„Corona-Maßnahmen sind Signale, damit alle den Ernst der Lage erkennen“
Tag für Tag werden nun neue Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus verkündet. Paolo Rondo-Brovetto wertet diese als wichtige Kommunikationsinstrumente, damit alle Mitglieder einer Gesellschaft verstehen, wie ernst die Lage ist. Wir haben mit dem Professor für Öffentliche Verwaltung darüber gesprochen, welche Verwaltungssysteme in Krisensituationen vorteilhaft sind, und warum er denkt, dass schnelleres Handeln nötig wäre.
Das Interview wurde am 12. März 2020 geführt und veröffentlicht.
Wie geht es Ihnen, Herr Rondo-Brovetto?
Gut, danke. Ich bin aber sehr beunruhigt, weil die Bedrohung durch das Coronavirus ernst und gefährlich ist. Es ist wichtig, dass alle verstehen, dass sie die Restriktionen mittragen und vorsichtig sein müssen. Die Situation wird global betrachtet länger andauern.
Was ist in Norditalien passiert, dass die Lage dort so prekär geworden ist?
Ein Grund kann sein, dass die Italiener*innen aufgrund der Gestaltung des Gesundheitssystems sehr viel testen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie nur mehr Fälle gefunden haben, und dass es diese hohe Fallzahl auch anderswo gibt. Der zweite Grund könnte darin liegen, dass die Wirtschaft in Norditalien stark pulsierend ist und daher viele Kontakte ins Ausland bestehen. Der dritte Grund ist, dass auf einem relativ kleinen Raum relativ viele Menschen leben: Die Lombardei ist ca. doppelt so groß wie Kärnten und hat 11 Millionen Einwohner*innen. Ich bestreite aber, dass das lombardische Gesundheitssystem und die Verwaltung nicht adäquat reagiert haben. Das Verhalten war nahezu perfekt. Es gibt sehr viele Vorurteile, aber das Gesundheitssystem der Lombardei ist vorbildlich. Besser kann man’s kaum machen.
Wie zufrieden sind Sie aktuell mit der österreichischen Verwaltung?
Das österreichische System ist aus historischen, kulturellen und verfassungsrechtlichen Gründen sehr verstreut und wenig zentralistisch. An den aktuellen Entscheidungen wirken sehr viele Instanzen mit und bringen ihre eigenen Interessen stark ein. Das ist in einer solchen Krise nicht vorteilhaft. Nehmen wir das Beispiel der Schulschließungen: Hierzulande werden die Sozialpartner eingebunden und die Schließung verzögert sich um drei bis vier Tage. Dieser kurzfristige Vorteil weniger Tage könnte sich aber schließlich als langfristiger Nachteil erweisen, wenn der Virus hierzulande länger sein Unwesen treiben könnte.
In welchen Ländern funktioniert das anders?
Gleich vorweg: Jedes Verwaltungssystem hat Vor- und Nachteile, und es gibt viele Gründe, warum Staaten so sind, wie sie sind. In China, Frankreich oder Italien ist das System deutlich zentralistischer, deswegen wurden dort die Maßnahmen auch schneller gesetzt. In Italien beispielsweise nimmt der Regierungspräsident Stift und Papier, schreibt ein Dekret, unterschreibt es und dann gilt es. In Österreich ist das anders, was in anderen Situationen auch wichtige Vorteile hat. In einer Krise sehe ich aber das zentralistische System im Vorteil.
Die Wirtschaft jammert aber, dass sie sich nicht so schnell auf die Veränderungen einstellen kann.
Momentan müssen wir mit aller Kraft vermeiden, dass zu viele Patient*innen gleichzeitig eine intensivmedizinische Betreuung brauchen, weil wir dafür schlicht zu wenig Kapazitäten haben. Das sollte unsere oberste Prämisse sein. Meine Meinung ist: Die Wirtschaft wird sowieso leiden, und der Staat muss sich mittelfristig Maßnahmen überlegen. Aktuell geht es aber darum, dass eine kurzfristige, schnelle Entscheidung langfristig gesehen mehr Erfolge in der Eindämmung des Virus bringt.
Wie werten sie die Reaktion der Menschen auf die aktuellen Einschränkungen?
Das kollektive Verhalten einer Gesellschaft hängt sehr stark davon ab, welche Signale Politik und öffentliches Leben senden. Das Verhalten der Gesellschaft kann so sehr stark gesteuert werden, was natürlich auch heikel sein kann, wenn negative Ziele angepeilt werden. Aktuell weiß man hierzulande, dass das öffentliche Leben weitestgehend stillstehen wird. Die Frage ist aber: Wie schnell kann das gelingen? Ich nenne ein Beispiel aus Italien: Heute wurde in Italien angeordnet, dass jeder und jede, der oder die sich im öffentlichen Raum bewegt, ein Papier mit sich führen muss, auf dem steht, woher man kommt und wohin man unterwegs ist. Man darf nur zur Arbeit, zum Lebensmittelgeschäft und zur Apotheke. Wenn das nicht der Fall ist, gibt es eine Verwaltungsstrafe. Über die Wirksamkeit solcher Maßnahmen kann man diskutieren. Ich würde sie aber als Kommunikationsinstrument bewerten, das dabei unterstützt, den Ernst der Lage zu vermitteln.
Eigentlich müssten die Menschen ihr gesundheitliches Wohlergehen ja als höchstes Ziel haben, oder?
Nehmen wir hier das Rauchen als Beispiel: Wenn man sieht, wie viele Menschen in Österreich rauchen, dann muss man davon ausgehen, dass viele nicht die Folgen für ihre Gesundheit verstehen. Beim Rauchen gäbe es aber langfristige Bewusstseinsbildungsprozesse; im aktuellen Fall aber brauchen wir starke Signalwirkungen, um die Verhaltensänderung bei allen gesellschaftlichen Schichten möglichst rasch zu bewirken. Beim Thema Rauchen gab es in Italien vor Jahren einen Gesundheitsminister, der als Raucher an Lungenkrebs gestorben ist und im Fernsehen verkündete: „Ja, ich werde sterben.“ Das war der Ausgangspunkt für die strengen Nichtrauchergesetze in Italien, die dort dann auch leichter und schneller akzeptiert wurden. Ich glaube, dass sich die Politik nicht immer dessen bewusst ist, wie wichtig diese Signale sind.
Wie lange halten wir als Gesellschaft diese Situation noch aus?
Wir müssen sie wohl oder übel länger aushalten. Wir werden sehen, wie sich die Ansteckungskurve weiterentwickelt. Aktuell ist es so, dass Länder wie Frankreich oder Deutschland zehn bis elf Tage hinter der italienischen Entwicklung liegen. Es wird sich dann im Vergleich zeigen, ob die drastischen Maßnahmen bewirkten, dass die Kurve flacher verläuft. Im Nachhinein werden wir nach dieser Krise Forschungsmaterial für ein Jahrhundert haben und mehr über das Management solcher Ausnahmesituationen wissen.
Zur Person
Paolo Rondo-Brovetto hat den Lehrstuhl für Öffentliche Betriebswirtschaftslehre (Public, Nonprofit und Health Management) an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Klagenfurt inne. Er arbeitete in Forschungs- und Entwicklungsprojekten mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Europäischen Kommission und den Vereinten Nationen zusammen und war Berater und Begleiter zahlreicher Reformprozesse von Regierungen in Osteuropa und im Mittleren Osten.