Die Welt verändern, in einer veränderten Wissenschaftswelt
Reinhard Neck war 22 Jahre lang Professor für Volkswirtschaftslehre in Klagenfurt und wurde Ende 2019 emeritiert. Wir haben mit ihm und Dmitri Blüschke, assoziierter Professor am selben Institut, über den Wandel des Wissenschaftsbetriebs gesprochen.
Herr Neck, Sie wurden kürzlich emeritiert. Würden Sie heute, wären Sie in der Situation des jüngeren Dmitri Blüschke, wieder Wissenschaftler werden wollen?
Reinhard Neck: Ich kann die Situation eines Jungwissenschafters an der Universität Klagenfurt schwer abschätzen. Generell lässt sich aber sagen, dass es in den letzten 50 Jahren einen großen Umbruch insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften gegeben hat. Wir haben uns von einer stark narrativ erzählenden Wissenschaft allmählich zu einer mathematisierten, an den Vorbildern der Naturwissenschaften ausgerichteten Disziplin entwickelt. Als ich, vor bald 50 Jahren, studiert habe, konnte man – wenn man geschickt war und Entwicklungen richtig gedeutet hat – eine gute Position einnehmen. Heute sind die Anforderungen besonders in der Volkswirtschaftslehre deutlich größer: Ohne profunde Mathematik-Kenntnisse kommt man nicht mehr weit. Hinzu kommt, dass es viel mehr Menschen gibt, die um weniger Positionen im Wissenschaftsbetrieb konkurrieren. Andererseits haben heute Junge auch den Vorteil, von einer besseren Lehre zu profitieren. Wenn man bereit ist, sich dem globalen Wettkampf auszusetzen, und glaubt, einen guten Beitrag für die Wissenschaft leisten zu können, soll man diesen Weg nach wie vor beschreiten.
Herr Blüschke, sind Sie dementsprechend motiviert?
Dmitri Blüschke: Ja, ich fühle mich hinreichend intrinsisch motiviert. Die Begeisterung, Zusammenhänge verstehen und erklären zu wollen, überragt so manchen Nachteil, den es im Wissenschaftsbetrieb gibt: Die monetären Anreize sind im Vergleich zur freien Wirtschaft überschaubar, die Work-Life-Balance hat auch ihre Krux, weil man häufig mehr arbeitet als anderswo. Gefordert wird auch eine hohe Flexibilität. Trotzdem: Wenn man gern forscht, sollte man das auch tun. Diese Leidenschaft für Zusammenhänge, kritisches Hinterfragen und wissenschaftliche Neugier möchte ich auch meinen Studierenden weitergeben.
Haben Sie an der Universität genug Zeit, um dieser Leidenschaft nachzugehen?
Blüschke: Es gibt viele bürokratische Aufgaben zu erledigen, dazu gehört auch, dass alles quantifiziert und messbar gemacht wird. Ich habe aber den Eindruck, dass daneben noch genug Zeit für die Forschung bleibt. Als homo oeconomicus muss ich aber häufig die Intensität, mit der ich an Forschung bzw. Lehre arbeite, abwägen. Gute Lehre braucht viel Zeit; als Wissenschafter profitiere ich aber eher von gut publizierten Artikeln. Das ist ein Spagat, den jeder für sich klären muss. Im anglo-amerikanischen Raum hat man diese Frage häufig damit gelöst, dass Dozentinnen und Dozenten lehren und sich andere stärker auf die Forschung konzentrieren.
Neck: Die Lehre ist ein Teil der Pflichten, die man hier zu erfüllen hat. Im deutschsprachigen Raum ist es an den meisten Universitäten üblich, dass man eine relativ hohe Lehrverpflichtung hat, verglichen mit den Strukturen der exzellenten Universitäten anderswo. Ich halte es für eine hochschulpolitische Fehlentscheidung, jeden beliebig lang und beliebig oft studieren zu lassen, wobei viele eigentlich nicht studierfähig sind. Viele erwarten sich von Universitäten auch eine reine Ausbildung, die Fachhochschulen viel besser anbieten könnten. Universitäten sind hingegen Orte, an denen forschungsgeleitete Lehre und Forschung im Mittelpunkt stehen sollten. Andererseits sehe ich gerade als Wirtschafts- und Sozialwissenschafter auch eine Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit, im Sinne unserer Erkenntnisse „predigend“ tätig zu sein. In der Gesellschaft gibt es viele Irrtümer, die es aufzuklären gilt.
Welche sind das?
Neck: Zwei Ökonomen, Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, haben in ihrem Buch „This Time is Different“ gezeigt, dass Krisen, wie wir sie heute kennen, schon seit 800 Jahren immer wieder auftreten. Der öffentliche Diskurs im Wirtschaftskrisenfall beginnt aber häufig mit der Feststellung, dass alles ganz schrecklich und in dieser Weise noch nie dagewesen sei. Dann fordert man Lösungen der Ökonomen. Diese Lösungen haben wir auch, aber, in Variation eines Zitats von Ingeborg Bachmann: Man kann aus der Geschichte lernen, aber die Geschichte findet keine Schüler.
Gibt es große volkswirtschaftliche Fragestellungen, auf die es noch keine Antworten gibt?
Neck: Ja, zum Beispiel, warum gibt es unfreiwillige Arbeitslosigkeit? Diese Frage ist meines Erachtens nicht hinreichend beantwortet.
Blüschke: Ich glaube, dass das bedingungslose Grundeinkommen den nächsten großen Umbruch in unserer Gesellschaft bringen wird. Ich weiß zwar noch nicht, wann und unter welchen Bedingungen dies passieren wird, aber ich bin fest überzeugt, dass dies kommen wird. Viele Studierende fragen: „Woher kommt dann das Geld?“ Es geht aber nicht um das Geld, sondern um die Güter und Dienstleistungen, die wir her- und bereitstellen. Wir haben hinreichend Maschinen, die diese Arbeit für uns erledigen können. Wir müssen allerdings die Frage der Umverteilung klären und die Antwort darauf finden, ob der Mensch gut genug intrinsisch motiviert ist, um frei gewordene Ressourcen für Ehrenamt, Umweltschutz und vieles andere zu investieren.
Ist die Wissenschaft gut gerüstet, um großen Fragen nachzugehen?
Neck: Nehmen wir die enorme Produktivitätssteigerung, trotz Lehre und Bürokratie: Heute wird an vielen Universitäten viel mehr an Erkenntnissen produziert und publiziert, einschließlich unserer eigenen. Dies ist nicht vergleichbar mit dem, wie man arbeitete, als ich studierte bzw. als ich vor 22 Jahren nach Klagenfurt kam. Hier an der Universität Klagenfurt ist es, insbesondere in den letzten Jahren, gut gelungen, sich stärker an international erfolgreichen Universitäten zu orientieren. Generell möchte ich sagen: Die Wissenschaft hat so viele Herausforderungen bewältigt und überstanden, seien es die Nationalsozialisten oder die Kommunisten, Diktaturen und verrückte Könige und Kaiser, sie hat immer überlebt und immer wieder Vernünftiges hervorgebracht.
Blüschke: Wenn man an die Universität kommt, möchte man als Junger nach dem Größten streben: die Welt verändern und einen Nobelpreis gewinnen. Nach einer Zeit merkt man, dass einem dies wahrscheinlich nicht gelingen wird. Dann ist man froh, wenn ein Paper veröffentlicht wird, das von vielen gelesen und massenhaft zitiert wird. Auch dies gelingt einem nur selten, und schließlich ist man froh, wenn man überhaupt publiziert. Die Erkenntnis, dass man häufig nur kleine Sandkörnchen zum großen Bild beitragen kann, ist ernüchternd. Heute sind die großen Innovatoren noch seltener als früher, die Probleme aber komplexer. Man kann also auch durch kleine Erkenntnisse zu großen Fortschritten beitragen.
für ad astra: Romy Müller