Zinsen sind Diebstahl.
So sicher, wie sich Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert bei der Bewertung von Zinsen als Einkommensquelle war, ist man sich 700 Jahre später nicht mehr. Heute ringt man in einer starken öffentlichen Debatte um das richtige Maß, um Kreditvergabe für Geldverleiher attraktiv zu halten und zugleich aber die Konsum- und Investitionsfreude von Kreditnehmer:innen nicht zu schmälern. Olaf Riss, Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, erklärt im Interview, warum ein Zinsdeckel – festgelegt bei einem fixen Wert – keine geeignete Lösung für die aktuellen Herausforderungen sein kann.
Herr Riss, welche Funktionen haben Kredite für unsere Märkte?
Verbraucherkredite und ein funktionierender Markt für solche Kredite sind ökonomisch immens bedeutsam. Es ist evident, dass das Volumen der ausgereichten Krediten einerseits und das Ausmaß des privaten Konsum unmittelbar zusammenhängen: In der Eurozone sind von jedem Euro, der für privaten Konsum ausgegeben wird, im Durchschnitt 50 Cent aus einem Kredit finanziert. Der private Konsum wiederum trägt mit etwa 50 % zur Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen bei. Ein funktionierender Markt für Verbraucherkredite beeinflusst also unmittelbar Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsquote. Wenn der Kreditmarkt funktioniert, floriert also die Wirtschaft. Dafür braucht es natürlich auch passende rechtliche Regeln.
Aktuell werden diese Kredite aber immer stärker als Belastung für Private diskutiert. Die Politik sucht nach Lösungen. Wie groß ist das Problem wirklich?
Ich sehe da zwei große Themen. Das eine betrifft die seit Juni 2022 bestehenden Mindestkriterien für die Vergabe von Wohnkrediten. Kreditnehmer:innen müssen seitdem eine wesentlich höhere Bonität mitbringen als zuvor, damit die Bank einen Kredit gewähren darf. So sind laut Medienberichten nach den neuen Regeln etwa 40 Prozent aller Kreditwilligen von einer Finanzierung ausgeschlossen. Die Folgen sind mittlerweile auf dem Immobilienmarkt spürbar: Es fehlen zahlungsfähige Häuslbauer:innen und Wohnungskäufer:innen, sodass bei weitem nicht jedes Angebot einen Abnehmer findet. Das andere Thema betrifft die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank: Sie dreht seit über einem Jahr kontinuierlich an der Zinsschraube. Da in Österreich ein großer Teil der privaten Kredite variabel verzinst ist, stöhnen die privaten Haushalte immer lauter unter dem steigenden Zinsendienst. Bei Immobilienkrediten sind ziemlich genau die Hälfte variabel verzinst. Die Politik antwortete mit einem etwas unerwarteten Vorschlag. Ein Zinsdeckel muss her.
Ist die schnelle Lösung auch eine gute Lösung?
So einfach ist das nicht. Bei den gesetzlichen Regelungen zur Kreditvergabe und zu Zinsen müssen wir immer bedenken, dass sie auch überindividuell wirken, also gesamtwirtschaftliche Effekte haben. Es ist eine gewisse Ironie, dass derzeit verschiedene Institutionen der Europäischen Union gleichzeitig auf dem Kreditmarkt intervieren – und zwar mit ganz entgegen gesetzten Zielen. Der Europäische Gesetzgeber hat vor wenigen Tagen eine neue Richtlinie für Verbraucherkredite beschlossen, die Consumer Credit Directive, kurz CCD. Diese Richtlinie will den Markt für Kredite effizienter und transparenter machen, damit Kredite billiger werden und sich die Menschen mehr Konsum leisten können; das soll die Wirtschaft ankurbeln. Der Europäische Gesetzgeber verfolgt hier dasselbe Anliegen wie Teile der österreichischen Politik, die den Zinsdeckel vorgeschlagen haben. Gleichzeitig arbeitet aber die Europäische Zentralbank (EZB) in die andere Richtung: Sie erhöht bewusst die Leitzinsen, damit Kredite teurer werden und sich die Menschen weniger Konsum leisten können. Das soll die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen einbremsen. Sinkende Nachfrage lässt natürlich auch das Preisniveau sinken, wirkt also der Inflation entgegen. Das ist das Ziel der EZB. Die EZB und der europäische Gesetzgeber setzen also Interventionen auf dem Kreditmarkt, sie haben dabei aber eine entgegengesetzte Marschrichtung eingeschlagen. Man sieht: Die Herausforderung besteht – ich möchte sagen: wie fast immer im Leben – darin, die richtige Balance zu finden.
Welche Rolle spielt der Wettbewerb unter den Banken?
Die europäische Richtlinie zum Verbraucherkredit will diesen Wettbewerb effizienter und transparenter machen. Es ist ein ökonomisches Naturgesetz, dass effizienter Wettbewerb Vorteile für Verbraucher:innen bringt. Deshalb will die Richtlinie sicherstellen, dass in der gesamten EU, also auch grenzüberschreitend zwischen allen Mitgliedstaaten, ein freier Verkehr von Kreditangeboten ohne weiteres möglich ist.
Können Sie das mit einem Beispiel erläutern?
Stellen wir uns vor, ein Klagenfurter Verbraucher bestellt ein E-Bike bei einem bayrischen Online-Versandhändler. Im Webshop springt ihm das Angebot entgegen, eine Finanzierung in Anspruch zu nehmen – und zwar bei einer Bayrischen Bank oder vielleicht sogar bei einer französischen Bank. Dank der europäischen Verbraucherkredit-Richtlinie kann der Verbraucher sicher sein, dass er sich in ziemlich genau demselben Rechtsrahmen bewegt wie bei der Finanzierung durch seine Hausbank in Klagenfurt. Das hat mehrere positive Effekte. Das ist gut für den Versandhändler, denn es fördert seinen Absatz: Je besser das Kreditangebot, desto mehr Fahrräder kann er verkaufen. Das ist ebenso gut für die Bayrische und für die französische Bank, denn sie kann mit ihrem Angebot auch Kunden in Klagenfurt ansprechen; auch für sie eröffnet sich also ein größerer Absatzmarkt. Und es ist auch gut für den Klagenfurter Verbraucher, denn jetzt stehen die Klagenfurter Bank, die Bayrische Bank und die französische Bank miteinander im Wettbewerb um ihn als Kunden. Der Verbraucher muss nur noch den Zinssatz vergleichen. Je effizienter, je transparenter dieser Wettbewerb funktioniert, desto größer der Vorteil für die Verbraucher:innen.
Kommen wir noch einmal zu den Zinsen, die zuletzt allerorten gehörig gestiegen sind. Im medialen Diskurs hören wie immer wieder von zu hohen Zinsen. Wie kann man das rechtlich bewerten?
Die Diskussion zu Obergrenzen für Zinssätze ist nicht neu: Wir kennen das Wucherverbot, seit wir Kredite kennen, schon der Codex Hammurabi, ein Gesetz aus dem 18. Jahrhundert vor Christus, enthielt solche Regeln. Nun sieht auch die neue Verbraucherkredit-Richtlinie vor, dass alle Mitgliedstaaten eine solche Obergrenze einführen. Aber immer in der Geschichte hat man sich beim Festlegen der Zinsobergrenze eingehend darüber Gedanken gemacht, wo die richtige Obergrenze liegt. Um zu beurteilen, ob ein Zinssatz übermäßig hoch ist, brauchen wir einen Referenzwert. Diesen zu finden, ist eine Herausforderung für sich. Und in einem zweiten Schritt muss man definieren, ab wann eine Abweichung von diesem Referenzwert übermäßig hoch ist.
Sie haben frühe Varianten des Wucherverbots erwähnt. Seit wann gibt es denn eigentlich Kredite?
Die ersten Kredite sind bereits für die Zeit von etwa 2000 vor Christus belegt, also lange, bevor es Geld in Form von Münzen gab; das erste Münzgeld lässt sich erst etwa für die Zeit von 700 vor Christus nachweisen. Im Zweistromland, wo sich die erste Hochkultur der Menschheit entwickelte, gewährten die Tempel der Bevölkerung schon lange vor der Erfindung des Geldes Darlehen – und zwar in Form von Getreiderationen. Dokumentiert hat man das ganz penibel auf Tontafeln. Historiker:innen gehen davon aus, dass hierin der eigentliche Grund für die Erfindung der Schrift liegt.
Wie hielt man es damals mit den Zinsen?
Die Sumerer in Mesopotamien legten auch einen Höchstzins für Getreide fest: 33%. Kredite, die die Tempel gewährten, waren aber spürbar niedriger verzinst. Wohl deswegen, so eine plausible These, weil es bei solchen Krediten kaum Ausfälle gab. Wer will denn schon seinem Gott etwas schuldig bleiben? Auch in späteren Epochen hat sich bei den rechtlichen Regeln für das Geldverleihen an Gottes Vorgaben orientiert. Denken wir nur an das kanonische Zinsverbot; damit war es lange Zeit generell verboten, Zinsen beim Kredit zu verrechnen. Thomas von Aquin hat im 13. Jahrhundert die Lehre vom gerechten Zins entwickelt: Zins sei der Preis für die Zeit. Da aber – aus mittelalterlicher Sicht – Gott der Besitzer der Zeit ist, greift der Geldverleiher in den Besitzstand Gottes ein, wenn er Zinsen verlangt. Der Geldverleiher ist also ein Zeitdieb; Zinsen sind Diebstahl. Ab der Reformation wurde das Zinsverbot aufgeweicht und es gab auch gewichtige Befürworter von Zinsen.
Früher vertraute man auf den lenkenden Gott, jetzt auf die Kräfte des Marktes. Kann man die Zinshöhe nicht einfach dem Markt überlassen?
Beim Kreditvertrag ist das Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten nahezu ein Naturgesetz. Wer Kredit nachfragt, der braucht ihn auch. Und mit leerem Geldbeutel und leerem Magen zu verhandeln, endet selten in einem ausgewogenen Vertrag. Das macht es schwierig, Zinsen den Mechanismen des Marktes zu überlassen. Fast jede Rechtsordnung hat deshalb Regeln entwickelt, die den Kreditnehmer nicht schutzlos im Regen stehen lassen. Wie man mit Zinsen und Zinsobergrenzen umgeht, hat aber, wie schon gesagt, immer auch gesamtwirtschaftliche Effekte. Suchen wir also nach einer ‚richtigen‘ Zinsobergrenze, kommt es nicht nur darauf an, was gegenüber dem einzelnen Kreditnehmer fair ist, sondern ebenso darauf, was der Kreditmarkt verträgt. Angemessene Zinsen müssen erlaubt sein, weil andernfalls kein Anreiz besteht, Kapital zu verleihen. Das vorhandene Kapital liegt dann brach, so ähnlich wie ein Acker, den niemand bestellt. Damit stehen wertvolle Ressourcen der Wirtschaftsaktivität nicht zur Verfügung.
Ist eine feste Zinsobergrenze sinnvoll?
Mir scheint eigentlich klar, dass ein fester Zinssatz als Obergrenze nicht taugt. Heute liegt der Leitzins der EZB bei 4,5%; vor einem Jahr waren es nur 1,25%. Heute wäre der sogenannte übermäßig hohe Zinssatz, also die rote Linie, anderswo zu ziehen als vor genau einem Jahr. Wenn wir also über Obergrenzen diskutieren, müssen wir sie dynamisch denken. Eine fixe Zahl kann das nicht leisten, weil sich das Marktumfeld ständig ändert.
Gibt es schon staatlich festgelegte Zinsen?
Ja, das sind die so genannten gesetzlichen Zinsen, die in der Regel bei 4 % liegen. Gesetzliche Zinsen kann verlangen, wer unfreiwillig auf sein Geld wartet; etwa der Pflichtteilsberechtigte, der dem Erben wegen seines Pflichtteils hinterherläuft. Die gesetzlichen Zinsen unterscheiden sich von den vertraglichen Zinsen, wie wir sie bei Bankkrediten kennen, wo jemand freiwillig Kredit gewährt. So sauber lassen sich die Dinge aber dann doch nicht trennen. Denken wir noch einmal an den Erben, der den Pflichtteil nicht auszahlt: Seine Zahlungsmoral hängt vom aktuellen Marktzins für Bankkredite ab. Vor einem Jahr lag der Zins für Kreditverträge bei rund 1 %. Der Erbe hatte also die Wahl, ob er dem Pflichtteilsberechtigten etwas schuldig bleibt und dafür 4 % gesetzliche Zinsen berappen muss, oder ob er sich das benötigte Geld bei der Bank ausborgt und dort nur 1 % an Zinsen bezahlt. Jeder vernünftige Erbe hat sich beeilt, den Pflichtteil zu befriedigen, notfalls mit einem Bankkredit. Heute gibt es diesen Anreiz nicht mehr: Die gesetzlichen Zinsen liegen immer noch bei 4 %. Die Kreditzinsen sind aber mittlerweile ebenso hoch. Für den Erben macht es also keinen Unterschied, wem er das Geld schuldig ist: Dem Pflichtteilsberechtigten oder der Bank. Er wird es daher nicht eilig haben, den Pflichtteil zu befriedigen. Ich denke also, dass wegen der intendierten Anreize nötig wäre, die gesetzlichen Zinssätze zu dynamisieren.
Gibt es im heimischen Recht eigentlich noch ein Wucherverbot, auf das sich in Not geratene Häuslbauer:innen berufen könnten?
Ja, unser Privatrecht kennt einen Wuchertatbestand. Ein Geschäft ist dann wucherisch, wenn die Werte von Leistung und Gegenleistung in auffallendem Missverhältnis zueinanderstehen. Außerdem müssen noch bestimmte weitere Voraussetzungen erfüllt sein, aber lassen wir das einmal beiseite.
Und was passiert, wenn eine Richterin feststellt, dass mein Kreditvertrag wucherisch ist?
Normalerweise führt Wucher dazu, dass der wucherische Vertrag nichtig ist. Beim wucherischen Kreditvertrag ist das aber keine gute Lösung. Hier bewirkt der Wucher nicht, dass der Vertrag nichtig ist, weil das ja bedeuten würde, dass die Kreditnehmerin den gesamten Kreditbetrag sofort zurückzahlen müsste. Die Rechtsfolge beim wucherischen Kredit ist deshalb eine andere: Die Kreditnehmerin darf den Betrag für die Dauer der vereinbarten Zahlungsfristen behalten. Und an die Stelle der vereinbarten Wucherzinsen tritt ein vom Gesetz festgelegter Kreditzins. Dieser Kreditzins errechnet sich aus dem zweifachen Basiszinssatz, der bei Vertragsabschluss verlautbart war.
Dann gäbe es ja schon eine Lösung dafür , wie wir die Vorgaben der neuen Verbraucherkredit-Richtlinie, also die Zinsobergrenzen umsetzen, oder?
Leider nein, fürchte ich. Denn die Regeln des Wuchergesetzes sind bei näherem Hinsehen sehr holzschnittartig. Vergleichen wir zwei einfache Fälle miteinander: Habe ich vor einem Jahr einen wucherischen Kredit auf 20 Jahre abgeschlossen, bin ich ein Glückspilz. Vor einem Jahr war der Basiszinssatz negativ, nämlich minus 0,62%. Die Kreditnehmerin kann das geliehene Geld also 20 Jahre behalten bei einem Zinssatz von null. Das liegt deutlich unter dem aktuell marktüblichen Zinssatz von gut 4 %. Sind Sie hingegen vergangene Woche einem Wucherer aufgesessen, haben Sie wirklich Pech. Denn der aktuelle Basiszinssatz liegt bei 3,38 %; Sie müssen also Kreditzinsen von 6,76 % bedienen und damit deutlich mehr zahlen als aktuell marktüblich ist. In den Regeln des Wuchergesetzes finden wir also keine geeignete Lösung für das Problem der Zinsobergrenzen.
Zur Person
Olaf Riss ist habilitiert für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht und Zivilverfahrensrecht (2013 an der Universität Wien). Danach war er von 2014 bis 2019 als Professor für Zivilrecht an der JKU Linz tätig. Seit 2019 ist er Professor für Privatrecht an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften der Universität Klagenfurt. Olaf Riss ist außerdem Associated Researcher des Instituts für Europäisches Schadensersatzrecht der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In der Vergangenheit war er auch als Rechtsanwalt in Wien tätig. Seine Schwerpunkte liegen im Sachenrecht, Kreditsicherungsrecht, Insolvenzrecht, Wohn- und Immobilienrecht, Erbrecht sowie in der Ökonomischen Analyse des Rechts. Das Interview basiert auf der Antrittsvorlesung von Olaf Riss, die Ende September 2023 stattfand.