Hajnalka Nagy | Foto: aau/Müller

Erinnerungsarbeit: Geschichten erzählen Geschichte

Weder in Ungarn noch anderswo in der Welt gäbe es einen zweiten Thomas Bernhard, erzählt uns Hajnalka Nagy im Interview. Sie beschäftigt sich mit österreichischen Erinnerungskulturen und fragt sich dabei: Welche „Geschichten“ bauen wir als Gesellschaft aus historischen Ereignissen wie der Waldheim-Affäre? Wie erzählen wir diese Geschichten im öffentlichen Diskurs, aber auch in der österreichischen Literatur? Und wie betreiben wir Erinnerungsarbeit mit unseren Jüngsten in der Schule, insbesondere im Literaturunterricht?

Hajnalka Nagy, die an der Abteilung für Fachdidaktik am Institut für Germanistik forscht, sucht für ihre Habilitation nach Erzählungen, die in Österreich identitäts-, sinn- und gemeinschaftsstiftend sind. Sie beobachtet dabei eine Veränderung, die durch die Europäisierung sowie Zuwanderungsprozesse angestoßen wurde. Dass das Narrativ, das historische Zusammenhänge erzählerisch von einer Generation zur nächsten trägt, im Wandel ist, ist für Nagy unbestritten: „Deshalb muss Erinnerungsarbeit auch immer eine kritische und selbstreflexive sein. Wir müssen imstande sein zu hinterfragen, welche Manipulationen sich geschichtspolitisch ergeben und wie bestimmte Diskurse unsere Erinnerung und unser Selbstverständnis verändern.“

Für ihre Arbeit macht Hajnalka Nagy vor allem eines: Lesen! Sie fügt dabei selbstkritisch hinzu: „Und noch immer nicht genug.“ Sie liest Arbeiten aus den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, um zu ergründen, wie Erinnern und kollektive Erzählungen dort verhandelt werden. Zudem liest und analysiert sie  literarische Werke dahingehend, wie sie Erinnerungsprozesse darstellen, welche Facetten sie herausgreifen und wie auch zugewanderte AutorInnen sich in den österreichischen Kanon „hineinschreiben“, das Bestehende ergänzen oder dekonstruieren. „Im Kopf bin ich damit schon sehr weit, aber ich entdecke immer wieder neue Werke, die ich noch nicht gelesen habe. Mit dem Schreiben bin ich noch nicht ganz so weit“, erzählt sie uns zum Status ihrer Habilitationsschrift.

Hajnalka Nagy hat seit 2007 ihren Hauptwohnsitz in Österreich, seit 2010 lebt sie in Klagenfurt. Mit 10 Jahren begann sie in ihrer ungarischen Heimat, Deutsch zu lernen. Heute spricht sie es mit beeindruckender sprachlicher Genauigkeit und annähernd akzentfrei. Sie studierte an der im Südosten Ungarns gelegenen Universität Szeged Romanistik und Germanistik, und kam schon während des PhD-Studiums mit verschiedenen Stipendien nach Wien, Salzburg, aber auch nach Berlin und Dresden. 2009 folgte schließlich die Promotion mit einer Arbeit zu Ingeborg Bachmann.

Die österreichische Gegenwartsliteratur ließ Hajnalka Nagy bis heute nicht los: Wir fragen sie, was das Besondere daran sei. Sie verweist auf eine breite Debatte darüber, ob es eine „österreichische“ Literatur überhaupt gäbe. Wenn es sie also zu definieren gelänge, würde Hajnalka Nagy Schlagworte wie Identitäts- und  Sprachkrise und den kritischen Umgang mit nationalen Narrativen anführen, aber vor allem jene spezifischen historischen und sozio-kulturellen Konstellationen, die überhaupt eine „österreichische“ Literatur hervorbringen. Ohne diese österreichischen Eigenheiten, würde auch das literarische Schaffen eines Thomas Bernhards, eines Josef Winklers oder eben einer Elfriede Jelinek anders aussehen.

Hajnalka Nagy gehört einer Generation von NachwuchswissenschaftlerInnen an, die den Paradigmenwechsel der letzten Jahr(zehnt)e intensiv mitbekommen hat: Der Druck, verschiedensten Ansprüchen und wissenschaftlichen Maßstäben gerecht zu werden, habe deutlich zugenommen. Journalpublikationen sind ein Muss, sie seien aber häufig sehr aufwändig und entsprechen nicht immer den Fachtraditionen der Geisteswissenschaften: „Nehmen wir das Peer-review-System. So ausgewiesen die Review-gebenden ExpertInnen auch sind,  sie vertreten trotzdem nur ihre Sicht auf einen Beitrag und auf seinen Gegenstand. Im glücklichen Fall wird durch die Rückmeldung der Text besser, im weniger glücklichen einfach nur anders. Diese Entwicklungen kann man auch kritisch sehen.“ Dennoch ist Hajnalka Nagy heute froh, dort angekommen zu sein, wo sie ist: „Dass ich bei der Didaktik gelandet bin, ist ein sehr glücklicher Zufall. Ich wollte immer als Lehrerin Literatur unterrichten. Heute kann ich in der Wissenschaft einen Beitrag dazu leisten, Unterricht weiterzuentwickeln und dabei eng mit Lehrkräften zusammenzuarbeiten.“ Darüber hinaus bietet der Wissenschaftsbetrieb für sie viel Schönes: „Wir genießen Denkfreiheit, also können wir etwas Neues entwickeln, bestehende (Denk-)Strukturen öffnen. Wir sind dabei im fruchtbaren, internationalen Austausch mit anderen.“ All das bereichere ihre Arbeit. Zum Schluss fragen wir danach, ob bei Hajnalka Nagy ausschließlich beruflich relevante Literatur am Leseprogramm steht und erfahren: „Ich gehöre zu denjenigen, die privates und berufliches Lesen klar trennen. Und privat schmökere ich auch in Harry Potter und so manchem Krimi.“

Auf ein paar Worte mit … Hajnalka Nagy

Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht Wissenschaftlerin geworden wären?

Deutschlehrerin

Verstehen Ihre Eltern, woran Sie arbeiten?

Teilweise. Ich erzähle Ihnen nicht sehr oft über meine Arbeit. Wichtiger ist mir, dass sie für mich bis heute Freiräume schaffen, in denen ich mich voll auf meine Arbeit konzentrieren kann.

Was machen Sie im Büro morgens als erstes?

Ich lese meine Mails und lasse frische Luft rein.

Machen Sie richtig Urlaub? Ohne an Ihre Arbeit zu denken?

Für paar Tage. Vor allem, wenn man Kinder hat, lernt man schnell, dass in arbeitsfreien Zeiten andere Dinge Vorrang haben.

Was bringt Sie in Rage?

(Bildungs-)Ungerechtigkeit und der Zynismus der Machthaber.

Und was beruhigt Sie?

Wasserwellen – ein Glück, dass ich in Klagenfurt lebe.

Wer ist für Sie die/der größte WissenschaftlerIn der Geschichte und warum?

Ich bin fasziniert von Albert Einstein, vor allem seiner Relativitätstheorie. Für mein Fach jedoch finde ich zum Beispiel Michel Foucaults Schaffen oder die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann wirkmächtiger.

Wofür schämen Sie sich?

Ich bin sehr ungeduldig und komme leicht in Range.

Wovor fürchten Sie sich?

Zurzeit macht mir der allgemeine Rechtsruck in Europa ziemliche Sorgen. So klischeehaft es auch klingt, diese, auch moralische, Verrohung der Welt ist sehr besorgniserregend.

Worauf freuen Sie sich?

Ich freue mich auf die intensive Zeit des Schreibens an meiner Habilitationsschrift. Es tut gut, wichtige Konzepte zu Ende zu denken und in eine Form zu gießen. Aber ich freue mich auch auf die Zeit danach.

Germanistik studieren in Klagenfurt

Fünf literatur- und sprachwissenschaftliche Studien bietet die Klagenfurter Germanistik. „Germanistik” fassen wir weit: Als Sprach- und Literaturwissenschaft setzt sie sich auseinander mit Sprache (schriftliche und mündliche Kommunikation) und literarischen Texten in historischer (Sprach- und Literaturgeschichte) und struktureller (Textlinguistik, Varietäten, DaF/DaZ, Literaturkritik, Medialisierung) Perspektive. In den Studien vermitteln wir vielfältig einsetzbare Schlüsselqualifikationen, u. a.:

Literaturwissen
Textkompetenz
Medienpraxis
Projektplanung und -umsetzung
Präsentationstechniken und Performance
Informationsmanagement
Kommunikationsfähigkeit
Analyse- und Kritikfähigkeit
Kreativität
Teamorientierung
interkulturelle Kompetenz
didaktisches Know-how

Mehr