Rechtsvorschriften ökonomisch anwenden

Die beiden Privatrechtsexperten Christoph Kietaibl und Olaf Riss sprechen darüber, wie gesetzliche Regelungen und ökonomische Effekte zusammenhängen.

Ihr neuer Forschungsschwerpunkt ist die Rechtsökonomie – auch bekannt als „Law and Economics“. In den USA etwa ist dieses Fach an der Schnittstelle von Wirtschafts- und Rechtswissenschaften bereits fester Bestandteil der Ausbildung an zahlreichen Universitäten. In Österreich beschäftigen sich bislang nur wenige damit. Welchen Fragen gehen Sie dabei nach und was ist das Neue daran?

Christoph Kietaibl: Olaf Riss und ich haben ziemlich gleichzeitig studiert. In unserer Ausbildung hatten wir mit tausenden Gesetzesbestimmungen zu tun und haben damit Hunderte von Fällen gelöst. Wir haben also Regeln angewendet, um Konflikte aufzulösen. Eines haben wir aber nicht gelernt: Wie muss die ideale Regel aussehen? Wie kann ich schon mit der richtigen Regel einen Konflikt vermeiden? Und wie kann ich mit der richtigen Regel das Verhalten von wirtschaftlichen Akteur*innen und Rechtsadressaten steuern, um ein bestimmtes ökonomisches Ziel zu erreichen?

Olaf Riss: Natürlich ist es sehr wichtig, dass unsere Studierenden das Gesetz kennen und lernen, es richtig anzuwenden. Sie sollten aber auch in der Lage sein, selbst eine gute Rechtsregel zu entwerfen. Dazu muss man sich über drei Dinge im Klaren sein: Erstens, was ist das Ziel, das ich erreichen möchte? Oft ist das eine ökonomische Vorgabe, etwa die Senkung der Arbeitslosenzahl. Zweitens, mit welchen rechtlichen Regeln kann ich dieses Ziel verfolgen? Dazu genügt es ja nicht, in das Gesetz hineinzuschreiben: „Die Arbeitslosenzahl soll ab 1. Mai auf die Hälfte sinken.“ Und drittens muss man über Geschick und Erfahrung beim Formulieren der Regeln verfügen. Dass das gar nicht so einfach ist, hat man gerade bei den gesetzlichen COVID-19-Maßnahmen gesehen. Viele davon haben ihre Wirkung verfehlt, weil sie nicht präzise genug konstruiert und nicht ideal formuliert waren.

Sie wollen Ihren Studierenden beibringen, wie man gute, sozusagen funktionierende Gesetze schreibt?

Kietaibl: Mit der Rechtsökonomie kann man prognostizieren, wie Menschen auf eine bestimmte Regel reagieren. Solche Überlegungen muss jeder Gesetzgeber anstellen. So kann man etwa zeigen, dass ein zu starker Kündigungsschutz von Arbeitnehmer* innen sowie eine Überfrachtung des Arbeitsrechts ungünstig auf die Arbeitslosenquote wirken können: Ist es für Unternehmen rechtlich zu schwierig, sich von Arbeitnehmer*innen zu trennen, müssen auch unproduktive Arbeitsverhältnisse aufrecht bleiben. Dann werden Arbeitgeber*innen selbst bei Bedarf nach zusätzlichen Arbeitskräften nur wenige neue Mitarbeiter*innen einstellen. Und zwar aus Angst, dass sie Arbeitnehmer* innen auch dann noch weiter beschäftigen müssen, wenn kein Bedarf mehr vorhanden ist. Das kann sich negativ auf die Arbeitslosenzahlen auswirken und zu Segregation auf dem Arbeitsmarkt führen – zwischen gut geschützten Beschäftigten und Arbeitssuchenden.

Die Rechtsökonomie kann also dabei helfen, unpopuläre gesetzliche Maßnahmen zu rechtfertigen?

Kietaibl: Natürlich plädiert die Rechtsökonomie nicht dafür, den Schutz der Arbeitnehmer*innen zu reduzieren. Aber sie will zeigen, wie gesetzliche Regeln und ökonomische Effekte zusammenhängen. Es geht nicht darum, unpopuläre Maßnahmen zu legitimieren, sondern bestimmte Ziele möglichst gut zu erreichen. Niedrige Arbeitslosigkeit, wie bereits gesagt, könnte so ein Ziel sein. Leider ist die Fehlvorstellung weitverbreitet, dass rechtlicher Schutz der einen Seite stets Nachteile für die andere Seite bewirkt. Rechtliche Regelungen sind allerdings keine Nullsummenspiele, die bloß Vorhandenes anders verteilen. Vielmehr können Rechtsnormen allen einen Vorteil bringen, auch wenn sie auf den ersten Blick nur eine Seite begünstigen. Nimmt man das arbeitsrechtliche Schutzniveau in manchen Bereichen zurück kann das daher allen Beteiligten nutzen, falls dann der Arbeitsmarkt insgesamt besser funktioniert.

Und woraus ergibt sich, welches Ziel der Gesetzgeber verfolgen soll?

 Riss: In erster Linie ist das eine Frage der Politik. Was aber oft übersehen wird: In der Europäischen Union gibt es dazu relativ konkrete Vorgaben für die Mitgliedstaaten. Die Europäischen Verträge verpflichten sie, den wirtschaftlichen Fortschritt zu sichern sowie die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen stetig zu verbessern. Dazu braucht es natürlich konkrete gesetzliche Maßnahmen. Welche dafür geeignet sind, das kann die Rechtsökonomie beantworten.

„Mit der Rechtsökonomie kann man prognostizieren, wie Menschen auf bestimmte Regeln reagieren.“
(Christoph Kietaibl, links im Bild)

 

Nur wenige Jurist*innen haben die Aufgabe, Gesetze zu formulieren. Und warum sollten sich auch Jurist*innen für Rechtsökonomie interessieren, die keine Gesetze schreiben?

Kietaibl: Solche Zusammenhänge sind nicht nur wichtig, wenn man Gesetze formuliert, sondern ebenso, wenn man Gesetze anwendet. Denn praktisch jede Regel enthält einen mehr oder weniger großen Auslegungsspielraum. Außerdem sind diese Zusammenhänge für alle relevant, die Verträge konzipieren. Auch Vertragsregeln sind ja eigentlich nur dazu da, das Verhalten der Beteiligten zu steuern. Die Rechtsökonomie ist letztlich für alle relevant, die Regeln setzen und Regeln anwenden – egal ob in einem Gesetz, in einer Verordnung oder in einem Vertrag.

Alle Staaten dieser Welt stehen derzeit vor enormen Herausforderungen. Um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu lindern, hat auch die österreichische Politik zahlreiche Maßnahmen gesetzt: die Corona-Kurzarbeitsregelung, das Kreditmoratorium und Insolvenzverfahren müssen nicht eröffnet werden. Helfen diese Pillen des Gesetzgebers?

Kietaibl: Seit mehr als einem Jahr sehen wir, dass man die Ausbreitung der Pandemie nur mit Beschränkungen bekämpfen kann, die den Wirtschaftskreislauf massiv stören. Das trifft mehr oder weniger alle Staaten dieser Welt. Daher setzt die Politik überall Maßnahmen, um diese negativen Effekte zu lindern. Wie die meisten Länder hat auch Österreich sozusagen zu einem Breitbandantibiotikum gegriffen: Man hat flächendeckende Regelungen geschaffen, die praktisch alle Wirtschafts- und Rechtsbereiche betreffen – im Steuerrecht, im Arbeitsrecht, im Insolvenzrecht, im Mietrecht, im Kreditvertragsrecht und im Verfahrensrecht. Bei manchen dieser Maßnahmen ist auf den ersten Blick klar, dass sie wirken und wie sie wirken. Bei anderen ist es etwas komplizierter.

Riss: Für klassische Juristen wie uns ist das eigentlich viel zu kompliziert. (lacht) Deshalb haben wir im Jänner einen interdisziplinären Workshop mit Ökonom*innen und Jurist*innen veranstaltet. Dabei haben wir einzelne Maßnahmen wie die Kurzarbeit, das Kreditmoratorium und die steuerlichen Erleichterungen zugleich unter das juristische und unter das ökonomische Mikroskop gelegt. Erst so sieht man, ob die Therapie wirkt und welche Nebenwirkungen sie hat.

Welche Themen wollen Sie sich in Zukunft näher ansehen?

Riss: Eines unserer nächsten Projekte wird sich voraussichtlich der Korruption widmen: Warum gibt es Korruption? Wie wirkt Korruption ökonomisch – auf die beteiligten Akteur*innen und auf die Gesamtwirtschaft? Und vor allem: Welche Modelle gibt es, um Korruption wirksam zu bekämpfen?

Kietaibl: Darauf freue ich mich schon ganz besonders. Bei allen rechtsökonomischen Projekten merken wir im Übrigen, dass unsere Fakultät der ideale Ort für diesen Forschungsschwerpunkt ist: Jurist*innen und Ökonom*innen sitzen hier Tür an Tür. Das ist ein unschätzbarer Vorteil.

für ad astra: Lydia Krömer