„Schöpferische Zerstörung“: Wie unsere Gesellschaften auf das Coronavirus reagieren
All unsere Gewissheiten geraten ins Wanken und dem, was wir Normalität nennen, wurde in weiten Bereichen ein abruptes Ende gesetzt. Die gesellschaftlichen Gefüge sortieren sich derzeit neu. Wir haben mit dem Soziologen Dieter Bögenhold über unsere Gesellschaft in Zeiten des Coronavirus gesprochen.
Das Interview wurde am 24. März 2020 geführt und am 25. März 2020 veröffentlicht.
Plötzlich hält der Coronavirus die Welt in seinen Bann. Was geht in unseren gesellschaftlichen Strukturen nun vor?
Wir müssen das abrupte Ende von Normalität, dem wir momentan ausgesetzt sind, erst einmal kognitiv verarbeiten. Von heute auf morgen sind wir in einen Ausnahmezustand geraten, der von uns radikale Veränderungen abverlangt. Dies betrifft, wie wir unseren Tag gestalten, aber auch, was wir denken und was wir für wichtig halten. Der Soziologe Alfred Schütz sprach von Relevanzstrukturen. Er meinte damit, dass wir kognitive Strukturen haben, die uns helfen einzuordnen, was uns wichtig und weniger wichtig ist. Diese haben sich völlig verschoben. Womit wir uns vor vier Wochen noch stark beschäftigt haben, ist heute aus dem Fokus geraten. Corona dominiert alles.
Was zeichnet diesen Ausnahmezustand aus?
Blicken wir in die Vergangenheit. In den letzten Jahrzehnten gab es drei große Krisen: 9/11, die Weltwirtschaftskrise und nun die Pandemie. Nur scheinbar sind diese Ereignisse sehr unterschiedlich, blickt man jedoch genauer auf sie, sieht man, dass sie große Ähnlichkeiten aufweisen. Von einem Moment auf den anderen tritt ein Ereignis ein, das wir uns erst einmal nicht erklären können, das aber unser Leben sehr beeinflusst. Émile Durkheim hat diesen Zustand in der Soziologie als soziale Anomie bezeichnet. In unserem normalen Leben gibt es üblicherweise immer Autoritäten, die Probleme regeln. Im Krankheitsfall geht man zum Arzt, bei Gesetzesverstößen wendet man sich an die Polizei, wird ein Staat angegriffen, gibt es das Militär. Die aktuelle Situation ist aber von einer großen Hilflosigkeit geprägt und keine Autorität scheint uns letztlich helfen zu können.
Der Staat scheint aber stärker als zuvor, oder?
Ja, in dieser Situation der Hilflosigkeit haben die meisten Staaten relativ gut, aber auch alternativlos reagiert und uns gesagt: Momentan können wir dir nicht hinreichend helfen, wenn du an COVID-19 erkrankst, versteck‘ dich also zuhause. Das ist eigentlich eine Anleitung zu einem regressiven Verhalten. Das macht natürlich viele Menschen angstvoll und traurig, weil wir mit der Gewissheit aufgewachsen sind, dass es für alles Lösungen gibt.
Hat die Auflösung der Gewissheiten auch positive Seiten?
Ja, wir erleben eine Entdramatisierung von dem, was sonst als Sachzwang bezeichnet wird. Wünsche nach einer gerechteren oder klimafreundlicheren Gestaltung unserer Welt wurden noch vor kurzer Zeit damit abgetan, dass Umbrüche gar nicht möglich wären, weil ja alles miteinander zusammenhänge. Nun sehen wir: Alles geht. Wenn man will, kann man alles. Das uns ohnmächtig machende Argument des Sachzwangs ist zerbröselt.
Eine Pandemie zeichnet sich dadurch aus, dass sie global ist. Der Coronavirus hätte sich weit weniger schnell verbreiten können, würden wir nicht in einer globalisierten Welt leben. Ist dies die Sternstunde der Globalisierungsgegner*innen?
Man könnte dies annehmen. Sie zeigt uns aber, dass wir in einer Weltgesellschaft leben, wie dies Immanuel Wallerstein und Niklas Luhmann in den 1970er Jahren unabhängig voneinander definierten. Wenn man als Soziologe von der Gesellschaft spricht, ist man immer der Versuchung ausgesetzt, auf die eigene Gesellschaft zu referenzieren. Man müsste aber die gesamte Welt vor Augen haben. Der Coronavirus zeigt uns, wie überzeugend die Idee der Weltgesellschaft ist. So gut wie überall auf der Welt sitzen die Menschen derzeit zuhause; zumindest überall, wo sie Bedingungen vorfinden, dieses tun zu können. Die epidemiologische Verbreitung des Virus interessiert sich nicht für nationalstaatliche Grenzen. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Situation auch die Bedeutung meines Fachs: Wir sehen, dass alles miteinander zusammenhängt. Ein neuer Virus ausgehend von einem chinesischen Ort namens Wuhan legt die ganze Welt lahm. Die Situation können wir nur sphärenübergreifend bewältigen, mit Wissen aus der Medizin, der Ökonomik, der Gesellschaftskunde, der Psychologie.
Wovon hängt ab, wie der oder die Einzelne in der Gesellschaft mit der aktuellen Lage umgeht?
Menschen gehen ganz unterschiedlich mit der Bedrohung um. Familien können eine wichtige Stütze in dieser Zeit sein, aber es kann dort auch mehr Aggression zum Ausbruch kommen. Vielleicht erleben wir in einem Jahr einen Geburtenboom und gleichzeitig eine Scheidungswelle. Eine Übersteigerung von Angst könnte auch zu vermehrten Suiziden führen. Gleichzeitig sehen wir musizierende Menschen auf Balkonen und eine große Hilfsbereitschaft gegenüber Nachbarn. Interessant ist auch, wie Spontanpräferenzen neu entstehen. Als Konsumforscher finde ich spannend: Warum kaufen die US-Amerikaner Waffen, die Franzosen Wein und die Deutschen und Österreicher Toilettenpapier, wenn ein Ausnahmezustand wie dieser eintritt?
Die Wirtschaft leidet stark unter den Maßnahmen.
Der Erfolg unseres Wirtschaftssystems hängt von der Kooperation ab, also von der Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Vieles davon wird aktuell neu erfunden. Der österreichisch-amerikanische Soziologe und Ökonom Joseph Schumpeter hat von „schöpferischer Zerstörung“ gesprochen. Corona kann auch als Reinigungsprozess verstanden werden, von Firmen, von Wachstum, von Börsen. Dienstleistende Unternehmen aus unserem alltäglichen Bedarf leiden, sie werden ihre Dienste aber wieder anbieten können. Es gibt aber auch andere, die jetzt ein gutes Geschäft machen. Alles, was internetbasiert ist, hat Chancen zu boomen. Lieferdienste sind überaus erfolgreich. Den Wandel wird man dann erst aus historischer Betrachtung genau bewerten können.
Wie viel von den Veränderungen wird nach Corona bleiben?
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das nicht das Ende der Welt und des Menschen auf dieser Welt ist. Es ist dramatisch, dass tausende Menschen sterben. Blickt man aber auf die Evolutionsgeschichte, ist es fast normal, dass solche Ereignisse immer wieder eintreten. Wir werden wieder in den Normalzustand kommen, und dabei viel aus dieser Zeit gelernt haben. Albert Camus hat geschrieben: „Wir lernen in einer Zeit der Seuche, dass es in den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“ Wir kommen jetzt – schneller als je zuvor – täglich zu neuen Lösungen. Und vieles davon wird bleiben.
Zur Person
Dieter Bögenhold ist seit 2011 Universitätsprofessor am Institut für Soziologie. Er arbeitet an der Schnittstelle zwischen betriebswirtschaftlicher und soziologischer Forschung. Seine Arbeitsgebiete sind die Gründungs-/Entrepreneurshipforschung, die Konsumforschung bzw. die Soziologie des Konsums sowie die Innovationsforschung und die Geschichte der Soziologie und des volkswirtschaftlichen Denkens.