Leben nach dem Tsunami: Das verlorene Paradies
Die Inselgruppe der Nikobaren wurde 2004 vom Tsunami getroffen. Sozialökologe Simron Jit Singh erzählt, wie fehlgeleitete Hilfeleistungen die indigene Bevölkerung in eine zweite Katastrophe stürzten.
Wunderschöne, unberührte tropische Inseln mit einer reichen Pflanzen- und Tierwelt. Menschen, die ein einfaches, aber glückliches und friedliches Leben führen. Es ist ein abgeschiedener und ruhiger Ort. Was Simron Singh beschreibt, klingt für viele wie ein Paradies jenseits jeglicher Zivilisation. Die Nikobaren sind eine kleine Inselgruppe im Indischen Ozean. Als einer von wenigen hatte Singh durch seine Forschungsarbeit Zugang zur Welt der NikobaresInnen.
Bei unserem Gespräch erzählt Simron Singh, wie er im Jahr 1999 auf Anfrage der indischen Regierung auf die Nikobaren reiste. „Die Regierung warnte mich, dass es keine Infrastruktur, keine Kommunikationsmittel, dafür die Gefahr durch Malaria gibt.“ Ziel des Sozialökologen war es, die Kultur der zu Indien gehörenden Nikobaren kennenzulernen und zu dokumentieren. Bis zu diesem Zeitpunkt war über das isoliert lebende Inselvolk kaum etwas bekannt. Über einen Zeitraum von fünf Jahren verbrachte er jeweils sechs Monate bei ihnen, danach wieder sechs Monate in Österreich.
Im Jahr 2004 änderte sich dann alles. Ein verheerender Tsunami hinterließ eine Spur der Verwüstung in vielen Teilen Südostasiens. „Ich war in Indien und bereitete mich gerade darauf vor, auf die Nikobaren zu reisen, als ich vom Tsunami erfuhr. Erst nach ein paar Tagen erreichte ein Rettungsschiff die Inseln; und ich erhielt Informationen über die Situation vor Ort“, berichtet Singh. Kurz darauf meldete sich auch Rasheed Yusuf, der Sprecher der NikobaresInnen, bei Singh und bat ihn, Hilfe zu koordinieren. Drei Wochen nach der Katastrophe fuhr Singh dann selbst auf die Nikobaren. Etwa 6.000 der 30.000 NikobaresInnen starben in den Fluten; die Dörfer und Felder waren von den meterhohen Wellen zu großen Teilen zerstört worden, ganze Landstriche standen unter Wasser.
Inzwischen waren auch viele Hilfsorganisationen und Non-Governmental Organisations (NGOs) aus Indien eingetroffen, internationalen Organisationen war der Zutritt zu den Inseln anfangs nicht erlaubt. Die Hilfsbereitschaft war groß, nur waren viele Hilfeleistungen alles andere als sinnvoll. „Sie stellten Blechhütten auf und brachten Decken mit. Auf den Nikobaren herrscht tropisches Klima. Können Sie sich vorstellen, wie heiß es in diesen Hütten war? Es wurden riesige Trinkwassertanks auf den höchsten Punkten der Inseln platziert, ohne sich Gedanken zu machen, wie sie mit Wasser aufgefüllt werden sollten. Keine der NGOs fragte die BewohnerInnen der Inseln, was sie wirklich benötigten. Als ich die Arbeit einiger NGOs kritisierte, stellten sie mich im Gegenzug als Gegner von Entwicklungshilfe dar. Ich bin kein Gegner von Hilfe, solange diese Hilfe nachhaltig ist“, erzählt Singh.
Die Problematik, die Simron Singh anspricht, ist das der Entwicklungshilfe zu Grunde liegende System. „NGOs sind verpflichtet, ihr Geld für jene Katastrophen auszugeben, für die das Geld gespendet wurde.“ Deshalb, so Singh, stecken sie das Geld oft in teure Infrastruktur, um es schneller ausgeben zu können, da die Gehälter der MitarbeiterInnen prozentual vom aufgewendeten Geld berechnet werden. Also muss das Spendengeld investiert werden, um Gehälter und Gemeinkosten überhaupt zahlen zu können. Als die internationalen NGOs Druck auf die indische Regierung ausübten, durften sie schließlich auf die Nikobaren und brachten Junkfood, Radios, TV-Geräte, Mobiltelefone und Motorboote mit. Von der Regierung gab es außerdem Entschädigungszahlungen – Dinge, die NikobaresInnen bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt hatten. Was die indigene Bevölkerung eigentlich von den NGOs wollte, waren Werkzeuge, um sich selbst zu helfen.
„Ihre gesamte Kultur, ihre Traditionen und Lebensweisen waren in Gefahr, durch Hilfeleistungen der modernen Welt verdrängt zu werden. Um diese Gefahr zu bannen, starteten wir mit dem Institut für Soziale Ökologie auf Bitten des Stammesrats ein Projekt, das die wissenschaftlichen Grundlagen für die Planung, Umsetzung und Evaluation von Wiederaufbaumaßnahmen bereitstellen sollte.“ Das durch den FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) geförderte Projekt entwickelte gemeinsam mit den NikobaresInnen nachhaltige Zukunftsszenarien für die Bevölkerung der Inseln. Bis 2012 lief das Forschungsprojekt, das sich vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe bemühte.
Zuallererst investierten die ForscherInnen Geld in sogenannte Wissenszentren, die auf jeder Insel installiert wurden. Sie dienten als Treffpunkt für die BewohnerInnen und boten Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch. Hier wurden die Menschen auch über Unterstützungen durch die Regierung aufgeklärt. Dann überlegten sie, was weiterhin produziert und verkauft werden könnte – Kokosöl, Kräuter- und Fischprodukte, Handarbeiten Danach halfen sie Kooperativen zu gründen, damit nicht jeder einzeln, sondern z. B. als Dorfgemeinschaft Waren verkauft.
Wenn humanitäre Hilfe bzw. Entwicklungshilfe nach einer Katastrophe Früchte tragen soll, dann muss sie nach Auffassung von Simron Singh demokratisiert werden. „Die Stimmen der Opfer müssen Teil der Entscheidungsprozesse werden. Die Hilfe muss nach der Nachfrage bestimmt werden und nicht nach dem Motto: Wir geben euch warme Decken, egal, ob ihr Decken braucht oder nicht.“
Nach all den Informationen über fehlgeleitete Hilfe von NGOs frage ich Simron Singh, wie man als Einzelperson sinnvoll helfen kann. „Wenn man wirklich helfen will, reicht es nicht nur, Geld zu überweisen, und das war‘s. Man muss sich mehr engagieren und Informationen von den NGOs zurückfordern. Man kann auch Menschen in der eigenen Umgebung fragen, ob sie jemanden in dem betroffenen Land kennen. Sie wissen meist über lokale Organisationen Bescheid, die mit den Menschen arbeiten und wissen, was die Menschen vor Ort benötigen.“
Seit 2009 hat Simron Singh die Nikobaren nicht mehr besucht, da die Erinnerungen an diese intensive Zeit zu überwältigend sind. Als Rasheed Yusuf ihn vor kurzem um seine Hilfe bat, hat er nicht lange gezögert. Nächstes Jahr wird er ein neues Projekt zur Unterstützung der nikobaresischen Bevölkerung beginnen. Und vielleicht kehrt er dann auch auf die Nikobaren zurück.
für ad astra: Katharina Tischler-Banfield
Simron Jit Singh
Singh ist Sozialökologe und Ethnologe an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und lehrt auch an der University of Waterloo, Kanada. 2003 promovierte er an der Lund University. Im Zuge seiner Forschungstätigkeit lebte er über längere Zeit mit Nomaden im Himalayagebiet und mit der indigenen Bevölkerung der Nikobaren.
AFTERMATH – Die zweite Flut (2013)
Der Film zeigt die Geschichte der Menschen auf den Nikobaren nach dem Tsunami 2004. Filmemacher Raphael Barth begleitete sieben Jahre lang das Schicksal der NikobaresInnen und die fatalen Folgen durch Hilfeleistungen aus einer fremden Welt.
Kooperationspartner: FWF, ORF und Oliver Lehmann (Textunit).
Informationen unter facebook.com/AftermathTheSecondFlood.
Der Trailer des Films ist unter vimeo.com/120353690 abrufbar.