Das Ende des Westens?
Johannes Dafinger und seine Studierenden Anna Ogris und Julia Schator beschäftigen sich in einem Proseminar mit der Amerikanisierung und Westernisierung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der 1970er Jahre. Österreich und (West-)Deutschland wurden in diesem Vierteljahrhundert fest in die „westliche“ Wertegemeinschaft integriert. Außerdem strahlte das Vorbild des US-amerikanischen „way of life“ auf (West-)Europa und andere Teile der Welt aus. Dafinger und seine Studierenden ergründen die unterschiedlichen Ausprägungen der Amerikanisierung von Kultur, Politik und Wirtschaft und stellen sich schließlich die Frage: Ist der Westen am Ende?
Was ist der Unterschied zwischen Westernisierung und Amerikanisierung?
Der Begriff „Amerikanisierung“ kann auf eine interessante Entwicklungsgeschichte zurückblicken, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht, meinte er doch ursprünglich den Prozess der Amerikanisierung in Amerika selbst, als die europäischen Einwanderer im so genannten „Melting Pot“ zu Amerikanern wurden. Im Proseminar wird der Begriff so verwendet, wie er seit dem 20. Jahrhundert gebräuchlich ist: Gemeint ist der Transfer von „Amerikanismen“ in andere Länder, also von etwas, was als amerikanisch wahrgenommen wird. Dabei kann es sich um „typisch amerikanische“ Produkte, Werte, Symbole, Gebräuche oder Institutionen handeln. Zwar eignet man sich diese Amerikanismen in anderen Ländern selektiv und selbstbestimmt an, aber Amerikanisierung ist dennoch eher ein „Export“ in eine Richtung, von den USA aus in andere
Länder. „Westernisierung“ ist dagegen ein analytischer Begriff, der erst in den 1980er Jahren entstanden ist und einen wechselseitigen Annäherungsprozess der Länder des Westens bezeichnet, die sich im Hinblick auf gemeinsame Werte und Normen immer ähnlicher wurden.
Das Seminar behandelt die Vorgänge im deutschsprachigen Raum, wieso?
Zumindest Deutschland und Österreich kommen aus der nationalsozialistischen Diktatur und haben eine gemeinsame Vergangenheit, in der der Westen der „Gegner“ war.
Spielt bei der Amerikanisierung auch ein Machtgefälle eine Rolle?
Die Einflussmöglichkeiten der USA und der anderen westlichen Mächte in der Nachkriegszeit waren sehr groß. Es ist logisch, dass die USA versucht haben, ihre Vormachtstellung abzusichern: kulturell durch die Gründung von Amerikahäusern, durch die Etablierung von Produkten und Symbolen, aber auch durch die Übertragung des eigenen Wirtschaftsmodells.
Welche Rolle spielt der Marshallplan im Kontext der Amerikanisierung?
Die direkte Unterstützung der europäischen Nachkriegswirtschaft durch den Marshallplan trug einerseits maßgeblich zur Akzeptanz von Amerikanismen und zu einem verstärkten Wohlwollen dem einstigen Kriegsgegner gegenüber bei. Zum anderen verfolgten die USA ein weiteres Ziel, nämlich den Aufbau eines Handelsnetzes und auch die Durchdringung der kriegsgeschüttelten europäischen Volkswirtschaften mit einem „amerikanisierten“ Wirtschaftsmodell. Die Hilfen waren deshalb an bestimmte Voraussetzungen gekoppelt, nämlich die Etablierung nicht- protektionistischer Formen des Wirtschaftens. Kurzum, die USA haben sich durch den Marshallplan ein erhebliches Machtpotential gesichert.
Welche Rolle spielte der Kalte Krieg bei der Amerikanisierung?
Der Kalte Krieg spielte natürlich eine ganz wesentliche Rolle: Wirtschaftshilfen waren, wie gerade erwähnt, an das Bekenntnis zu einem kapitalistischen Wirtschaftsmodell gekoppelt, gleichzeitig wurde der Kommunismus als gemeinsames Feindbild geschürt. Der Kongress für kulturelle Freiheit, eine von 1950 bis 1969 tätige antikommunistische Kulturorganisation, wurde etabliert und institutionalisiert. Hier trafen sich Intellektuelle, deren gemeinsame Grundhaltung der Anti-Kommunismus war. Dieser wachsende Anti-Kommunismus spiegelt sich auch in Literatur und Kunst dieser Zeit wider. Dadurch wurde ein gemeinsames pro-amerikanisches, westliches Grundverständnis etabliert, das innerhalb aller amerikanisierten Länder ähnlich ist. Natürlich gab es auch Anti-Amerikanismus, aber im Gegensatz zur heutigen Zeit herrschte damals ein breiter Konsens, dass die Amerikanisierung etwas Gutes war.
Wie diffundierte die amerikanische Kultur nach Europa?
Schon die amerikanischen Soldaten, die GIs, haben Verhaltensweisen, kulturelle Phänomene und Produkte etabliert, die von vielen, gerade von der jüngeren Generation, als positiv wahrgenommen wurden. Der Kaugummi war zum Beispiel ein solches Produkt: in den USA schon seit längerem etabliert, in Europa noch total unbekannt, und außerdem ein Symbol für amerikanische „Lässigkeit“.
Wurden Amerikanismen von allen Bevölkerungsgruppen gleich positiv aufgenommen?
Keineswegs, gerade im kulturellen Bereich hatten die älteren Generationen Angst vor dem Verlust von traditionellen Werten. Jüngere gehörten dagegen zu den schnellen Adaptierern der Neuerungen und wurden allein dadurch von den Älteren kritisch wahrgenommen. Der Grund dafür war, dass die „Neuigkeiten“ in Mode und Verhalten von vielen Jugendlichen als subtile oder weniger subtile Protestform genutzt wurde. Die Rebellion gegen die überkommenen Normen lebten sie also zu einem Gutteil mithilfe von Amerikanismen aus. Besondere Formen nahm diese Rebellion dann Ende der 1960er Jahre an. In dieser Zeit formierten sich Protestbewegungen auch gegen „Amerika“, vor allem gegen das Engagement der USA im Vietnamkrieg. Die Protestformen sind aber wiederum zutiefst amerikanisch, wurden zumindest zuerst in den USA erprobt, in der Bürgerrechtsbewegung, in Sit-ins und Teach-ins.
Welche Formen der Amerikanisierung gab es in der Politik?
Moderne Marketingmethoden in der Wahlwerbung, die starke Personalisierung von Wahlkämpfen, die Nutzung des Fernsehens, Fernsehduelle: das alles sind Dinge, die aus den USA zu uns kamen und nun in unseren politischen Diskurs Einzug gehalten haben. Wichtig zu betonen ist aber, dass nicht alle politischen Entwicklungen einen Amerikabezug hatten. Die Nachkriegs-Verfassungen in Deutschland und Österreich entstanden vornehmlich in einer ganz engen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Die Folie des Nationalsozialismus war allgegenwärtig, und die Verfassungsväter und -mütter einte das Bestreben, dass sich die Geschichte nicht wiederholen dürfe.
Ist nun das Ende des Westens eingeläutet?
Der Begriff „Westen“ steht für ein Set von gemeinsamen Werten und Normen, auch für multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen. Der jetzige Präsident der USA verabschiedet sich zunehmend von Normen und Werten, die als typisch westlich gelten, er drängt den Multilateralismus zurück und stellt nationale Interessen in den Vordergrund. „Westliche“ Normen und Werte, die Gültigkeit von Absprachen, Grundsätze der Wahrhaftigkeit werden vom Präsidenten der USA und anderen führenden Politikern in westlichen Staaten mit Füßen getreten. Offen bleibt die Frage, ob dies eine Episode bleibt oder ob eine neue Ära eingeläutet wird.
für ad astra: Annegret Landes
Zur Person
Johannes Dafinger ist Postdoc-Assistent für Zeitgeschichte am Institut für Geschichte. Er war Research Scholar an der University of Maryland, College Park, und Forschungsstipendiat am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Gegenstand seiner Forschung sind vor allem die internationalen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen des nationalsozialistischen Deutschland, völkisch-rassistische Europakonzepte der 1930er und 1940er Jahre sowie in einem neuen Projekt die Geschichte politischer Teilhabe in der Moderne.