Fehlende Redaktionen in der schönen, neuen Medienwelt
Die scheinbare Demokratisierung der Medienteilhabe führt dazu, dass die Vorteile von Redaktionen wegfallen. Jede*r kann vermeintliche Informationen verbreiten, ohne gründliche Recherche von Positionen und Gegenpositionen sowie die Einordnung von Erkenntnissen. Wir haben mit dem Kommunikationswissenschaftler Rainer Winter darüber gesprochen, was uns derzeit fehlt, und was wir dringend brauchen.
„Gäbe es das Internet nicht, wäre die Pandemie längst vorbei“, habe ich im November in einem Tweet gelesen. Zwei Lesarten sind möglich: Die Informationsflut hält die Pandemie allgegenwärtig. Gleichzeitig finden Wissenschaftsskepsis und Anti-Impfkampagnen online großes Gehör. Wie schätzen Sie die Rolle der digitalen Medien in der Pandemie ein?
Die starke Durchdringung der Gesellschaft mit Medien, insbesondere auch digitalen Medien, ermöglicht einen raschen Informationsfluss. Vor einer Gefahr wie einer Pandemie kann gut gewarnt werden. Im Vergleich zur Spanischen Grippe sind wir nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Vorteil. Gleichzeitig sind die so genannten Sozialen Medien aber auch ein Problem, weil sie zur Herausbildung von neuen Öffentlichkeiten führen, in denen auch desinformiert wird.
Was verabsäumen Facebook und Co. Ihrer Wahrnehmung nach?
Facebook ist ein Vermittler und kein Publisher. Es handelt sich um eine Plattform, die im Sinne des Plattformkapitalismus um Aufmerksamkeit, Daten und finanziellen Gewinn buhlt. Die Ideologie des Silicon Valley gab ursprünglich vor, demokratisierend zu wirken und alle dazu einzuladen, aktiv zu partizipieren. Heute zeigt sich, dass das auch ein Problem darstellen kann. Wir haben intellektuelle Autoritäten damit zerstört, indem online jede*r seine Thesen verbreiten und damit bei reichlich Geschick viel Gehör finden kann. Die großen Religionen verlieren an Bedeutung, gleichzeitig tauchen immer mehr ‚unsichtbare Religionen‘ (Thomas Luckmann) auf, die das Bedürfnis des Menschen, an etwas zu glauben, bedienen, ohne dass sie auf den ersten Blick als religiöse Formationen begriffen würden. Im Internet entstehen neue ‚Glaubensgemeinschaften‘. Fundiertes, von Expert*innen entwickeltes Wissen gerät dabei oft ins Hintertreffen.
Sie beschreiben soziologische Phänomene. Inwiefern kann eine Technik dafür verantwortlich sein?
Facebook nutzt eine algorithmische Steuerung, die intransparent ist. Wir sehen nur ihre Auswirkungen: Menschen werden mit bestimmten Informationen versorgt, die zu Echokammern und negativen Effekten führen. Dabei können auch Ressentiments und negative Gefühle verstärkt werden. Als Nutzer*in folgt man den Affekten, und man wird in seinen eigenen Auffassungen bestärkt. Wie am Stammtisch schimpft man gemeinsam vor sich hin. Ich sehe darin auch eine Gefahr für die Organisation unserer Gesellschaft und unsere Demokratie.
Worin liegt der Unterschied zum Stammtisch?
Ich denke, dass am Stammtisch die Informationen und Meinungen vielleicht noch etwas diverser vorliegen, als dies online oft der Fall ist. Man setzt sich auseinander. Auf Facebook sehe ich häufig nur Informationen, die mittels Targeting auf mich zugeschnitten sind. Viele übernehmen vorfabrizierte Meinungen, die in der Regel direkt die Affekte ansprechen. Man weiß, man richtet sich an Gleichgesinnte und schaltet Über-Ich-Kontrollen aus. Den Medienwandel bekommen die großen Medienhäuser zu spüren. Sie hätten uns aber gerade jetzt etwas zu bieten, das meiner Ansicht nach unsere Gesellschaft dringend braucht: Redaktionen. Bevor ein Artikel beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint, wurde er meist von sechs Personen gelesen. Es geht um Recherche, Einordnung, Fakten als Basis.
Während den vergangenen zwei Jahren wurde auch das normale Gespräch von Mensch zu Mensch häufig mediatisiert. Wir treffen uns nun oft auf Skype und Zoom. Was verändert sich dadurch für unsere Kommunikation?
Die digital vermittelte Kommunikation abstrahiert von der realen Interaktion von Angesicht zu Angesicht. Wir haben in den letzten Monaten gelernt, wie wichtig uns das persönliche Gespräch trotz der technischen Alternativen ist. Das zeigt sich auch dadurch, dass wir in epidemiologisch besseren Zeiten rasch wieder zur realen Begegnung zurückkehren. Wir sind angewiesen darauf, anderen so zu begegnen, und bilden in der Interaktion unsere Persönlichkeit heraus. Ja, es ist gut, dass uns die digitalen Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen und wir auch über Kontinente hinweg so in Kontakt bleiben können. Es ist besser als gar keine Kommunikation. Aber es kann die direkte Begegnung nicht ersetzen.
Wie einschneidend sind die aktuellen Veränderungen Ihrer Wahrnehmung nach?
Wir sind auf dem Weg zu einer digitalen Gesellschaft und stecken inmitten eines Epochenwandels, den wir zu beschreiben versuchen. Blicken wir zurück: Als im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen lesen und schreiben lernten, hat dies das Weltverhältnis und das Verhältnis der Individuen zu sich selbst ganz entscheidend verändert. Mit dem Lesen und Schreiben war auch eine komplexe Gedächtnisleistung verbunden. Man lernte Texte auswendig. Das tritt mit der Digitalisierung in den Hintergrund. Ich frage mich auch, wie sich das Lernen bei Kindern mit dem iPad verändert, und stelle in Frage, welche Auswirkungen das auf die Fähigkeit zur Konzentration und zur intensiven Beschäftigung hat. Ich meine, Kindern sollte Wissen mit beidem vermittelt werden: mit dem Buch und dem iPad.
Um gesellschaftlich teilhaben zu können, braucht man heute digital literacy. Wie steht es aber um die Vermittlung von Medienkompetenz?
Nehmen wir das Beispiel Wikipedia. Alle, die sich dort als Expert*innen fühlen, können ihre Thesen veröffentlichen. Die Korrektur erfolgt über die Community, eine Redaktion fehlt – ähnlich wie bei Facebook. Wikipedia hat es geschafft, dass es kaum mehr Lexika gibt. Sie hat, wie schon oben erwähnt, die intellektuelle Autorität von Gelehrten ins Wanken gebracht. Gleichzeitig hat man das Gefühl, das Wissen der Welt über das Eingangstor Smartphone stets bei sich zu tragen. Damit man dieses Wissen aber gut einordnen und damit umgehen kann, brauchen wir unter anderem die Medienpädagogik, die diese Kompetenzen vermittelt. Sie findet aber im Vergleich deutlich weniger gesellschaftliches Gehör.
für ad astra: Romy Müller
Zur Person
Rainer Winter ist seit 2002 Professor für Medien- und Kulturtheorie am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften. Er habilitierte sich in Soziologie an der Technischen Universität Aachen. Rainer Winter ist (Mit-)Autor und (Mit-)Herausgeber von mehr als 30 Büchern, darunter: Handbuch Filmsoziologie (2022), Film als Kunst (2020), (Mis)Understanding Political Participation: Digital Practices, New Forms of Participation and the Renewal of Democracy (2018), Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht (2017 zweite Auflage, chinesische Übersetzung 2019) und Global America? The Cultural Consequences of Globalization (2003, deutsche Übersetzung 2003, chinesische Übersetzung 2012).