„Wir können nicht darauf wetten, dass alle immer voll einsatzfähig sind.“
Fühlt man sich krank, soll man zuhause bleiben. Entsprechende Hinweisschilder sind momentan überall zu sehen. Doch wie wird sich dieses Prinzip ins Berufsleben umsetzen lassen, waren es viele doch gewohnt, schon mal trotz Schnupfen, Husten oder erhöhter Temperatur in die Arbeit zu kommen. Heiko Breitsohl leitet die Abteilung für Personal, Führung und Organisation an der Universität Klagenfurt und forscht zum so genannten Präsentismus, also dem Phänomen, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen. Wir haben mit ihm über die aktuelle Situation gesprochen und ihn gefragt, ob wir hinkünftig mit einem Infekt nicht mehr ins Büro kommen werden.
Das Interview wurde am 20. Mai 2020 geführt und am 25. Mai 2020 veröffentlicht.
Sind wir nun, auch nachhaltig wirkend, in einem neuen Zeitalter der Arbeitsorganisation gelandet und werden – infektiologisch geschult – nicht mehr krank in die Arbeit gehen?
Um es mit Goethe zu sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Es gibt in der bisherigen Präsentismus-Forschung immer schon Konstellationen, die vorsehen, dass man zuhause bleibt, wenn man krank ist. Das sind zunächst die Infektionskrankheiten. Bei anderen Krankheiten sind die Vorteile ja nicht ganz so offensichtlich.
Wir wird das bei den Infektionskrankheiten sein?
Wir lernen momentan alle, welche Rolle das Social Distancing spielt. Hierzu verändert sich auch gerade das Bewusstsein vieler Arbeitgeber, daher denke ich, dass wir davon ausgehen können, dass die Erwartung der ständigen Anwesenheit nicht mehr so gegeben sein wird. Mit dem Homeoffice bleibt aber die Crux: Ist es denn sinnvoll, wenn ich mich zuhause mit Fieber vor den PC setze und arbeite? Die Kehrseite der Homeoffice-Welt ist, dass die Arbeitskräfte zwar nicht immer körperlich anwesend, aber dennoch scheinbar ständig verfügbar sind. Die Forschung weiß derzeit noch sehr wenig darüber, wie Menschen sich verhalten, wenn sie zuhause arbeiten können und krank sind.
Was waren bzw. sind die Gründe, warum Menschen krank zur Arbeit kommen?
Die Gründe sind vielfältig, aber allgemein ausgedrückt: Für die Menschen gibt es irgendein Motiv, die Anwesenheit bei der Arbeit über die Gesundheit zu stellen. Das hängt stark davon ab, in welchem Beruf man arbeitet und wie man in Teams eingebunden ist. Manche haben Angst um ihren Arbeitsplatz, andere sind befristet beschäftigt, oder sind leicht ersetzbar, wenn sie nicht den vollen Einsatz zeigen können. Andere wollen ihre Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich lassen, wieder andere arbeiten einfach gern und wollen– auch aus einer positiven Motivation heraus – am Arbeitsplatz erscheinen.
Derzeit scheint es so, dass Infektionshäufungen mit dem Coronavirus insbesondere dort auftreten, wo Menschen in prekären Verhältnissen arbeiten, wie dies in den Schlachthöfen, aber auch über die Leiharbeit bei Zustelldiensten der Fall ist. Was können wir daraus lernen?
Das Problem lässt sich nicht durch die einzelnen Betroffenen lösen. Viele davon haben schlicht keine Wahl und keine Möglichkeit, ihre Rechte durchzusetzen. Wir müssen also diese Fragen auf eine höhere, gesamtgesellschaftliche Ebene heben. Wir sehen derzeit bei den Beschäftigten in den Schlachthöfen, dass das Problem gar nicht so viel mit COVID-19, sondern vielmehr mit den Ungerechtigkeiten zu tun hat. Solche Ungerechtigkeitsprobleme zeigen sich momentan deutlicher als sonst.
Blicken wir auf eine kleinere Ebene: Was kann ein bemühter Arbeitgeber tun, um die Menschen möglichst davon abzuhalten, krank zur Arbeit zu kommen?
Das halte ich für die spannendste Frage. Auf einer organisationskulturellen Ebene sollte der Arbeitgeber allen Mitarbeiter*innen klar machen, dass es legitim ist, krank zuhause zu bleiben und sich auszukurieren. Dies sollte nicht nur Infektionskrankheiten, sondern auch andere Krankheitsbilder betreffen. Es sollte deutlich werden, dass nicht erwartet wird, dass Mitarbeiter*innen krank zur Arbeit gehen und dass es von der Führung auch keinen impliziten Druck gibt. Auf der anderen Seite muss man vernünftigerweise sagen, dass es hie und da nötig sein kann, auch gesundheitlich angeschlagen kurz zum Arbeitsplatz zu kommen. Da muss man dann aber einen gewissen Schutz gewährleisten. Genau das haben wir in den letzten Monaten gelernt: Wir sollten uns weiterhin die Hände waschen, Abstand halten, und vielleicht auch zu einem späteren Zeitpunkt die COVID-19-Stoffmaske aus dem Schrank holen und erneut aufsetzen. Ich kann mir schon vorstellen, dass wir hier gewisse Lerneffekte sehen werden.
Wie sollen die Betriebe und Organisationen dann aber mit den vermehrten Ausfällen zurechtkommen?
Wir werden in Zukunft verstärkt Strukturen brauchen, die es uns ermöglichen zu sagen: Wir halten das schon aus, wenn jemand für eine Zeit nicht arbeiten kann. Schon jetzt müssen sich viele Organisationen überlegen, wie sie gegenüber Ausfällen eine höhere Robustheit entwickeln können. Wir sollten nicht darauf wetten, dass alle immer voll einsatzfähig sind. Wir beobachten aktuell, dass gesamtwirtschaftlich alles auf Kante genäht ist. Man versucht, aus Effizienzüberlegungen den letzten Cent herauszuholen, und macht sich damit sehr fragil. Vielleicht brauchen wir zukünftig ein bisschen mehr Personal, damit jemand auch mal eine Woche zuhause bleiben kann, ohne dass der Laden zusammenbricht.
Kommen wir zum Homeoffice, das lange als flächendeckendes Modell als nicht umsetzbar galt. Nun waren und sind viele seit über zwei Monaten zuhause arbeitend. Was weiß die Forschung darüber, wie effizient Menschen zuhause arbeiten?
Man weiß, dass die Menschen im Homeoffice eher dazu neigen, ein bisschen mehr zu arbeiten als sie es im Büro tun würden. Es ist also keineswegs so, dass nun alle zuhause auf der Couch fernsehen, während die Arbeitszeitaufzeichnung läuft. Was aber – oft auch zum Nachteil der Beschäftigten – passiert, ist eine Entgrenzung zwischen der Arbeit und dem Privatleben. Damit umzugehen ist für viele sehr schwierig, zumal die Entscheidung darüber, wie und ob man trotzdem einen Feierabend macht und einhält, beim Einzelnen liegt. Es ist ungemein wichtig, darauf zu achten, dass kein impliziter Druck entsteht. Wir wissen aus der Erholungsforschung, dass wir solche Phasen brauchen und auch geistig von der Arbeit Abstand nehmen sollten. Diese Grenze muss man irgendwie anders ziehen, wenn dies geographisch nicht möglich ist.
Gleichzeitig fürchten Arbeitgeber*innen um die Kontrolle über ihre Beschäftigten.
Die Idee von Kontrolle ist eher eine Illusion. Nur, weil ich weiß, dass sich jemand im selben Gebäudekomplex aufhält, habe ich trotzdem wenig Ahnung, wie produktiv diese Person ist. Die physische Anwesenheit wird häufig als Hilfskriterium für Produktivität genommen. Eigentlich ist es aber anders: So habe ich im Büro viel mehr Leute um mich, mit denen ich einen Kaffeeplausch halten kann. Zusätzlich ist natürlich zu fragen: Ist Kontrolle eine sinnvolle Perspektive? Aus der Führungsforschung wissen wir, dass Kontrolle zwar manchmal notwendig sein kann, aber dass dadurch nicht unbedingt die besten Leistungen erbracht werden. Eine höhere Performance erreicht man, indem man den Mitarbeiter*innen vermittelt, worin der Sinn der Arbeit liegt, und indem man als Führungskraft vorbildhaft voran geht und die Mitarbeiter*innen unterstützt.
Wie ergeht es eigentlich Ihnen im Homeoffice?
Ich bin noch größtenteils zuhause und befinde mich als Wissenschaftler in der ultimativ privilegierten Situation, diese Form des Arbeitens schon lange zu kennen. Daher war die Umstellung leichter zu bewältigen. Gelegentlich bin ich am Campus; dort halte ich mich an die Abstandsregeln, was aber kein Problem ist, weil ich ohnehin kaum jemandem begegne. Heute halte ich auch am Nachmittag eine Online-Lehrveranstaltung, was auch gut funktioniert.
Was fehlt Ihnen?
Mir fehlen die Gespräche mit den anderen Abteilungsmitgliedern und mir fehlt auch, dass man über den Campus gehen kann und andere interessante Menschen trifft, mit denen man sich kurz unterhält. Ganz ohne diese Offline-Begegnungen geht es für mich auch nicht.
Zur Person
Heiko Breitsohl ist seit 2017 Universitätsprofessor für Organisation und Personalmanagement am Institut für Organisation, Personal- und Dienstleistungsmanagement. Heiko Breitsohl studierte Betriebswirtschaftslehre an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und an der University of Memphis, USA. Von 2005 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wuppertal. Nach seiner Promotion im Jahr 2009 war Breitsohl an der Universität Wuppertal Juniorprofessor für Personalmanagement und Organisation und neben einem Forschungsaufenthalt an der University of California, Davis, hatte er eine Vertretungsprofessur an der Universität Gießen inne.