Form auch im Senegal?

In der senegalesischen Literatur gibt es viele Autor:innen, die sich mit dem Kolonialismus und seinen Folgen befassen. In den 1990er Jahren kam eine neue Generation von Schrifsteller:innen auf, die meistens außerhalb Senegals, vor allem in Frankreich, leben. Sie üben Gesellschaftskritik in beide Richtungen – in Richtung Frankreichs und Senegals. Wir bezeichnen diese Generation als les enfants de la postcolonie, die Kinder des Postkolonialismus. Sie beschäftigen sich vor allem mit den Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten Afrika und Europa. Fatou Diome, mit der ich Innerhofer in meiner Dissertation verglichen habe, gehört dieser Generation an.

Welche Gemeinsamkeiten finden Sie zwischen Fatou Diome und Franz Innerhofer beispielsweise?

Beide Autor: innen sind als uneheliche Kinder aufgewachsen, was sie geprägt hat. Die Protagonisten in den beiden Werken, die ich neulich in meinem Vortrag verglichen habe, Schöne Tage sowie Le ventre de l’Atlantique, sind marginalisiert und werden sogar als Jugendsünde bezeichnet. Und beide perfektionieren das multidimensionale Schreiben. Die Literatur bietet den dritten Raum, der entsteht, wenn das Eigene und das Fremde, das Hier und das Dort aufeinandertreffen. Sie kann damit etwas leisten, das ich auch für meine eigene Literatur wichtig finde: Menschen können ohne Grenzen zwischen Menschen zusammenleben, auch wenn es Grenzen zwischen Ländern gibt.

Gab es auch schon davor Schrifsteller:innen, die sich kritisch gegenüber dem Kolonialismus gezeigt haben?

Ja, auch Autoren wie Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire, Cheikh Anta Diop oder Frantz Fanon haben sich mit der kolonialen Tatsache auseinandergesetzt. Jetzt haben wir es mit einer neuen Generation zu tun, die andere Stilmittel einsetzt und Kritik an beiden Seiten – Europa und Afrika – übt. Die meisten von ihnen leben allerdings außerhalb Senegals.

Welche Rolle spielt dabei die Sprache? Sie schreiben ja in der Sprache der Kolonialmacht, dem Französischen?

Ja, das Französische ist unsere Lehr- und Amtssprache. Die allermeisten Autor:innen schreiben auch in der französischen Sprache. Leider gibt es nur vereinzelt Beispiele wie die Dichter, Dramatiker und Essayisten Cheikh Aliou Ndao und Boubacar Boris Diop, die ihre Texte in Wolof veröffentlichen. Im Senegal sind wir mehrsprachig: Es gibt 24 nationale Sprachen, und in unseren Familien sprechen wir in unserer jeweiligen Nationalsprache. Im öffentlichen Raum dominiert Französisch.

Gibt es dazu auch einen Diskurs, der sich in anderen Formaten bemerkbar macht. In welcher Sprache singen Sie Ihre Lieder?

Wir singen immer in unserer nationalen Sprache. Dazu gibt es auch mit Youssou N’Dour ein Beispiel, der es zu weltweiter Bekanntheit geschafft hat. Er hat Mbalax entwickelt, die heutige senegalesische Popmusik, deren Texte in Wolof geschrieben sind und die überall auf dem Planeten gehört werden.

Wie schätzen Sie die Kritik ein, die in den von Ihnen behandelten literarischen Texten zum Ausdruck kommt? Kann sie uns voranbringen?

Ich finde, sie ist im 21. Jahrhundert normal. Wir leben heute in einer Welt, in der nationale Grenzen uns nicht mehr daran hindern, mal hier, mal dort, zu leben. Menschen dürfen zusammenleben, wobei sie eigene Kulturen und Lebensweisen mitbringen, die bewahrt und miteinander in Austausch gebracht werden sollen.

 

Zur Person



Mbagnick Sene ist als Dozent an der Universität Iba Der Thiam in Thiès, Senegal tätig und von Oktober 2023 bis Juni 2024 Ernst Mach-Stipendiat an der AAU. Bereits 2018 war er betreut von Primus-Heinz Kucher (Institut für Germanistik) zu Recherchen für seine Dissertation an der Universität Klagenfurt. Dissertiert hat er 2022 an der Universität Cheikh Anta Diop zu Dakar mit einer Doktorarbeit zum Thema: „Die Aporie von „Hier “ und „Anderswo“ in der Romantrilogie von Franz Innerhofer: „Schöne Tage”, „Schattseite” und “Die Großen Wörter“ und jener von Fatou Diome: „Eingeborne Zuerst “, „Der Bauch des Ozeans” und „Unmöglich zu Wachsen”. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der transkulturellen Literaturwissenschaft mit einem Fokus auf die Problemfelder Identität, Politik und afrikanisch-europäischen Beziehungen und Interkulturalität. Mbagnick Sene hat mehrere Publikationen veröffentlicht und ist zudem Buchautor. 2024 ist sein Roman Une Vie de Pleurnicheries in La maison Edition Mametouty-Editions, Dakar erschienen.